Ist der liberale Frieden tot?
Überlegungen zum europäischen Friedensprojekt
von Christiane Fröhlich und Regina Heller
Westlicher Interventionismus auf der Grundlage einer liberalen Friedensidee ist zu Recht in die Kritik geraten. Der Beitrag lotet mögliche Alternativen aus.
Die liberale Friedensidee, die europäische Politik auf der Basis eigener historischer Erfahrungen normativ anleitet, geht davon aus, dass kollektive Gewaltanwendung weltweit durch Demokratisierung, wirtschaftliche Verflechtung, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden kann. Sie wird in zunehmendem Maße durch andere, z.T. aufstrebende und daher hinsichtlich ihres weltpolitischen Gestaltungspotenzials wichtiger werdende Weltregionen herausgefordert. So wird auch der der liberalen Friedensidee zugrundeliegende, universalistische Gedanke infrage gestellt, dass die Rezepte, die für den Frieden in Europa gesorgt haben, auch global ihre Wirkung entfalten könnten. Kritiker des liberalen Friedens (etwa Oliver Richmond und Roger MacGinty) führen die in der post- bzw. de-kolonialen Literatur hervorgebrachte Skepsis gegenüber der im Globalen Norden dominanten liberalen Friedensidee und der epistemischen Macht westlicher Sozialwissenschaft fort. Ein zu westlicher Ansatz und die Vernachlässigung der paradoxen Effekte des Liberalismus, konkret seiner inhärenten Neigung, Frieden durch Gewalt zu konstituieren, sowie die negativen Folgen der politischen Ökonomie liberaler Friedensprozesse unter den Bedingungen einer zunehmenden globalen Verflechtung, sind hier zentrale Kritikpunkte.1
Aber auch in Europa selbst gerät die Idee liberaler Friedensstiftung massiv unter Druck, sei es durch die Zunahme an Systemkrisen, die Persistenz demokratieabträglicher Ordnungspraktiken oder durch ordnungspolitische Spannungen mit Russland. Auch vor dem Hintergrund der sehr aktuellen Frage, wie die Integration von »Anders-Sein« in westlich-liberalen Demokratien gelingen kann, ist die Debatte darüber, wie Frieden trotz bestehender Differenzen erhalten bzw. erreicht werden kann, absolut grundlegend. Wie kann also angesichts der Krise des liberalen Friedens aus Europa heraus bzw. für Europa selbst friedliche oder dem Frieden zuträgliche Ordnung hergestellt werden? Ist friedenspolitisch grundlegend neues, normatives Orientierungswissen gefragt, oder gibt es, allen identifizierten Schwierigkeiten zum Trotz, etwas »Transzendentes« in der liberalen Friedensidee, das jenseits von zeit-, kultur- und ortsgebundenen Vorstellungen und Paradigmen von Ordnung existieren und auch in den schwierigen Fahrwassern der Globalisierung bestehen kann?
Zwischen radikaler Differenz und normativer Durchlässigkeit
Für die Beantwortung dieser Fragen erscheint es sinnvoll, zunächst zu den Wurzeln der aktuellen Ordnungszerfallsprozesse vorzudringen. Als ursächlich für das Auseinanderfallen bestehender Friedensordnungen bzw. für Probleme bei der Herstellung globaler friedenspolitischer Ordnungsstrukturen gilt vor allem das Aufeinanderprallen einer Vielzahl unterschiedlicher normativer Ordnungsvorstellungen weltweit. Doch eigentlich wissen wir noch nicht sehr viel über diese normativen Unterschiede, geschweige denn darüber, wie das Wirkungsverhältnis zwischen normativer Vielfalt einerseits und Frieden anderseits tatsächlich aussieht. Unklar ist vor allem, ob diese Unterschiede tatsächlich so gravierend sind, dass sie gesellschaftliche Gegensätze unüberbrückbar machen und damit auch sicherheits- und friedenspolitische Interessen unvereinbar werden.
In der aktuellen wissenschaftlichen Debatte existieren unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem. Zum einen existieren Positionen, die von einer »radikalen Differenz« ausgehen. Sie sehen gesellschaftliche Gegensätze als unüberbrückbar und damit auch die Möglichkeit einer globalen, einheitlichen Friedensordnung, wie sie noch in den 1990er Jahren für möglich gehalten wurde, als Chimäre an. Nach dieser Lesart ist die Idee eines liberal inspirierten Friedens in einer pluralistischen Weltgesellschaft nichts weiter als ein westlich-hegemonialer Diskurs, der historische Machtstrukturen reproduziert. Ihr Argument speisen die Vertreter der »Radikalen Differenz«-These aus einer normativ zurückgenommenen, kontext-sensiblen, empirischen und vor allem kritischen De- und Rekonstruktion politischer und gesellschaftlicher, lokaler, regionaler und globaler Strukturen. Neben den bereits oben erwähnten Kritikern der liberalen Friedensidee wären auch Arbeiten zu nennen, die im Rahmen der »kritischen Normenforschung« in Deutschland entstanden sind.2
Auf der anderen Seite stehen jene Neo-Humanisten, die die Vorstellung eines Werteuniversalismus trotz gegensätzlicher Kulturen nicht vollends verwerfen wollen, und die die postmoderne Beliebigkeit der »Radikalen Differenz«-Debatte und ihre normative Zurückgenommenheit kritisieren. Björn Goldstein zum Beispiel spricht sich dafür aus, im „Multiversum“ unterschiedlicher Weltkulturen explizit nach einem gemeinsamen, kulturübergreifenden normativen Gehalt („normativen Guten“ ) zu suchen.3 Der Kulturtheoretiker Christoph Antweiler spricht von einem „inklusiven Humanismus“,4 der uns helfen könnte, die „Achtung anderer Kulturen […] durch [die] Achtung des Menschen [zu] ergänz[en]“,5 und empfiehlt, „kulturell Trennendes und Verbindendes zusammen zu denken“ 6 und auf dieser Grundlage die Möglichkeit zu schaffen, nach nicht-eurozentrischen „Kulturuniversalien“ 7 zu suchen. Allen gemeinsam ist, dass sie dezidiert für die Einnahme eines eigenen normativen Standpunktes werben, der der Untersuchung vorausgehen muss und von dem aus die Frage nach einem verbindenden ethischen Ideal – einem „transkulturellen humanum“ im Sinne Ernst Blochs8 – gestellt werden kann. Die kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Diskursen und ihre Dekonstruktion sowie die kritische Auseinandersetzung mit der potenziellen Inhumanität des Menschen spielen allerdings auch hier eine wichtige Rolle.
Schließlich lässt sich auf der Grundlage der Literatur über „Hybridität“ 9 und „multiple Modernen“ 10 die Annahme ableiten, dass normative Ordnungen sowohl kontingent als auch durchlässig sind. Normative Ordnungen sind stets kontingent, weil sie Ausdruck »gewordener« historischer Bedingungen sind. Dies hat schon Dieter Senghaas in seinen Arbeiten unterstrichen.11 Sie sind aber auch durchlässig, weil sie historisch stets in Auseinandersetzung mit, Abgrenzung von oder Wechselwirkung mit anderen Ordnungen und Vorstellungen entstehen. Insofern sollte eher von einer relativen Differenz bei gleichzeitigem Wettbewerb der Ideen ausgegangen werden, damit die Pluralität von Werteorientierungen ernst genommen und gedanklich die Grundlage dafür geschaffen wird, Unterschiede und Gemeinsamkeiten präziser zu beschreiben und mit ihnen umzugehen.
Wie weiter in der Friedenspolitik?
Wie lassen sich diese entgegengesetzten Sichtweisen nun in friedenspolitische Ordnungsversuche übertragen? Was heißt all das für europäische Friedenspolitik? Unbestritten scheint, dass Europa seine Friedenspolitik überdenken muss. Allein: Wie könnten die Eckpunkte einer solchen Friedenspolitik aussehen? Wie kann Europa der Normenvielfalt in friedenspolitischer Hinsicht begegnen? An dieser Frage sollte zukünftige Forschung unseres Erachtens ansetzen.
Ausgehend von der Kritik an der liberalen Friedensidee müssen empirisch diejenigen konzeptionellen Lücken identifiziert werden, die an den Bruchstellen der Globalisierung entstehen. Solche Lücken bestehen z.B. hinsichtlich der Blindheit »klassischer« Friedensstrategien für lokale Ordnungen und ihren Friedensgehalt trotz möglicherweise fehlender friedenspolitischer Rahmung auf nationaler Ebene. Daran anschließend formulieren wir Fragen wie die folgenden: Wie lässt es sich friedenstheoretisch abbilden, wenn Akteure, die auf nationaler Ebene nicht friedlich sind, lokal zu einer als friedlich wahrgenommenen Ordnung beitragen? Wie passt es in ein liberales Friedensverständnis, wenn autoritäre, nicht partizipative Herrschaft effektiv Frieden herstellen kann? Wie kann Friedenspolitik mit der Stratifikation von Friedensordnungen umgehen, also damit, dass Friedensordnungen möglicherweise immer nur in spezifischen Feldern ent- und bestehen können?
Zur Annäherung an diese und ähnliche Fragen ist eine Forschungsperspektive notwendig, die lokale, nationale, regionale und inter- bzw. transnationale Dynamiken in den Blick nimmt, die jeweils und in ihrer Verflechtung friedliches Zusammenleben begünstigen oder verhindern. Dabei müssen normative Überlegungen darüber, wie ein Staat zu sein hat – demokratisch, rechtsstaatlich, kooperativ usw. – zunächst in den Hintergrund treten, damit alle Akteure, die Friedensordnungen beeinflussen, berücksichtigt werden können. Erst in einem zweiten, komparativen Schritt kann dann die Frage beantwortet werden, ob tatsächlich eine Art »Restnormativität« existiert, die zeit-, kultur- und ortsgebundene Vorstellungen und Paradigmen von friedlicher Ordnung transzendiert. Eine solche Konzeptionalisierung horizontaler und vertikaler Wirkachsen friedlicher Ordnung, die das traditionelle liberale Friedensverständnis an realen Bedingungen misst und in einem zweiten Schritt auch an sie anpasst, könnte dann die Grundlage für zukünftige friedenspolitische Schritte und die (Neu-) Ordnung normativer Vielfalt sein.
Anmerkungen
1) Ausgehend von Klassikern der postkolonialen Theorie, wie Edward Saids »Orientalism« (London: Routledge 1978) oder Gayatri Chakravorty Spivaks »Can The Subaltern Speak?« (in: Patrick Williams P.; Chrisman, L. (eds.) (1988): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. Hemel Hemstead: Harvester Wheatsheaf, S. 66-111), aber auch in Auseinandersetzung mit Werken feministischer Kritik und Studien der Intersektionalität (etwa Kimberlé Crenshaw (1991): Mapping the Margins – Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Colour. Stanford Law Review 43(6), S. 1241-1299) entwickelte sich auch die Kritik an liberaler Friedenspolitik, siehe etwa Newman, E; Paris, R.; Richmond, O. (eds.) (2010): New Perspectives on Liberal Peacebuilding. Basingstoke: Palgrave; Richmond, O. (20015): The transformation of peace. Basingstoke: Palgrave; MacGinty, R. (2011): International Peacekeeping and Local Resistance – Hybrid Forms of Peace. Basingstoke: Palgrave.
2) Z.B. Engelkamp S.; Glaab, K.; Renner, J. (2012): In der Sprechstunde – Wie (kritische) Normenforschung ihre Stimme wiederfinden kann. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 19. Jg. Heft 2, S. 101-128; Deitelhoff, N.; Zimmermann, L. (2013): Aus dem Herzen der Finsternis – Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung. Eine Replik auf Stephan Engelkamp, Katharina Glaab und Judith Renner. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20. Jg. Heft 1, S. 61-74.
3) Goldstein, B. (2015): Emanzipation und »höheres Chinesentum« – Was ist kritisch an der kritischen Normenforschung in den Internationalen Beziehungen? Zeitschrift für Politikwissenschaft 62(2), S. 140-158.
4) Antweiler, C. (2011): Mensch und Weltkultur – Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld: transcript, hier S. 24.
5) Ebd. S. 8.
6) Ebd. S. 12.
7) Ebd. S. 22. Hier finden sich erneut Bezüge zur postkolonialen Theorie, insbesondere zu Homi K. Bhabhas Idee eines »dritten Raumes«; Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. London and New York: Routledge.
8) Ernst Bloch (1970): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 144.
9) Einen Überblick bietet Papastergiadis, N. (2000a): Tracing Hybridity in Theory. In: Werbner, P.; Tariq, M. (eds.): Debating Cultural Hybridity – Multi-Cultural Identities and the Politics of AntiRacism. London & New Jersey: Zed Books, S. 257-281. Speziell zu Hybridität in Bezug auf Frieden siehe z.B. MacGinty, R. (2010): Hybrid peace – The interaction between top-down and bottom-up peace. Security Dialogue, Vol. 41, Nr. 4, S. 391-412.
10) Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities. Daedalus 129(1), S. 1-29.
11) Senghaas, D. (1952): Frieden als Zivilisierungsprojekt. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Den Frieden denken – si vis pacem, para pacem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 196-223.
Dr. Christiane Fröhlich ist Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (christianefroehlich.de).
Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.