W&F 2016/3

Kampf und Frieden im Islam

von Elhakam Sukhni

In der öffentlichen Diskussion über den Islam wird häufig unterstellt, gläubige Muslime seien generell aufgefordert, einen als »Heiligen Krieg« interpretierten Dschihad zu führen. Das ist eine fatale Fehlinterpretation des Dschihad-Konzepts, die sich auch darauf auswirkt, wie das Verhältnis dieser Religion zu Gewalt bzw. Krieg und Frieden wahrgenommen wird. Der Autor zeigt auf, dass sich im Koran und in den Aussprüchen des Propheten Muhammad zahlreiche Bezüge zu einem Friedensgebot finden, und belegt dies mit Zitaten aus islamischen Textquellen.

Dschihad« zählt zu den wohl am wenigsten verstandenen Konzepten der islamischen Religion. Die Fehldarstellung beginnt bereits bei der häufig verwendeten Übersetzung von Dschihad als »Heiliger Krieg«. Dabei wird ein Ausdruck aus der christlichen Tradition, der insbesondere die Kreuzzüge bezeichnete und bereits im Alten Testament (Joel 4:9) Erwähnung findet, auf den Islam übertragen. Hingegen findet sich in keinem der klassischen Texte und Hauptquellen der islamischen Tradition ein Ausdruck wie »Heiliger Krieg« (etwa »harb muqaddas«). Dschihad steht nicht primär für den bewaffneten Kampf, und Krieg wird keineswegs Heiligkeit zugesprochen, sondern höchstens eine zu vermeidende Notwendigkeit.

»Dschihad« bedeutet wörtlich »Anstrengung« oder »Eifer« um das Wohlgefallen Gottes und kommt in der islamischen Theologie als kleiner und als großer Dschihad vor. Diese Aufteilung geht auf eine Überlieferung zurück, wonach der Prophet Muhammad nach einer militärischen Auseinandersetzung seinen Gefährten erklärte, dass sie nun vom kleinen Dschihad in den großen Dschihad zurückkehren würden. Der kleine Dschihad war also die zurückliegende Schlacht, während die alltägliche Anstrengung im Kampf gegen die eigenen Triebe und Schwächen sowie zur Bewältigung der allgemeinen Lebensumstände, wie Arbeit, Familienleben und Einhaltung der religiösen Pflichten, als großer Dschihad bezeichnet wird. Dem Argument, bei dieser Überlieferung handele es sich um einen nicht authentischen Hadith (Ausspruch des Propheten), entgegnen muslimische Theologen, das Konzept von kleinem und großem, also wichtigerem Dschihad werde im Koran selbst formuliert.

In Sure 25 Vers 52 heißt es: „So gehorche nicht den Leugnern der Offenbarung [kuffar], sondern eifere mit ihm [dem Koran] in großem Eifer [dschihadan kabiran] gegen sie.“ Hier wird also nicht zum bewaffneten Kampf aufgerufen, sondern zum großem Dschihad, der mit dem Wort geführt wird. Bestätigt wird dieser Vers durch einen weiteren Ausspruch des Propheten: „Die höchste Anstrengung [Dschihad] ist das gerechte Wort gegenüber einem ungerechten Herrscher.“ (Vgl. an-Nawawi 1999) Und einer weiteren Aussage nach heißt es: „Der beste Dschihad ist der Dschihad gegen dein Ego und deine Begierden um des Willen Gottes wegen.“ (Vgl. as-Sanani 2011)

Regeln für den kleinen Dschihad

Der kleine Dschihad, also der bewaffnete Kampf, wiederum unterliegt strikten Regeln. Die drei wichtigsten Vorgaben lauten (vgl. Dagli 2013, S. 57):

  1. Das Töten von Zivilisten (also Nichtkombattanten), insbesondere Greisen, Frauen und Kindern, ist verboten.
  2. Die Religion anderer Menschen kann niemals Grund für einen Krieg gegen sie sein.
  3. Gewalt ist nur im Fall der Selbstverteidigung oder zum Schutz unschuldiger Dritter erlaubt.

Vor jedem Kriegseinsatz wies der Prophet Muhammad seine Kämpfer an, nicht zu plündern, den Feind nicht zu verstümmeln sowie Frauen und Kinder zu verschonen. Als er nach einer Schlacht eine getötete Frau liegen sah, sagte Muhammad: „Sie war keine Kämpferin!“, und wies seine Leute erneut an, keine Kinder, Frauen und andere Unbeteiligte zu töten. Der Prophetengefährte und erste Kalif Abu Bakr verbot darüber hinaus laut einer bekannten Überlieferung das unnötige Zerstören von Bäumen und das Töten von Tieren im Krieg (Dakake 2013, S. 108-109).

Die meisten muslimischen Gelehrten sind der Ansicht, Krieg dürfe nur zu Verteidigungszwecken geführt werden und Angriffskriege fänden keine Rechtfertigung, besonders in Zeiten internationaler Völkerrechtsabkommen. Ausschlaggebend hierfür ist die Koranstelle 22:39-40, welche besagt: „Die Erlaubnis [sich zu verteidigen] ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah -- und Allah hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen. / Jenen, die schuldlos aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagten: »Unser Herr ist Allah [Gott].« Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, so wären gewiss Klausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird, niedergerissen worden. Und Gott wird sicher dem beistehen, der Ihm beisteht.“

Wenn Frieden eingekehrt ist, die Muslime befreit sind und der Islam wieder praktiziert werden kann, muss gemäß Koranvers 2:193 auch der Kampf beendet werden: „Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion wieder Allahs ist. Wenn sie jedoch aufhören, dann darf es kein feindseliges Vorgehen geben außer gegen die Ungerechten.“

Wenn von anderen Menschen keine Aggression und kein Unrecht ausgeht, sollte gemäß der koranischen Ausführung in Sure 60:8-9 auch von Muslimen keine Aggression ausgehen: „Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. / Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und [anderen] geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter.“

Terrororganisationen wie al-Qaida behaupten, die Muslime stünden im ständigen Verteidigungskrieg gegen die imperialistischen westlichen »Kreuzzügler« und begründen ihre weltweiten Anschläge mit der Koranstelle „Und tötet sie, wo immer Ihr sie findet!“. Wie so oft wird hier ein Vers aus dem Zusammenhang gerissen, um extremistische Positionen durchzusetzen. Die entscheidende Textstelle im Koran lautet nämlich so: „Und kämpft auf dem Weg Allahs gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Allah liebt nicht diejenigen, die übertreten. / Und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn Chaos ist schlimmer als Totschlag.“ (2:190-1)

Deutlich wird hier, dass der Kampf als Reaktion auf einen Angriff oder auf Vertreibung legitimiert wird, jedoch mit der Einschränkung, nicht zu „übertreten“. Der angesehene klassische Koranexeget at-Tabari (gest. 923) interpretiert diese Koranverse außerdem in ihrem historischen Kontext und bezieht die Stelle „vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben“ auf die Muslime zu Muhammads Zeiten, welche von den verfeindeten Mekkanern in die Flucht nach Medina genötigt wurden. Darüber hinaus definiert at-Tabari das „nicht Übertreten“ entsprechend der bereits erwähnten Prinzipien im Dschihad, zu denen insbesondere das Verbot des Tötens Unschuldiger zählt (vgl. Dakake 2013, S. 107-108). Weder al-Qaida noch der von ihr abgespaltene »Islamische Staat« halten sich an das islamische Kriegsrecht, sondern nehmen bewusst den Tod von Zivilisten und Unbeteiligten in Kauf.

Frieden als Grundprinzip der islamischen Theologie

Die Grundlage aller Ethikreligionen ist der Erhalt des Friedens, für dessen Schutz im Notfall Gewalt angewendet werden kann. Auch der Islam ist nicht per se eine pazifistische Religion, erlaubt aber die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel. So geht das Konzept von Frieden (salaam) entsprechend der islamischen Quellen immer mit dem Konzept von Sicherheit (silm) einher – zwei Begriffe, die vom gleichen Wortstamm (s-l-m) abgeleitet werden wie der Begriff Islam.

Mithilfe der Religion des Islam (wörtlich Hingebung) soll also Salaam (Frieden) zwischen den Menschen bestmöglichen Silm (Sicherheit) garantieren. So beinhaltet auch der islamische Friedensgruß »as-salaamu alaikum« (der Frieden sei mit euch) den Wunsch, eine andere Person möge in Frieden und Sicherheit leben (Crow 2013, S. 256). »Der Frieden« (al-Salam) ist außerdem einer der 99 Namen und damit eine der Eigenschaften Gottes und wird als Synonym für »Allah« zu einem göttlichen Prinzip erhoben. Frieden ist immer zu bevorzugen, und so fordert Allah im Koran dazu auf, vom Krieg abzulassen, wenn der Gegner Frieden anbietet: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Allah. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allwissende.“ (8:61)

Der Koran schreibt den Muslimen überdies einen friedlichen Umgang mit Andersgläubigen vor, insbesondere mit den »Völkern der Schrift« (Ahl al-kitab), namentlich Juden und Christen, mit welchen Muslime auch Ehen schließen und das von ihnen geschächtete Fleisch verzehren können (Koran 5:5). Grundsätzlich gilt für den Umgang mit allen Menschen das Prinzip, mit ihnen „gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren“, wie es Vers 60:8 vorschreibt.

Das islamische Friedenspotential ergibt sich nicht zuletzt aus der religiösen Pflicht zur Vertragseinhaltung. Auf diesem Wege regelt die islamische Rechtswissenschaft Beziehungen zu anderen Staaten und Nationen, und die entsprechende Begrifflichkeit lässt sich durchaus dem modernen Völkerrecht zuordnen (Rohe 2011, S. 147). Grundlage für das islamische Völkerrecht sind insbesondere Friedensabkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen sowie Bündnisse, wie sie bereits der Prophet Muhammad vorlebte.

Exemplarisch steht dafür der Friedensvertrag von Hudaybiyya aus dem Jahre 628. Muhammad beschloss, mit den Muslimen von Medina in die bis dato verfeindete Stadt Mekka zu reisen, um an der Kaaba das Pilgerritual zu verrichten. Die Mekkaner verweigerten den Muslimen jedoch den Zugang zur Stadt. Die beiden Seiten lösten das Problem mit einem Friedensvertrag, in dem ein zehnjähriger Waffenstillstand vereinbart wurde. Der Vertrag sah vor, dass die Muslime ihre Pilgerfahrt auf das nächste Jahr verschieben. Sollten während dieser Zeit oder darüber hinaus Mekkaner zu den Muslimen überlaufen, verpflichtete sich Muhammad, diese flüchtigen Personen wieder auszuliefern. Im umgekehrten Fall jedoch, sollte ein Muslim nach Mekka fliehen, müsse dieser nicht wieder zurück geschickt werden. Diesen von Muhammad unterzeichneten Vertrag werteten seine eigenen Anhänger als Niederlage, und er sorgte bei vielen Muslimen für Unverständnis, sollten doch neue Anhänger des Islam dem Feind ausgeliefert werden. Der Prophet setzte jedoch auf Diplomatie.

Diese flexible und offene Verhandlungsbereitschaft Muhammads dient vielen Muslimen als Vorbild und liefert bis heute in zahlreichen alltäglichen Fragen die Grundlage zur Erhaltung oder Schaffung von Frieden.

Literatur

Crow, C.D. (2013): The Concept of Peace/Secur­ity (Salm) in Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 250-268.

Dagli, C. (2013) : Jihad and the Islamic Law of War. In: bin Muhammad 2013, S. 56-98.

Dakake, D. (2013): The Myth of A Militant Islam. In: bin Muhammad 2013, S. 99-131.

bin Muhammad, G. (ed.) (2013): War and Peace in Islam – The Use and Abuse of Jihad. Cambridge: The Islamic Texts Society.

an-Nawawi, I. (1999): Riyad us-salihin – Gärten der Tugendhaften. München: Dar-u-Salam, Band I, S. 99.

Rohe, M. (2011): Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

as-Sanani, M. 2011): At-tanwir scharh al-jami as-saghir. Band II, S. 549, Riad.

Elhakam Sukhni ist Islamwissenschaftler und Völkerrechtler und beschäftigt sich in seiner Doktorarbeit mit den ideologischen Grundlagen dschihadistischer Gruppierungen. Er lehrte u.a. an den Universitäten Osnabrück, Köln und Krems. Zurzeit arbeitet er für die Stadt Wuppertal in der Extremismus-Prävention und Deradikalisierung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/3 Politischer Islam, Seite 31–32