W&F 1999/2

Ist der Feind friedlich entfeindbar?

von Jaroslav Krejcí

Die naive fanatische Spaltung der Menschheit in Freunde und Feinde wurde bisher so leicht durchgeführt wie das Sortieren von Obst in gute und verdorbene Früchte. Der Freund war Träger des absoluten Humanismus, der Feind Träger der entarteten Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Keine ewig rein guten oder absolut bösen Konstanten sind dem absolut menschlichen Freund noch dem vollkommen unmenschlichen Feind ein für allemal eigen. Freund wie Feind stellen bewegliche Tatsachen dar.

Die Auswirkungen der Feindschaft auf das Menschengeschlecht, auf die Staaten, die Nationen und auf die Psyche des Einzelnen sind in der Geschichte und in der Gegenwart ungleichartig interpretiert. In der Geschichte des menschlichen Denkens finden wir verschiedene Verteidiger der Feindschaft, die der Meinung sind, dass die Verfeindungsprozesse notwendig oder zweckmäßig sind und die in der Feindschaft zwischen den Menschen eine pädagogische, politische, wirtschaftliche und psychologische Funktion sehen. Die Freund-Feind-Polarisierung und Orientierung betrachten auch einige Philosophen und Denker als notwendiges, ja sogar als ewiges Phänomen. „Nie wird der Feind zum Freund, selbst im Tode nicht“, heißt es in der »Antigone« des Sophokles. Wir finden nicht nur solche Konzeptionen, die den Feind immer auf den Todfeind reduzieren und die Feindschaft als eine nekrophile kriegerische »Lebensweisheit« betrachten, sondern auch solche Modelle des Feindes, in denen dieser als ein Teil der echten Gemeinschaft charakterisiert ist. Feindschaft und Hass waren und sind auch zum Teil eine humane Empörung aus der Menschenwürde (E. Bloch). Beide entspringen auch aus der verwundeten Menschenliebe, aus Zorn über Unrecht, Grausamkeit und Missbrauch der Macht.

Alle Modelle der Feindschaft, die eine negative und destruktive Beziehung zum Feind ablehnen, ermöglichen heute, Bestandteile der Verfeindungs- und Entfeindungsprozesse innerhalb des Menschengeschlechts neu aufzufassen. In dieser Hinsicht erweist es sich als notwendig und aktuell, eine Feind-Feind-Unterscheidung in Betracht zu ziehen.

Feind-Feind-Unterscheidung in europäischen und deutschen Sprichwörtern über Feind und Feindschaft

Die Sprichwörter über die Feindschaft stellen nicht nur eine wichtige historische Quelle der Informationen über die Feindschaft dar. Sie geben auch heute noch Aufschluss über den Umgang mit Feind und Feindschaft.

In dem umfangreichen »Deutschen Sprichwörter-Lexikon« von Karl Wander finden wir 304 Sprichwörter über den Feind und die Feindschaft.1 Die meisten davon betreffen dieKompliziertheit. Die Verwicklung der Feindschaft lässt sich z. B. aus folgenden Sprichwörtern entnehmen: „Der Feind meines Freundes ist oft mein bester Freund“ (Sprichwort Nr. 241), „Der beste Freund wird oft der größte Feind“ (Nr. 65), „Freund der Person, der Sache Feind“ (Nr. 224).

Feinde sind so notwendig wie Freunde

Zu den ältesten Verteidigern der Feindschaft gehört der antike Denker Plutarch (50-120), der die Notwendigkeit der Feindschaft philosophisch, ethisch und pädagogisch begründete: Der Feind hat vor allem erzieherische Funktion. In zwei Abhandlungen »Über die Bändigung des Zornes« und »Über den aus den Feinden zu gewinnenden Nutzen« hat er sein Modell der Feindschaft formuliert. Das Wichtigste ist, die wachsame Aufmerksamkeit darauf zu richten, das Schädlichste in der Feindschaft in den größten Nutzen umzuwandeln. In diesen Ansichten ähnelt Plutarch Diogenes, dem folgender Satz zugeschrieben wird: „Selbstbesserung sei die beste Rache am Feinde.“2 Diese Worte des Diogenes auf die Frage: „Wie räche ich meinen Feind?“ bewertet Plutarch als die beste staatsmännische und philosophische Antwort.

Den Feind benötigen wir nach Plutarch aus vier Gründen: Erstens ist es vorteilhaft, von den Feinden unsere Fehler zu erfahren; zweitens geraten wir ohne Feind in Streit mit den Freunden, der Feind zieht unsere Böswilligkeit auf sich; drittens zwingt uns der Feind, mit Umsicht und anständig zu leben, uns um Vervollkommnung und Untadeligkeit zu bemühen; und viertens bessert der Feind uns durch Tadel, zwingt uns, eigene Schwächen zu untersuchen. Plutarch schweigt sich aber darüber aus, dass der Feind uns auch tötet. Bei Plutarch geht es also eher um einen Gegner als um einen Feind.

Johann Gottlieb Fichte: Der Feind als der künftige Freund

Fichte (1762-1814) untersuchte, wen wir mit vollem Recht eigentlich einen Feind nennen können. Er problematisiert den alltäglichen Begriff »Feind«. Wir nennen alle diejenigen unsere Feinde, die uns an der Ausführung unserer Unternehmungen hinderlich sind. Unser Vorhaben kann aber auch anderen zuwider sein, weil es auch vielmals ungerecht ist. In diesem Fall hat sich »der Feind« der Ungerechtigkeit mutig entgegengestellt, ihm ist die Sache des Rechts teurer als unsere Freundschaft.

Wir sollen Pflichten gegen Feinde haben. Die erste Regel der Sittenlehre hebt hervor, dass wir uns sorgfältig und unparteiisch prüfen müssen, ob und wodurch wir Anlass zu Hass und Feindschaft gegeben haben. Unsere eigene Unklugheit, Ungerechtigkeit und unser Hass sind zu prüfen. Finden wir an uns keine Schuld, so tritt unsere erste Pflicht ein: dem Unrecht zu widerstehen, soweit wir können. Dem Feinde Böses zuzufügen, ist kein Zweck; man soll der Sache Feind und der Person Freund sein.

Gegen Feinde gibt es aber noch eine besondere Pflicht: sie zu bessern und zu unseren Freunden zu machen.

Fichte betrachtet den Gegensatz zwischen Freund und Feind als nicht absolut. Es gibt die Gefahr, dass die Menschen den wahren Wohltäter als Feind nennen können, wenn sie nicht prüfen, ob sie selber nicht Feindschaft und Hass hervorrufen. Wahre Feinde müssen wir mit Recht nennen. Fichte unterscheidet zwischen den Gegnern (Widersachern) und Feinden, um besser den Ausweg aus der Feindschaft zu finden. Die Überwindung der Feindschaft beginnt durch die Prüfung der eigenen Ursachen der Feindschaft, der Kausalität von innen, was sich als sehr vorteilhaft zeigt. Die Regeln der Sittenlehre über die Feinde betonen, dass alle allgemeinen Pflichten, die wir gegen alle Menschen haben, auch gegen den Feind zu erhalten und zu wahren sind.

Friedrich Nietzsche:
Eine neue Schöpfung hat Feinde nötiger als Freunde

Xenophon und andere Philosophen sind der Meinung, dass die Menschen von Natur aus nicht nur zur Freundschaft, sondern auch zur Feindschaft neigen. Bei Nietzsche geht es um eine Gewöhnung, um ein Bedürfnis, Feinde zu haben: „Feinde zu haben, ist die älteste Gewöhnung des Menschen und folglich das stärkste Bedürfnis.“3 Das Bedürfnis fasst aber Nietzsche nicht nur als die Ursache der Entstehung auf, sondern es ist für ihn oft nur die Wirkung des Entstandenen. Der Feind ist nötiger als der Freund. Warum ist die Feindschaft das stärkste Bedürfnis der Menschen, warum hat eine neue Schöpfung nach Nietzsche Feinde nötiger als Freunde? Erstens fühlt man sich im Gegensatz schöpferisch: „Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein.“4 Zweitens sieht Nietzsche, dass für manche Menschen »offene Feinde« unentbehrlich sind, falls sie sich zu ihrer Tugend, Männlichkeit und Heiterkeit erheben sollen. Jeder schuf nun seinen eigenen Gott und verwandelte seine ebenbürtigen Feinde in Götter, um sich selbst zu heben und zu verwandeln. Drittens haben die Menschen sehr wenig Phantasie für das Leid, das sie anderen antun.Viertens gibt es im Hasse Eifersucht, wir wollen unseren Feind für uns allein haben: „Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.“5 Der Mensch ist also dadurch charakterisiert, dass „man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst.“6

Feindschaft als kriegerische Weisheit

Friedrich Nietzsche, der niemals den Tod des Feindes verlangte, wurde in der faschistischen Ideologie zum „kühnsten Denker unserer Rasse“ deformiert, der „die kriegerischen Gedanken“ zu Ende gedacht habe.7 Feindschaft gehört zur „kriegerischen Lebensweisheit“, die kein Mitleid empfindet weil jedes sich entfaltende Wachstum im Grunde das Zerstörerische hat. Nur die Kräfte der Feindschaft sind schöpferisch, nur die Fähigkeit zur Feindschaft entwickelt aufbauende, gestaltende, ordnende und gesetzgebende Kräfte. Nur Kampf entfaltet das Wesen des Menschen, das Glück liegt im Angriff, das Wagnis ist alles. Feind sein zu können ist ein Ziel der Mobilisation des Willens, »du oder ich« ist die uralte Parole der Feindschaft. Die faschistische Ideologie sah auch im Hass „eine Willensäußerung unserer Seele“. Ohne Hass ist die unerschrockene kriegerische Haltung nicht möglich. Der Hass und die Feindschaft machen gerade im Nationalsozialismus die „Größe des Kriegertums“ aus.

Carl Schmitt:
Der öffentliche Feind und der Feind als Verbrecher

Feind ist nur der öffentliche Feind, betonte Carl Schmitt. In vielen Sprachen ist der Feind als der öffentliche Feind auch dadurch abgeschwächt, dass zwischen dem privaten und dem politischen Feind nicht unterschieden wird. Das Wort Feind besitzt eine Vieldeutigkeit, die den Begriff unbrauchbar und unanwendbar macht. Eine terminologische und sachliche Klärung, die so zweckmäßig und aktuell ist, ist nicht leicht. Was moralisch böse, ästhetisch hässlich oder ökonomisch schädlich ist, braucht deshalb noch nicht Feind zu sein:

Der politische Feind ist dadurch charakterisiert, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist und dass mit ihm die extremen Konflikte möglich sind. Zum politischen Begriff des Feindes gehört die reale Eventualität des Kampfes; dabei gilt, dass Krieg nur bewaffneter Kampf ist. Das Wesentliche an dem Begriff der Waffe ist, dass es sich um ein Mittel physischer Tötung von Menschen handelt.8

Schmitt hat im Vorwort zur Neuausgabe seines Werkes (»Der Begriff des Politischen«) im Jahre 1963 hervorgehoben, dass die neuen Arten und Methoden des Krieges eine Besinnung auf das Phänomen Feindschaft erzwingen. Erstens verbindet der heutige Partisanenkrieg zwei verschiedene Arten des Krieges und der Feindschaft. Zweitens liegt auch in der anderen Art des heutigen Krieges, im sog. Kalten Krieg, ein Grund, neuerlich die Feindschaft zu betrachten. Nach Schmitt bricht der Kalte Krieg alle Begriffsachsen: „Der Kalte Krieg spottet aller klassischen Unterscheidungen von Krieg und Frieden und Neutralität, von Politik und Wirtschaft, Militär und Zivil, Kombattanten und Nicht-Kombattanten, nur nicht der Unterscheidung von Freund und Feind, deren Folgerichtigkeit seinen Ursprung und sein Wesen ausmacht.“9

Drittens ist über die Unterscheidung von Freund und Feind oder über die Relativierung der Feindschaft im Zeitalter der nuklearen Vernichtungsmittel zu reflektieren weil die Unterscheidung von Krieg und Frieden verwischt wurde. Schmitts Hervorhebung, dass es das große Problem ist, die Kriege heute zu begrenzen und die Feindschaft zu relativieren, bleibt aktuell. Jede Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft, jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität. „Den Menschen fällt es aber schwer, ihren Feind nicht für einen Verbrecher zu halten. Der Begriff des Politischen stellt aber heute die Frage nach dem wirklichen Feind und einem neuen Nomos der Erde. Hier müssen die Analysen erst beginnen, die die Frage beantworten: Wer war und warum wessen wirklicher Feind? Schon in seinen Reflexionen von 1932 wendet sich Schmitt gegen eine Herabsetzung des Feindes und gegen eine Ideologisierung des Krieges. Es gibt keine Rationalität und Legitimität, die rechtfertigen könnten, dass Menschen sich gegenseitig töten. Schmitt zeigt auch, dass die Nicht-Diskriminierung des Feindes erreichbar ist wenn erkannt wird, dass die Sphäre der Politik die Sphäre von Freunden und Feinden ist; der Krieg ist nicht der Normalfall, vielmehr stellt er die Grenzmöglichkeit dar. Carl Schmitt ist der Überzeugung, dass man mit ethischen, juristischen oder ökonomischen Normen keinen Krieg begründen kann. Kein Ideal und keine Zweckhaftigkeit verleiht ein Verfügungsrecht über das physische Leben anderer Menschen: „Von den Menschen im Ernst zu fordern, dass sie Menschen töten und bereit sind zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe, ist grauenhaft und verrückt. Den Krieg als Menschenmord verfluchen und dann von den Menschen zu verlangen, dass sie Krieg führen und im Kriege töten und sich töten lassen, damit es »nie wieder Krieg gebe«, ist ein manifester Betrug.“10

Schmitt setzt keinen befriedeten Erdball voraus, die Idee eines ewigen Friedens wurde bei ihm nicht hervorgehoben. Die Politik beruht bei ihm auf Verfeindung, das Politische hat keine eigene Substanz, Politik und Feindschaft verschmelzen. Der Feind bei Carl Schmitt „wird gesucht, weil er für den Seelenhaushalt der eigenen Gesellschaft eine Ventil- und Steuerungsfunktion wahrnimmt.“11

Die Ansichten über Feindschaft bei Carl Schmitt wurden oftmals kritisiert, weil er die Feindschaft als den Schlüsselbegriff zur Interpretation der politischen Situation auffasst. Obwohl er darauf hingewiesen hat, dass die historisch konkrete Freund-Feind-Gruppierung nicht unaufhörlich und unauslöschlich ist, meint er aber, diese Gruppierung sei als solche ewig. Die Entfeindungsprozesse im Menschengeschlecht sind praktisch nicht möglich. Die Freundschaft ist nach Schmitt nur gegen gemeinsame Feinde möglich. Er hat darauf aufmerksam gemacht, welcher Absolutierung menschliche Feindbegriffe fähig sind.

Der tabuisierte Feind.
Die Apologie der Feindschaft bei den »Rechtsintellektuellen«

Nach einigen Autoren reagieren die Menschen falsch, wenn sie den Begriff Feindschaft vermeiden oder verdammen. Ohne die Kategorie der Feindschaft misslingt es, die Realität exakt zu interpretieren. Die zunehmende Feindunfähigkeit stellt im Bereich des Erkennens und auch im Bereich des politischen Handelns eine große Gefahr dar.

Nach Gerd-Klaus Kaltenbrunner verbindet sich der Widerwille, das Faktum Feindschaft zur Kenntnis zu nehmen, mit vielen Denkfehlern. Erstens hängen die Feindblindheit und Feindunfähigkeit eng mit dem Pathos allmenschheitlicher Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit zusammen. Die Utopien einer künftigen Brüder-Gesellschaft (Jakobinertum der Französischen Revolution; Marx, der Prophet eines Reiches klassenloser Brüderlichkeit usw.) haben im Namen der künftigen Brüderlichkeit gegen »den Menschheitsfeind« gnadenlos gekämpft: „Diese revolutionäre Aktion ist jedoch ein Krieg, und zwar der einzige Krieg, der eine dreifache Legitimation beanspruchen kann: er ist absolut gerecht, geschichtlich notwendig und überdies der »letzte Krieg«. Er nimmt deshalb apokalyptische Dimensionen an. Er wird gegen einen Feind geführt, dem kein Anspruch auf irgendwelche Formen der Ritterlichkeit, der Humanität oder sonstiger Kampfbeschränkung zusteht. Seine Vernichtung ist ein Akt militanter Menschlichkeit.“12

Zweitens verweist Kaltenbrunner darauf, dass der Liberalismus unfähig ist, sich an der Freund-Feind-Unterscheidung zu orientieren. Der Liberale fasst den Feind auf der wirtschaftlichen Seite als Konkurrenten und auf der geistig-moralischen als Diskussionspartner auf. Die Vorstellung permanenter Konkurrenz und Diskussion verleitet dazu, auch in den Situationen noch Verhandlungen und Dialoge zu führen, in denen fast keine Voraussetzungen vernünftiger Argumentation und verbindlicher Spielregeln vorhanden sind.

Der dritte Denkfehler beruht „auf einem Mangel an historisch fundierter Anthropologie.“

Es gibt Vorurteile, dass auch der Feind im Grunde „nicht anders ist als wir.“ Wir können den Feind nicht nur dämonisieren, sondern auch unterschätzen. Diese Gefahr hält Kaltenbrunner heute für erheblich größer als den umgekehrten Denkfehler, der den Feind dämonisiert.

Der Mensch ist nicht nur homo sapiens; zur Eigenart des Menschen gehört der Exzess und die verzehrende Lust an der Raserei. Der Mensch ist auch homo demens, ein riskantes und gefährliches Wesen: Viel des Furchtbaren gibt es, doch nichts ist furchtbarer als der Mensch (Sophokles). Viertens scheint es einigen Autoren, dass auch die Sprache zur Feindblindheit beigetragen hat weil eine bestimmte Wortkosmetik betrieben wird, die den Feind und den Gegner zum Partner hochstilisiert. Heute hat die Sprache den Feind verschwiegen. Zur Gefälligkeitsdemokratie gesellt sich, schrieb Walter Hildebrandt, die Gefälligkeitssprache. Die Sprache ignoriert den mündigen Bürger, der Begütigungswortschatz schirmt den Menschen von der Ambivalenz der Wirklichkeit ab.

Der atomare Feind

In der Geschichte erschien der Feind als ein konkretes Phänomen. In der atomaren Gesellschaft finden wir den atomaren Feind, der neue Charakterzüge hat. Die atomare Globalität der Feindschaft im Zeitalter der Nuklearwaffen zeigt, dass der Krieg als ultima ratio keine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ mehr sein kann. Atomwaffen haben auch den Begriff »Überlegenheit« und »Verteidigung« bedeutungslos gemacht. Übertötungskapazitäten schaffen keine zusätzliche Überlegenheit. Es scheint, wenn die Abschreckung den Krieg als politische Chance eliminiert, dass die Rationalität der Abschreckung uns zwingen müsse, den Gegner nicht mehr als Feind zu verstehen. Die Gemeinsamkeit der atomaren Gefahr könnte eine bestimmte Form der Feindlosigkeit bringen, da in der universalen atomaren Drohung die Menschen kontrastlos sind; »Könige und Bettler«, »Ausbeuter und Ausgebeutete« sind vor der atomaren Drohung gleich, daraus ergibt sich eine diabolische Friedlichkeit.

Friedensforscher benennen andere Merkmale der atomaren Feindschaft: Erstens stützt sich der absolute atomare Feind auf eine absolute atomare Waffe, die durch die bipolare Produktion der Übertötungskapazität erzeugt ist. Zweitens begründet der totale atomare Feind durch moralische Heiligung die Produktion von Übertötungskapazitäten und beruhigt das Gewissen. Drittens stellt der atomare absolute Feind eine unkorrigierbare Krankheit dar, nämlich Verfolgungswahn, entstanden aus der perspektivlosen symmetrischen Overkill-Rüstung. Viertens ist der Mensch als der atomare Feind ein identitätsloser Mensch, der in sich selbst unversöhnliche Verteufelungskampagnen und Feindbilder stimuliert. Horst Eberhard Richter fasst die Entwicklung der atomaren Feindschaft als die Entwicklung eines bipolaren Wahns auf. Wegen der Sicherheit produziert man „die Übertötungs-Kapazitäten“, eine absolute Waffe, die verhängnisvolle Auswirkungen zur Folge hat.

Die »atomare Feindschaft« hat eine andere Qualität im Vergleich mit voratomaren Formen der Feindschaft. Der atomare Feind kann nicht die Flucht ergreifen, den atomaren Feind kann niemand in eine Flucht schlagen. Atomare Feinde können sich nicht schlagen weil der Schlag mit Übertötungskapazitäten zugleich die Selbstvernichtung bedeutet. „Die totalen Waffen erfordern letztlich den totalen Feind. Die Totalität der Feindschaft stellt die Folge des Abschreckungssystems dar. Der Feind aller Menschen ist die atomare Situation, die universale atomare Gefahr.

Der Mensch als Apokalypse-Feind

Das Modell der Apokalypse-Feinde beruht auf dem Gedanken, dass die Menschheit einen globalen Feind hat – den Genozid des Menschengeschlechts, die Ausrottung der Menschen.

Nach Günther Anders sind die Menschen im atomaren Zeitalter Apokalyptiker, sie wissen, dass sie modo negativo allmächtig sind, jeden Ort der Erde in ein Hiroshima zu verwandeln. Die Endzeit kann in Zeitenende umschlagen, der Mensch als Apokalypse-Feind hat dafür zu sorgen, dass die Endzeit endlos werde, er muss die von Menschen gemachte Apokalypse bekämpfen. Diesen Typ der Apokalypse-Feindschaft hat es zuvor nicht gegeben. Der Apokalypse-Feind bildet Hemmungsmechanismen gegen die Herstellung der Apokalypse. Er kämpft gegen die Verharmlosung und gegen die Unfähigkeit zur Angst, er postuliert eine furchtlose, belebende und liebende Angst, die wachsam gegen die atomare Bedrohung macht. Der Apokalypse-Feind hat es abgelehnt, als ein »invertierter Utopist« zu existieren weil dieser sich nicht vorstellen kann, was er produziert hat. Der Mensch darf nicht der Meinung sein, dass nur die Spezialisten, die »Herren der Apokalypse«, die Verantwortung für das Schicksal aller tragen. Gegenüber den »Herren der Apokalypse« ist Argwohn zu hegen weil alle Menschen moralisch kompetent sind, sich gegen die Apokalypse als Bürger einzumischen. Für den Apokalypse-Feind ist keine Arbeit moralisch neutral, sondern alles Arbeiten ist Handeln; er weiß, dass die ABC-Waffen »inkarnierte Handlungen« sind.

Plädoyer:
Der Feind als realer Partner

Diese Konzeption finden wir z. B. bei Dilthey und Saint-Exupéry: Der Feind ist ein notwendiger Partner, ohne ihn ist die menschliche Welt unvorstellbar. In dieser Sicht hat Dilthey mit Recht betont, dass der Mensch mit der Neigung zur Einseitigkeit, d. h. in einsamer Selbstbeobachtung der »ursprünglichen Natur« des Menschen, nicht die Wirklichkeit in ihrer Fülle wahrnehmen kann. Nur die Konzeption einer »Mannigfaltigkeit der Willenseinheiten« entspricht in historischem Raum dem Menschen. „Durch Widerstand eröffnen die Menschen, wie alles Feindliche, ihren Zugang zur Realität.“13

Viele Denker, die oft grausame Kämpfe um Vorrang durchdachten, fassten ihr Denken zu beachtenswerten Schlüssen zusammen. Diogenes antwortete auf die Frage, wie man sich an seinem Feinde rächen könne: „Wenn ich selbst Vollkommenheit erreiche!“14 Jean Jacques Rousseau gelangte zu dem Schluss, dass die Menschlichkeit dort anfange, wo man über andere nicht siegen will. Der tschechische Philosoph Ladislav Klima schrieb: „Ein hoher Geist schämt sich jedes Hasses!“15 Seine Erwägungen über Stärke und Schwäche brachten eine Analyse der paradoxen Konsequenzen der Siege, weil durch die »Siege« niemals alles erreicht wird, und weil sie oft chaotisch, beschränkt, unrein und blind bleiben: „…wie der flüchtende Soldat seine Beute und seine Waffen wegwirft, ebenso gibt es eine Panik des Sieges.“16

Martin Buber sieht in dem Feind ebenfalls wie Kant die Grundgefahr des wechselseitigen Vertrauens. „Der Feind verursacht die Krisis des Vertrauens“, die die »Wesensumkehr« der Menschen durch ein echtes Wort zwischen den Lagern nicht ermöglicht. Der Mensch vertraut dem Gespräch nicht mehr seine Sache an. Der Feind ist homo antihumanus, „der Nutznießer der Völkertrennung, das Widermenschliche, welches das Untermenschliche ist…“17 Der Feind »produziert« das aktuellste Problem der Pathologie unserer Zeit – die Völker können kein echtes Gespräch miteinander führen. So wird die globale kriegsverursachende Situation hervorgerufen.

Alle »bellogenen Faktoren«, z. B. der sog. territoriale Imperativ, der beschränkte Ethnozentrismus als Gruppendenken im Sinne einer eingeschränkten Wahrnehmung, das Projizieren von Hassgefühlen auf die Fremden, das Denken nach dem Entweder-Oder-Schema sowie sog. Sozialisationsagenturen, die kriegsverursachende Verhaltensweisen bedingen (Andersartigkeit, expansive Machtgruppierung als Abwehrkraft usw.) sind nie isoliert, sondern stehen stets im Verein mit der Feindschaft. In dieser drücken sich die Gruppenaggressivität und die moralische Blindheit der »Kulturmenschen« gegenüber dem Tod des Feindes aus: „Kein Raubtier erreicht die Stufe der Bestialität, der Ruchlosigkeit und der zynischen oder tückischen Wut, mit der der Mensch im Namen der Zivilisation zu morden, zu vernichten, auszurotten, zu unterdrücken, zu erpressen, zu knechten und auszubeuten versteht.“18

Die Lösung der Feindschaft ist nicht weiterhin mit dem Tod des Feindes zu verbinden, sie hängt in erheblichem Maße davon ab, ob das Recht zum Leben als das Grundrecht des Menschen auch dem Feind zuerkannt wird.

Es gehört zum neuen Wissen, dem Feind in die künftige Geschichte einzureihen, d. h. den Feind als ein Mitglied des Menschengeschlechts anzuerkennen. Wer die Gültigkeit der Strategie der Menschlichkeit gegenüber dem Feind bestreitet, der urteilt, dass die Steigerung der Feindschaft einen einzig richtigen Weg zur Lösung des Konflikts mit dem Feinde darstellt.

Ohne Sorge um ein positives Schicksal des Feindes in der Geschichte hat sich die Menschheit der Endlichkeit des Menschengeschlechts ausgesetzt.

Anmerkungen

1) Karl Wander (Hg.). Deutsches Sprichwörter-Lexikon. O. O. 1964, Bd.I, S. 996-975 u. S. 1171-1205.

2) Plutarch. Jak nám mohou byt naši neprátelé prospešni (dt.: Über den aus den Feinden zu gewinnenden Nutzen). Plutarch. Prátelé a pochlebníci (dt.: Die Freunde und die Schmeichler). Prag 1970, S. 130.

3) Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. X. Stuttgart 1965, S. 280.

4) Götzen-Dämmerung. Ebd., Bd. VIII, 1964, S. 103.

5) Menschliches, Allzumenschliches. Ebd., Bd. III, 1964, S. 320.

6) Der Wille zur Macht. Ebd., Bd. IX., 1964, S. 633

7) Kurt Eggers. Von der Feindschaft. Deutsche Gedanken. Dortmund 1941, S. 4.

8) Ebd., S. 33.

9) Ebd., S. 18.

10) Ebd., S. 49-50.

11) Sven Papcke. Der gewollte Feind. Zum Feindbild bei Carl Schmitt. Anton-Andreas Guha, Sven Papcke (Hg.). Der Feind, den wir brauchen. Königstein/Ts. 1985, S. 113.

12) Gerd-Klaus Kaltenbrunner. Ratlos vor dem Feinde. Ders. (Hg.). Illusionen der Brüderlichkeit. Die Notwendigkeit Feinde zu haben. Freiburg, Basel, Wien 1980, S. 14.

13) Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften 6. Stuttgart 1969, 105, 134, S. 135.

14) Plutarch, S. 130.

15) Ladislav Klima. Traktáty a diktáty (dt.: Traktate und Diktate). Prag 1922, S. 65.

16) Ebd., S. 53.

17) Martin Buber. Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens. Heidelberg 1953, S. 14.

18) Georg Pick. Mut zur Utopie. Die großen Zukunftsaufgaben. München 1969, S. 142.

Wir danken dem Osnabrücker Jahrbuch für Frieden und Wissenschaft für die Genehmigung zum Nachdruck des Beitrages von Dr. Jaroslav Kreicjí aus Tschechien. Er wurde für W&F mit Genehmigung des Autors stark gekürzt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/2 Wieder im Krieg, Seite