W&F 1996/1

Ist der Pazifismus am Ende?

von Horst-Eberhard Richter

Pazifismus und Friedensbewegung sind ursprünglich synonym gebrauchte Begriffe. In dem Band des Großen Brockhaus, der unmittelbar vor Hitlers Machtantritt erschien, heißt es zum Stichwort Pazifismus: „Friedensbewegung, die Gesamtheit der Bestrebungen zur Ausschaltung des Krieges aus dem internationalen Leben.“ Weiter wird erläutert:Sein (des Pazifismus) Endziel ist die Entwicklung von friedlichen Formen der internationalen Auseinandersetzung statt der kriegerischen.“ „Die praktischen Forderungen des Pazifismus sind in der Hauptsache militärische Abrüstung, die Lösung aller internationalen Streitfälle auf dem Wege der Schiedsgerichtsbarkeit und die Schaffung einer die einzelnen Staaten umfassenden Gesamtorganisation.“ Jenes Brockhaus-Lexikon nennt aber auch die Gegenströmung zum Pazifismus, die in Deutschland bald die Oberhand gewinnen sollte. Da lautet der Text: „Der Krieg wird hier aus der Natur des Menschen erklärt, er wird als ein Mittel der männlich-heldischen Erziehung und Bewährung für die einzelnen wie besonders für die Nationen gewertet.“ Im deutschen Volk sei ein neuer Wehrwille erwacht, der bewußt den Pazifismus verwerfe.

Diesen Wehrwillen habe ich dann als Schuljunge aufs eindringlichste vermittelt bekommen. Genau laut Lexikon-Text hieß Pazifismus alsbald soviel wie schändliche Feigheit, Unmännlichkeit und Verantwortungslosigkeit. 1933 war ich zehn Jahre alt. Bis zu meinem Abitur 1941 wurde ich in der Schule mit nationalistischer und militaristischer Literatur vollgestopft. Der Sportunterricht, der mir als sportbegeistertem Jungen am Herzen lag, war, ohne daß ich es anfangs durchschaute, ganz und gar auf Kriegstüchtigkeit ausgerichtet. Die Hitlerjugend, der anzugehören Pflicht war, sang militärische Lieder, übte sich in soldatischer Disziplin und wurde auf kriegerischen Heroismus eingeschworen. Mit Hilfe von Beziehungen erreichte es mein Vater allerdings, daß ich bald von der HJ beurlaubt wurde. Ich spürte auch selbst, daß die pausenlos eingehämmerten militaristischen Ideale meiner Natur wenig entsprachen. Allmählich schuf ich mir eine innere Gegenwelt durch Begeisterung für romantische Literatur und Philosophie. Aber ob meine Mentalität nicht eher ein Defizit an kämpferischer Männlichkeit bedeutete, darüber grübelte ich mit mancherlei Zweifeln.

Als 18jähriger Soldat an die russische Ostfront geschickt, machte ich dann eine einschneidende Erfahrung. Wir lagen ein paar Wochen in Ruhestellung in einem Dorf wenige hundert km von Moskau. Mit einem Kameraden verbrachte ich die Abende und Nächte bei einer russischen Familie in einer Holzhütte, die nur aus einem einzigen großen Raum bestand. Noch heute habe ich die Gesichter der Menschen vor Augen. Ein junges Paar mit einem kleinen Jungen und einem Baby, dessen Wiege an der Decke des Raums aufgehängt war. Meist saß die Oma auf dem Ofen, ließ die Wiege durch den Raum schwingen und sang dazu. Ich war von der Wärme und der ungeschützten Offenheit fasziniert, mit der die Russen untereinander und mit uns Eindringlingen verkehrten. Schnell entstand ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit, aber auch von Scham, das mich fortan immer wieder verfolgte, wenn ich als Richtkanonier an meinem Geschütz das Feuer gegen Feinde lenkte, die ich ja nicht als meine Feinde empfand.

Da unsere Granaten meist in kilometerweit entfernten russischen Stellungen und Dörfern einschlugen, sah ich zwar nicht unmittelbar, wen wir trafen. Aber auf dem Vormarsch fanden wir dann die Leichen nicht nur von Soldaten, sondern auch von verstümmelten und zerfetzten Frauen und Kindern. Ich empfand es als die schlimmste Erniedrigung und Barbarei, Menschen von der Art, wie ich sie gerade kennengelernt hatte, töten zu sollen. Die aufgezwungene Verrohung, aus der es keinen anderen Ausweg gab als eine Abkapselung des Fühlens hinter einem oberflächlich mechanischen Funktionieren, war deprimierend. Ich lernte allmählich, daß der Krieg nicht nur Menschen tötet, übrigens viel mehr Zivilisten als Soldaten, sondern daß er auch die Kämpfer, die in ihm überleben, selbst wenn sie nicht in besondere Verbrechen verwickelt werden, psychisch »beschädigt«. Die Entwürdigung zu einem willfährigen Tötungswerkzeug bedroht, wer sich eine normale Empfindsamkeit bewahrt hat, mit bedrückenden Selbstwertkonflikten, denen zu entgehen auf Dauer nur eine antrainierte partielle Apathie hilft. Es wird dann vom Bewußtsein ferngehalten, was Albert Einstein unverblümt beim Namen genannt hat, nämlich daß seiner Auffassung nach Töten im Krieg nichts anderes als gewöhnlicher Mord sei.

Damals wußte ich nicht, wie sehr sich Einstein und andere führende deutsche Intellektuelle nach dem ersten Weltkrieg dafür eingesetzt hatten, die Jugend in pazifistischem Geist zu erziehen und vor militaristischer Ideologie zu bewahren. Ich wußte nicht, daß dieser große Physiker noch 1930 zusammen mit Sigmund Freud, Thomas Mann, Martin Buber, Stefan Zweig und anderen ein internationales pazifistisches Manifest unterschrieben hatte, in dem es unter anderem geheißen hatte: „Militärische Ausbildung ist Schulung von Körper und Geist in der Kunst des Tötens… Sie ist die Verewigung des Kriegsgeistes. Sie verhindert die Entwicklung des Willens zum Frieden.“ Wo Wehrpflicht bestehe, müsse sie abgeschafft werden. Wo sie fehle, dürften Jugendliche nicht durch moralischen oder wirtschaftlichen Druck zum Militärdienst verführt werden. Wörtlich: „Die ältere Generation begeht ein schweres Verbrechen an der Zukunft, wenn sie die Jugend in Schulen und Universitäten, in staatlichen und privaten Organisationen, oft unter dem Vorwand körperlicher Ertüchtigung, das Kriegshandwerk lehrt.“ Bekanntlich hatte sich Hitler hohnlachend über diese Stimmen hinweggesetzt. 1935 hatte er die Wehrpflicht etabliert und der Jugend, wie ich es erlebt habe, eben den angeprangerten Kriegsgeist einzupflanzen versucht. Er war aus der Genfer Abrüstungskonferenz ausgetreten, hatte den Völkerbund verlassen und war mit der Reichswehr in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert, alles ohne nennenswerten Widerstand der internationalen Gemeinschaft, ohne Sanktionen, die ihn hätten stoppen können.

Ich komme auf diese Vorgänge hier deshalb zurück, weil genau jenen Pazifisten heute von Heiner Geißler und manchen anderen dutzende Male vorgeworfen wird, sie hätten Auschwitz verschuldet. Man stelle sich vor: Es droht eine Seuche. Eine Gruppe von Leuten verlangt vorbeugende Maßnahmen wie Impfungen und eine Quarantäne für Infizierte. Aber es kommen Gegner an die Macht, die diese Schutzvorkehrungen systematisch verhindern und deren Befürworter vertreiben und zum Teil ermorden. Sind nun also die Warner am ungehinderten Ausbruch der Seuche schuld, d.h. Freud, Einstein, Thomas Mann und die anderen? Ist es ihre Schuld, daß die Deutschen nicht ihnen auf dem Weg zum Frieden, sondern Hitler auf dem Weg in die Katastrophe gefolgt sind? Und sind etwa die Pazifisten dafür verantwortlich, daß ihre alte Forderung nach einer wirksamen präventiven internationalen Organisation nur halbwegs in Gestalt des zahnlosen Völkerbundes realisiert wurde, so daß Hitler vor aller Augen ungestraft die internationale Gemeinschaft brüskieren und Deutschland zum Kriege rüsten konnte?

Im Falle von Bosnien werfen die Interventionisten ihren Kontrahenten vor, diesen sei es offenbar nicht recht, daß die Alliierten Deutschland militärisch von Hitler befreit hätten. Die Pazifisten geraten in der Debatte also nicht nur in die Defensive, sondern werden regelrecht inquisitorisch stigmatisiert. Es ist zwar nicht ganz so weit, daß man ihre Bücher verbrennen möchte, aber einige der tonangebenden Medien lassen sie Spießruten-Laufen. Ein Peter Handke, der gar die Serben verteidigt, wird bei seinen Lesungen von einer Meute verfolgt, als stehe er mit dem Teufel im Bunde.

Es ist, als müßten sich die Pazifisten schamvoll im Boden verkriechen. Sie stehen da als Verräter, Feiglinge oder rücksichtslose Egoisten. Genau diese Vorwürfe klingen mir aber noch aus meiner Kindheit und Jugend in den Ohren. Ich widerstehe der Versuchung, Geißlers, Cohn-Bendits und Fischers gezogene Parallele mit umgekehrten Vorzeichen zu reproduzieren. Aber eine Richtigstellung muß schon sein.

Natürlich wissen die heutigen Ankläger sehr wohl, daß die neuere deutsche Friedensbewegung gerade als Reaktion auf bzw. gegen den mörderischen Nazi-Kriegsgeist entstanden ist. Es war eine entschlossene Auflehnung gegen einen Militarismus, der dem Nationalismus und dem Herrenrasse-Wahn die mörderische Schlagkraft verliehen hatte. So steckt in der Maßlosigkeit der aktualisierten Vorwürfe gegen den Pazifismus jedenfalls eine fatale Irrationalität, über die nachzudenken ist. Es gehört meines Erachtens keine psychoanalytische Vorbildung dazu, in dieser haßerfüllten Kampagne eine aggressive Abwehr von Unsicherheit zu entdecken: Wer das zentrale humanistische Tabu des Tötungsverbots bricht und jungen Menschen das Trauma zumutet, das ich gerade aus der eigenen Erfahrung skizziert habe, der muß seine Gewissenszweifel niederkämpfen. Es erleichtert, die innere Auseinandersetzung nach außen zu wenden und zu hoffen, mit der Diskriminierung der Pazifisten die eigenen Zweifel zum Schweigen zu bringen. Dies kostet verständlicherweise besonders solche Interventions-Befürworter die größte Mühe, die noch vor kurzem selbst in der Friedensbewegung engagiert waren und nirgends auf der Welt mehr eine militärische Konfliktlösung zulassen wollten. Bekanntlich gehören Konvertiten immer zu den unnachsichtigsten Inquisitoren.

Bringt man es nichtsdestoweniger fertig, sich die Pazifisten und die Interventionisten auf beiden Seiten der Streitfront in Ruhe anzusehen, so kommt man nicht um die Feststellung herum, daß viele hier und dort einander an Integrität und humanistischen Zielvorstellungen kaum nachstehen. So liegt es nahe, den offenbar vorhandenen gemeinsamen Hintergrundkonflikt zu untersuchen, um dessen Gefährlichkeit besser zu verstehen.

Alle Bemühungen um Humanisierung unseres Zusammenlebens haben uns bis heute nicht von der Schwierigkeit befreit, die in uns und in unseren Gesellschaften wirkenden destruktiven Antriebskräfte verläßlich unter Kontrolle zu halten. So begleitet unsere Geschichte ein Standardmythos, der dieses Problem abbildet und zugleich eine Lösung zu verheißen scheint. Aber die Lösung trägt nicht, und deshalb müssen wir diesen Mythos immer wieder neu beleben. Es ist in der Urform der Schöpfungsmythos mit dem Drachen als Symbol der gottfeindlichen Mächte, der Sonne und Mond verschlingen und die Mutter des heilbringenden Gottes vernichten möchte. Er muß zur Erhaltung der Welt besiegt werden. Die Siegerrolle übernehmen später der Erzengel Michael und der heilige Georg. Zahlreiche Märchen haben die Geschichte variiert. Der Drachen als häßliches, feuerspeiendes Untier verweist die Destruktivität in den Bereich der atavistischen Primitivität, wo sie von dem Engel oder dem heiligen Ritter, also von unserer moralischen Kraft, unschädlich gemacht werden soll. Aber die Destruktivität ist ein Teil von uns selbst, und unsere moralische Energie kann sie nicht tilgen, deshalb verläßt das Böse in vielen Abwandlungen des Mythos auch die Tiergestalt und tritt uns als Hexe, als Luzifer oder auch als irrational dämonisierter politischer Weltfeind entgegen. Der moderne Ritter Georg ist etwa der sanfte Sheriff Gary Cooper in High Noon.

Dieses Drama muß pausenlos neu erfunden und uns vorgeführt werden. Wir brauchen den Drachenkampf in der Fiktion, um nach dem Sündenbock-Muster unsere Destruktivität auf ein zu bestrafendes Feindbild projizieren zu können. Auch reale Gangster, Mörder und Mafia-Gruppen üben auf uns eine unheimliche Anziehung aus und helfen uns, unbewußt an sie ein Stück von der eigenen inneren Gefahr zu delegieren. Noch im 19. Jahrhundert strömten in Teilen unseres Landes Tausende zu öffentlichen Hinrichtungen von Mördern, wobei sie sich insgeheim eine Entlastung von eigenen Trieb- und Schuldängsten versprachen. Heute macht es der täglich angebotene Fernseh-Krimi den Menschen bequemer. Werden Haß-, Rache- und Ressentimentgefühle aber übermächtig, reicht ihre Kanalisierung mit Hilfe von fiktiven Sündenbock-Szenarien nicht mehr aus, und es wird nach realen Feinden zur Abreaktion verlangt.

In der klinischen psychoanalytischen Forschung zeigt sich, daß speziell solche Menschen ein besonderes Feindbild-Bedürfnis entwickeln, die in der Kindheit oder Jugend selbst Opfer von schweren Kränkungen und Gewalt geworden sind. Die Verinnerlichung dieser Traumen drängt sie später zu fortgesetzter aktiver Wiederholung des passiv erlittenen. Diese Reaktionsweise findet sich nicht minder bei größeren Gemeinschaften. Erlittene kollektive Niederlagen, Demütigungen und Unterdrückungen können den Nährboden für massenpsychologische Haß-Eruptionen schaffen – bis hin zum Ausdruck in barbarischen Exzessen, wie der kulturelle Fortschritt sie nach unserem Wunsch längst hätte eliminieren sollen.

Man könnte nun glauben, daß das Vorhandensein oder Fehlen eines ausgeprägten Feindbildbedürfnisses ein psychologisches Kriterium zur Unterscheidung von militärischen Interventionisten und Pazifisten sein könnte. Wer wie ich Gelegenheit hatte, sich über viele Jahr in den Gruppen der Friedensbewegung umzusehen, der konnte diese Annahme nur ungenügend bestätigen. Auch der Friedensbewegung sind in der Vergangenheit nicht wenige zugeströmt, denen es weniger um pazifistische Versöhnung und Verständigung als um Bekämpfung der Amerikaner, der eigenen Regierung oder des eigenen Militärs ging. Die in die Friedensbewegung hineinwirkende Ostpropaganda tat alles, um die Bewegung gerade auch für Fanatiker attraktiv zu machen, denen insgeheim die amerikanischen Pershings gerade recht waren, um ihre ödipalen Vaterproteste oder sonstwie verursachte Haßemotionen ausleben zu können. Die Auflösung der Blockkonfrontation und die ersten Schritte der atomaren Abrüstung ließen das Engagement dieser Gruppen rasch erlahmen, das mehr ein Anti- als ein Pro-Engagement gewesen war.

Damit treffe ich auf einen Kernpunkt der Psychologie des echten Pazifismus. Dieser ist vom vorherrschenden Antrieb her eine Pro- und keine Anti-Bewegung. Seine bedeutendsten Leitfiguren bezeugen dies sehr deutlich. Studiert man die Biographien einiger von ihnen wie Gandhi oder Mandela, so stimmen sie in einem wesentlichen Punkt deutlich überein: Diese Männer vermochten diverse schwere Verfolgungen und Kränkungen hinzunehmen, ohne ihr soziales Grundvertrauen erschüttern zu lassen. Gandhi befolgte das Prinzip der ahimsa, das bedeutet, Leiden akzeptieren zu können, ohne das Wesen des anderen verletzend anzutasten. Der Grundgedanke dabei ist, daß der Mensch, der zu Gewalttätigkeit versucht sei, nicht die Wahrheit im anderen respektiere und stattdessen sich anmaße, allein über die Wahrheit zu verfügen, was regelmäßig zu schuldhafter Selbstgerechtigkeit verführe. Wer das Wesen des anderen verletze, beschwöre immer nur Gegengewalt herauf.

Mandela schützte sich vor Haß durch eine außergewöhnliche Fähigkeit, sogar in seinen Peinigern sympathische Züge wahrzunehmen und dadurch die innere Verbindung zu ihnen aufrecht zu erhalten. Er schreibt: „Selbst in den schlimmsten Zeiten im Gefängnis, als meine Kameraden und ich an unsere Grenzen getrieben wurden, sah ich einen Schimmer von Humanität bei einem der Wärter, vielleicht nur für eine Sekunde, doch das war genug, um mich wieder sicher zu machen und mich weiterleben zu lassen.“

Beide Männer haben für ihren gewaltlosen Widerstand wiederholt im Gefängnis gesessen, Mandela allein 27 Jahre lang. Aber beide haben die Welt nicht in Licht und Finsternis aufgeteilt, sich nicht einseitig als gute Verfolgte gegenüber bösen Verfolgern gesehen, – was sie davor schützte, das Erlittene aktiv zu reproduzieren. Der eine hat in 300 Millionen Menschen die Energien für einen erfolgreichen gewaltlosen Befreiungskampf entzündet, der das britische Empire erschütterte. Der andere hat einen Bürgerkrieg mit vieltausendfachem Blutvergießen abgewendet, den die meisten Sachkenner seit langem als absolut unvermeidlich prognostiziert hatten. Wer heute den Pazifismus totsagt, dem sollten solche historischen Beispiele helfen, seinen voreiligen Pessimismus zu überprüfen und zumindest die mögliche politische Wirksamkeit einer Einstellung anzuerkennen, die heute von den bekannten Zynikern gern als trügerische Gutmenschen-Romantik verächtlich gemacht wird.

Natürlich muß die Friedensbewegung die Destruktivität als ein in den Menschen und in den Gesellschaften wirksames Element registrieren, aber zugleich im Geiste ihrer großen Vorbilder daran arbeiten, dieses Element zurückzudrängen. Dabei wird sie am ehesten vorankommen, wenn sie sich nicht mit dem Erzengel Michael oder dem Heiligen Georg vergleicht und auch nicht wie Herakles versucht, der bösen Schlange Hydra den Kopf abzuschlagen, der danach bekanntlich gleich drei neue Köpfe nachgewachsen sind. (Meine Frau und ich haben übrigens gerade eine Grafik Max Pechsteins erworben, der dieses Motiv 1916 als Heimkehrer aus der Vernichtungsschlacht an der Somme dargestellt hatte.) Wir sollten den Drachen stets zuerst in seinem gefährlichsten Versteck suchen, – nämlich bei uns selbst beziehungsweise in unseren eigenen Gesellschaften.

Wir Deutschen haben gerade mit MIG-21 Kampfflugzeugen, Helikoptern und Aufklärungsmaschinen den Kroaten geholfen, 150.000 Krajiner-Serben zu bekämpfen und zu vertreiben. In 39 von 48 Länder mit ethnischen Konflikten exportieren die Amerikaner Rüstungsmaterial und Rüstungstechnologie, wie Ex-Senator William Proxmire in der New York Times moniert hat. Am Golf und in Somalia kämpften die Eingreiftruppen gegen Waffen aus ihren Heimatländern. Ex-Jugoslawien wird schon wieder kräftig aufgerüstet. Laut A.P. soll die bosnisch-kroatische Föderation schon wieder mit Militärgerät im Wert von 1,2 Milliarden Mark aufgerüstet werden, obwohl noch höchst ungewiß ist, ob die Kroaten an dieser wackeligen Konföderation überhaupt festhalten wollen. Jedenfalls läßt man der Hydra bereits wieder neue Köpfe nachwachsen, anstatt alle Kräfte und Mittel umgekehrt für friedliche Verständigungsarbeit einzusetzen. Denn weder die jetzigen NATO-Waffen noch die neu importierten werden neues Blutvergießen verhindern, wenn die Beteiligten es nicht wollen.

Die großen Rüstungsländer, mit an vorderer Front die Deutschen, wetteifern ohnehin weiterhin darin, durch ihre Waffenexporte neue Kriege führbar zu machen. So wiederholt sich ständig das absurde Schauspiel, daß schließlich in der UNO solche Nationen über kriegführende Regierungen zu Gericht sitzen, die diesen erst ihre Kriege möglich gemacht haben. In Afghanistan z.B. wäre das Blutvergießen längst erloschen, hätte man das Land nicht zunächst mit östlichem und westlichem Militärgerät überschwemmt.

Und die Deutschen? Weil die Tornados so gut sind, ist ihnen zu danken, daß Bonn durch sie das Eintritts-Ticket für internationale Kampfeinsätze erhalten hat. Zugleich können sich die Rüstungsforschung und die Rüstungsindustrie über die Anschubwirkung freuen, die ihnen die Militärintervention in Bosnien verschafft. Diejenigen Politiker reiben sich die Hände, die immer schon auf die Karte der militärischen Sicherheitslogik gesetzt haben. Während die Interventionsbefürworter im Lager der Grünen und der Sozialdemokraten eher an die Hilfe für die bedrängten Bosnier dachten, haben sie indirekt diejenigen unterstützt, die schon lange systematisch daran arbeiten, die gewachsene deutsche Verantwortung vor allem im Sinne militärischer Stärkepolitik zu definieren.

Wenigstens ein Wort noch zu der in der Bosnien-Debatte laut verkündeten neuen Ethik, die ich Affekt-Ethik nenne. Diese besagt nach Joschka Fischer, es müsse von außen militärisch eingegriffen werden, wenn ein Krieg oder Bürgerkrieg völkermörderische Ausmaße annehme. Er bezog sich bekanntlich speziell auf Sebrenica. Den Begriff Affekt-Ethik finde ich passend, wenn unter einer Reihe von völkermörderischen Kriegen oder Bürgerkriegen nur ein einziger militärischer Einmischung für bedürftig erklärt wird, an dem sich mit Hilfe der Medien besondere Emotionen wie Erschrecken, Mitgefühl und Empörung entzündet haben. Handelte es sich um ein echtes moralisches Prinzip, müßte die Interventionsforderung unbedingt auch dort laut werden, wo völkermörderisches Blutvergießen von der Politik und den Medien nicht oder weniger emotionalisierend aufbereitet wird.

In Bosnien hatten die Serben in der Tat nach Kräften mitgeholfen, ein klassisches Schwarz-Weiß-Szenario mit ihnen als Tätern und allen übrigen als Opfern zu etablieren. Die Abbildungen ihres Wütens steigerten die Erregung in der Öffentlichkeit zu solchen Ausmaßen, daß viele die militärische Intervention wie eine erlösende karitative Befreiungstat empfanden. Aber dann geschah etwas Sonderbares. Mit Wissen der Amerikaner, die im übrigen auch zuvor über die serbische Eroberung Sebrenicas informiert gewesen waren, stürmten die Kroaten an den Blauhelmen vorbei in die Krajina, vertrieben dort über 150.000 in der Mehrzahl alteingesessene Serben, töteten scharenweise Zurückgebliebene und brannten, wie UNO-Beobachter berichteten, dutzende ihrer Dörfer ab. Tjudman feierte seine Strategie. Gerühmt wurde der »Blitzkrieg«, – nach einem Begriff, der für Hitlers Überfälle 1940 und 1941 geprägt worden war. Die USA und Deutschland verhinderten eine Verurteilung Kroatiens in der UNO. Keiner der prominenten deutschen Interventions-Befürworter rührte sich. Die Rollen im Szenario und die entsprechenden affektiven Besetzungen waren schon definitiv sortiert.

Schon halbvergessen sind andere völkermörderische Aggressionen, die, wenn es um`s Prinzip ginge, die Interventionisten unbedingt hätten auf den Plan rufen müssen. Fast ungestört hatte Pol Pot mit seinen Roten Khmern etwa eine Million seiner Landsleute durch Massenhinrichtungen und Verhungern umbringen und Hunderttausende in die Flucht jagen lassen. Als Saddam Hussein 1988 noch Partner der Amerikaner war, die ihn als Bollwerk gegen den Iran der Mullahs aufgerüstet hatten, rottete er mit Giftgasbomben ganze kurdische Dorfbevölkerungen im nördlichen Irak aus. Niemand außer der Friedensbewegung rief dazu auf, ihm das Handwerk zu legen.

In Afghanistan läuft noch immer ein grausiges Trauerspiel ab, dem die Weltöffentlichkeit nach dem Abzug der Russen ihr Interesse entzogen hat. Seitdem haben Hunderttausende, vermutlich mehr als eine halbe Million, im Bürgerkrieg ihr Leben verloren. Das Elend der Menschen im laufend weiter beschossenen Kabul stellt alles in den Schatten, was die Bosnier in Sarajewo erlitten haben. Ein Ende der Massaker ist noch nicht abzusehen. Keiner ruft nach militärischem Schutz für die verzweifelte Bevölkerung. Warum? Es fehlen die dokumentierenden Bilder. Das Kampfgeschehen läßt sich auch nicht in ein einfaches Schwarz-Weiß-Szenario einordnen, wie es noch möglich war, als es russische Besatzer mit aus dem Westen aufgerüsteten afghanischen Freiheitskämpfern zu tun hatten.

Jedenfalls tut der Pazifismus gut daran, sich nicht eine Selbstrechtfertigung durch eine Affekt-Ethik aufnötigen zu lassen, die mit selektiven militärischen Läuterungs-Ritualen davon ablenkt, daß nicht er, sondern die Nichtbefolgung seiner Hauptforderungen immer noch kriegerische Massaker in verschiedenen Teilen der Welt begünstigt. Den Pazifismus kann man mit einer sanften Medizin vergleichen. Er versucht wie diese, durch Aufklärung und vorbeugenden Gesundheitsschutz Krankheiten zu verhindern. Nach deren Ausbruch tut er alles, um das Immunsystem, d.h. die Abwehrkräfte zur Überwindung des Übels zu stärken, also Antikriegsgruppen und Deserteure zu unterstützen und Opfern zu helfen. Er kann bei einem einzelnen Entzündungsherd wie Sebrenica momentan eine Niederlage erleiden. Aber da es sich um eine chronische Systemkrankheit mit diversen Entzündungsherden handelt, ist die chirurgische Lösung, d.h. militärisches Eingreifen, fürs Ganze kontraproduktiv, weil es automatisch den teuflischen Zirkel wieder in Gang setzt, nämlich neue Rüstung, neue Waffenexporte, Militarisierung des Sicherheitsdenkens und Schwächung des Immunsystems, nämlich der UNO, die sich von der NATO das Heft aus der Hand nehmen lassen mußte.

Der Hauptversager in Ex-Jugoslawien war nämlich die Institution, für deren Stärkung die Friedensbewegung seit altersher kämpft. Aber die UNO mußte versagen, weil sie von ihren wichtigsten Mitgliedern praktisch bankrott und nahezu handlungsunfähig gemacht worden ist. So hat sie in Bosnien die schlimmste Niederlage erlitten, indem sie die ihr von Rechts wegen zustehende politische Verantwortung an das westliche Militärbündnis abtreten mußte. Die Weltorganisation ist gelähmt. Die Mitgliedsländer schulden ihr mehr als drei Milliarden Dollar, 1,2 Milliarden allein die USA. Sie kann, wie man hört, nicht einmal mehr ihre Menschenrechts-Beauftragte für Ex-Jugoslawien mit den Mitteln ausstatten, die für die Erstellung kompetenter Berichte über Kriegsverbrechen nötig sind. Die Republikaner im US-Senat scheuen sich nicht damit zu drohen, die Unterstützung der Vereinten Nationen vollends einzustellen, wenn diese den eigenen nationalen Interessen in die Quere kommen. In der Schublade verschwunden ist das Programm einer dringlichen Reform der Weltorganisation, die eine internationale Kommission unter Federführung Richard von Weizsäckers erarbeitet hat.

Nationale Egoismen, Zerstrittenheit und Geiz der Mitgliedsländer bedrohen uns mit der Gefahr, daß die Weltsicherheitspolitik allmählich wieder in die Hände von Militärbündnissen gerät, während die Friedensbewegung umgekehrt darauf dringt, die supranationale Weltorganisation so zu unterstützen, daß diese als einzige dafür denkbare Instanz für Fortschritte in der internationalen Abrüstung, für Abbau des Rüstungshandels und endlich für die Schaffung von kompetenten, vernetzten Kriseninterventionszentren sorgt, die in Spannungsgebieten den Ausbruch von Feindseligkeiten verhüten können.

Es ist schon paradox: Alle müßten sehen, daß die Friedensbewegung mit ihren auf Prävention ausgerichteten Zielen heute mehr denn je gebraucht wird. Stattdessen erscheint sie vielen als Auslaufmodell und als kläglicher Hort von Gutmenschen-Kitsch. Aber ganz so trostlos ist ihre Situation wiederum nicht. In der jungen Generation findet sie jedenfalls trotz aller gegnerischen Propaganda einen zwar eher leisen, dennoch verläßlichen Rückhalt. Die Militarisierung des politischen Denkens hat die Jugend nicht mit ergriffen. Der Anteil der Kriegsdienstverweigerer ist entgegen der offiziellen Interventionspolitik noch stetig angestiegen. Die neuerdings hochgelobte Wehrpflicht findet bei den unter 24jährigen sowohl in Ost- wie in Westdeutschland deutlich mehr Ablehnende als Befürworter, wie Elmar Brähler und ich bei einer repräsentativen Vergleichsuntersuchung festgestellt haben. Fast einhellig hat sich unsere Jugend gegen die französischen Atombomben-Tests empört.

Nicht zu leugnen ist allerdings, daß diese Generation zwar überwiegend pazifistisch denkt, dafür aber vorläufig wenig tut. Die ökologische Krise und soziale Ängste sorgen für eine eher gedrückte Grundstimmung. Der Mißerfolg der Proteste gegen Chirac hat sich in Gefühlen von Ohnmacht und Resignation niedergeschlagen. Die Basisgruppen der Friedensbewegung sind mit sich selbst und der eigenen Konsolidierung nach manchen Verlusten und internen Konflikten beschäftigt. Zur Zeit sind sie dabei, ihre Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit auszutauschen und aufzuarbeiten. Gerade hat in Frankfurt ein Treffen maßgeblicher Repräsentanten aus Organisationen stattgefunden, die in den achtziger Jahren die Friedensbewegung im wesentlichen getragen haben. Auf dem Tisch liegen auch schon wieder Programme für interessante Projekte. Aber im Vordergrund steht momentan noch das Bedürfnis zu kritischer und selbstkritischer Besinnung und zum Atemholen nach den zermürbenden Debatten und Kontroversen der letzten Zeit.

Wenn Sie mich nach meinen persönlichen Eindrücken und Einschätzungen fragen, so registriere ich im Moment unterschiedliche Signale. Die Einladungen, über Pazifismus zu reden, häufen sich wie nie zuvor in den letzten drei Jahren. Bei Veranstaltungen verspüre ich große Hoffnungen, aber vorwiegend solche passiver Art, also Erwartungen, die an andere delegiert werden, oder auch Enttäuschung darüber, daß so wenig erreicht wird. Ich selbst halte mich jedenfalls nach wie vor unbeirrt an eine Empfehlung, die ich einer Rede des verstorbenen Soziologen Max Horkheimer über Pessimismus entnommen habe: Jeder hat die Chance, seinem etwaigen theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen. Das ist, wie ich gefunden habe, nicht nur ein psychohygienisches Rezept. Man kann damit auch etwas bewirken.

Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter ist geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/1 Am Tag als der Regen kam, Seite