(K)Ein Frieden mit der »Natur«?
Zum anthropozentrischen Frieden der kolonialen Moderne
von Juliana Krohn
Spielt das, was in der kolonialen Moderne »Natur« genannt wird, in der Friedens- und Konfliktforschung eine Rolle, dann geht es vor allem um Ressourcenkonflikte, Landkonflikte, humanitäre Krisen infolge von Naturkatastrophen oder zunehmend auch um die Klimakrise als Bedrohung für Frieden und Sicherheit. Dahinter stehen gesellschaftliche Naturverhältnisse und Friedensverständnisse, in denen »Natur« als Ressource umgedeutet und Frieden als Zustand oder Prozess begriffen wird, der lediglich zwischen Menschen oder zwischen menschengemachten Gebilden wie Staaten bestehen kann. Mit dekolonialen Theorien lassen sich die moralisch-anthropozentrische Ausrichtung vorherrschender Friedensverständnisse hinterfragen und alternative Deutungsangebote aufzeigen.
Die Art und Weise, wie über nicht-menschliche »Natur« in dominanten, eurozentrischen Wissenssystemen (nach-)gedacht, wie sie erforscht und wie sie konzipiert wird, beruht auf einem spezifischen Verständnis, das Menschen als getrennt von ihrer natürlichen Umwelt begreift. Die Konzipierung von und das Verhältnis zur »Natur« ist dabei eingebettet in Macht, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse, die dem historischen Kontext des europäischen Kolonialismus und transatlantischen Versklavungshandels entspringen und in Form kolonialer Kontinuitäten bis heute fortwirken. Dekoloniale Theoretiker*innen prägten den Begriff der Kolonialität, um die aus dem Kolonialismus hervorgehenden, bis heute andauernden Strukturen zu beschreiben, die „Kultur, Arbeit, intersubjektive Beziehungen, und Wissensproduktion“ (Maldonado-Torres 2007, S. 243) und damit auch gesellschaftliche Naturverhältnisse immer noch bestimmen und die koloniale Moderne ausmachen. Besonders deutlich wird dies in der »Kolonialität der Macht«, die auf dem Zusammenwirken der Idee von race, kapitalistischer Arbeitsteilung (Quijano 2000) und einem binären, heteronormativen Geschlechtersystem (Lugones 2016) beruht.
»Natur« in der kolonialen Imagination
Die in der kolonialen Moderne dominierenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse sind geprägt von universalisierenden und homogenisierenden Konzeptionen von »Mensch« und »Natur« und einem von Ausbeutungslogiken durchzogenen, auf Herrschaft, Gewalt und Differenz beruhenden Verhältnis zueinander. Héctor Alimonda (2019) beschreibt die Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auf Natur mit dem Konzept der »Kolonialität der Natur«, die sich auf zwei Ebenen zeigt: zum einen auf der Ebene der „bio-physikalischen Realität“ der gewaltvoll veränderten Naturräume, zum anderen auf der Ebene der „soziokulturellen Dynamiken“, die gesellschaftliche Naturverhältnisse prägen (Alimonda 2019, S. 103). Tagebau, monokulturelle landwirtschaftliche Praktiken, das Einschleppen fremder Arten und die damit einhergehende Zerstörung der Biodiversität sowie die dafür notwendige Aufteilung, Enteignung und Aneignung von indigenen Territorien haben Naturräume unwiederbringlich zerstört oder verändert. Gleichzeitig haben sie die dominante Art und Weise geprägt, wie Beziehungen zur »Natur« gelebt werden (können) und wie »Natur« in der kolonialen Moderne (neu) gedacht wird (vgl. Alimonda 2019). Die mit dem europäischen Kolonialismus und dem transatlantischen Versklavungshandel einhergehende Aneignung und Unterwerfung von Naturräumen ist konstitutiv für das koloniale Projekt und den modernen Kapitalismus und eng verwoben mit Gewalt gegen People of Color und gegen indigene Menschen, wie Leanne Betasamosake Simpson (2020) beschreibt:
„Denn das, was die Kolonisatoren eigentlich immer herauszufinden versuchten, ist ‚Wie gewinnt man natürliche Ressourcen aus dem Land, wenn die Menschen, auf deren Territorium man sich befindet, glauben, dass diese Pflanzen, Tiere und Mineralien eine Seele und daher auch Handlungsmacht haben?‘ Die Antwort ist ähnlich: Man nutzt geschlechtsspezifische Gewalt, um indigene Menschen und ihre Nachkommen von ihrem Land zu entfernen, man entzieht den Pflanzen- und Tierwelten Handlungsmacht und man deutet aki (das Land) als ‚natürliche Ressource‘ für den Gebrauch und die Besserstellung weißer Menschen um.“ (Betasamosake Simpson 2020, o.S.)
Diese durch die Kolonisierung verursachte Disruption indigener Beziehungen zur »Natur«, zum Land, „stellt eine tiefgreifende epistemische, ontologische, kosmologische Gewalt dar“, also Gewalt gegen ihre Erkenntnisweisen, Seinsweisen und Kosmologien (Tuck und Yang 2012, S. 5). Aus den für die Unterwerfung und Ausbeutung von Land und Menschen notwendigen Praktiken sowie den intellektuellen Manövern ihrer Legitimation entstand eine spezifische Ontologie, in der Land, Pflanzen und Tiere als unbeseelte und unbelebte Materie ohne Handlungsmacht verstanden werden, deren Wert allein von ihrer Verwertbarkeit, beziehungsweise Inwertsetzung durch menschliche Arbeit abhängt (vgl. Kolers 2009). An die Stelle relationaler Verhältnisse tritt dabei ein von kapitalistischen Ausbeutungslogiken geprägtes, moralisch-anthropozentrisches Verhältnis.1 Malcom Ferdinand (2022) spricht in diesem Kontext von einem durch den europäischen Kolonialismus ausgelösten doppelten Bruch, der Hierarchien zwischen Menschen und zwischen Menschen und Umwelt zum Teil festigt, zum Teil zuallererst mit hervorbringt. Dieser doppelte Bruch trennt die Kolonialgeschichte der Welt von ihrer Umweltgeschichte, was sich unter anderem in der Kluft zwischen überwiegend weißen Umweltbewegungen und postkolonialen und antirassistischen sozialen Bewegungen zeigt (Ferdinand 2022, S. 3) – eine Spaltung, die erst langsam – beispielsweise durch Klimagerechtigkeitsbewegungen – überbrückt wird.
Dieser doppelte Bruch wird auch in kolonialen, rassistischen Zuschreibungen wie Naturnähe oder -verbundenheit als Eigenschaft der Kolonisierten sichtbar, die hinter der vermeintlichen europäischen Zivilisiertheit, die sich auch durch die Beherrschung der »Natur« auszeichnet, zurückstehen. Sie werden so als nicht der (kolonialen) Moderne zugehörig markiert und durch diese „Verweigerung der Gleichzeitigkeit“ (Fabian 2014, S. 173) in einem linearen Zeitverständnis zusammen mit dem Kolonialismus und der mit ihm einhergehenden Gewalt der Sphäre der Vergangenheit zugeordnet. Der doppelte Bruch zeigt sich konkret auch in gängigen Naturschutz-Strategien wie dem Errichten von Naturschutzgebieten, die auf kolonialen Imaginationen einer unberührten, wilden »Natur« fußen, die vor allen Menschen geschützt werden muss, was oft mit der gewaltsamen Vertreibung indigener Menschen aus Naturschutzgebieten einhergeht.
Der moralische Anthropozentrismus modern-liberaler Frieden
Dieser doppelte Bruch ging und geht auch mit epistemischer Gewalt (ausführlich: Brunner 2020), mit dem Auslöschen anderer Wissensbestände, einher und hat so erhebliche Auswirkungen auf die Konzeptualisierung moderner Friedensverständnisse: „Das eurozentrische Friedenskonzept ist eine Strategie der epistemischen Gewalt insofern als dass es das System und die koloniale Machtstruktur dadurch reproduziert, dass es mit der Art und Weise verknüpft ist, wie Wissen von der modernen Wissenschaft produziert wird; d.h. als geographische Verortung von Wissen, oder durch die Bekräftigung, dass Frieden epistemisch gesehen nur dann Geltung hat, wenn er die im Globalen Norden entsprungenen Werte, Praktiken und Wissen repräsentiert.“ (Cruz 2021, S. 279)
Auch die Genese des in Theorie wie Praxis trotz vielfacher Kritik immer noch vorherrschenden eurozentrischen, modern-liberalen Friedensbegriffs (vgl. Richmond 2011) lässt sich also mit dekolonialen Theorien im Kontext des europäischen Kolonialismus verorten. Das in kolonialen gesellschaftlichen Naturverhältnissen vorherrschende, von Dominanz und Herrschaft geprägte Verhältnis zur »Natur« zeigt sich im moralischen Anthropozentrismus modern-liberaler Friedensverständnisse2, durch den Friedensbemühungen allein Menschen betreffen. Frieden gibt es in einem solchen Verständnis nur auf der Erde, nicht mit ihr, da der Erde als unbelebter Materie kein Eigenwert unabhängig vom Nutzen für Menschen zukommt. Wie eingangs erwähnt, spielt »Natur« in einem solchen Verständnis dann nur eine Rolle, wenn durch oder um sie Konflikte entstehen, die zur Bedrohung für Sicherheit und Frieden von Menschen werden. Damit liegt der Fokus allerdings lediglich auf den Folgen nicht-nachhaltiger, konfliktiver und mithin gewaltvoller gesellschaftlicher Naturverhältnisse, was den Blick auf ihre Ursachen verstellt.
Eine solche unterschiedliche Schwerpunktsetzung hat erhebliche Auswirkungen auf davon abgeleitete Forschungsprojekte, die Entwicklung von Konflikttransformationsansätzen oder das Entwerfen von Policies. Bleiben diese einem moralisch-anthropozentrischen, kolonialen Paradigma verhaftet, laufen sie Gefahr eben jene kolonialen Kontinuitäten sowie die damit einhergehende Gewalt zu reproduzieren, die zu den konfliktiven gesellschaftlichen Naturverhältnissen zuallererst geführt haben. Konkret werden die Folgen aktuell beispielsweise in der politischen, medialen und wissenschaftlichen Fokussierung auf den Krieg in der Ukraine deutlich, die das Thema Klima- und Biodiversitätskrise verdrängt und verdeutlicht, dass Klima- und Artenschutz und die Bewältigung anderer (globaler) Krisen häufig nicht zusammengedacht, sondern vor dem Hintergrund eines moralisch-anthropozentrischen Paradigmas immer wieder vor allem auch politisch gegeneinander ausgespielt werden können. Die Verwobenheit dieser Krisendimensionen gerät so aus dem Blick.
Jenseits der kolonialen Moderne?
Mit der unter anderem durch dekoloniale Perspektiven aufgeworfenen Kritik eines kolonialen, von Dominanz und Trennung geprägten Verhältnisses zur »Natur«, steht dann die Frage im Raum, welche Möglichkeiten es gibt, »Natur« nicht mehr allein von ihrem Wert für Menschen her zu denken. Vor dem Hintergrund der allumfassenden planetaren Krise wird die Hinterfragung gängiger Paradigmen wie dem des moralischen Anthropozentrismus nicht nur in der Friedens- und Konfliktforschung immer drängender. In diesem Kontext geht es inzwischen nämlich auch um Vorbereitungen auf das „Ende der Welt, wie wir sie kennen“ auf eine produktive, nicht destruktive Art und Weise (Stein et al. 2022, S. 280).
Dekoloniale und indigene Theorien verweisen in diesem Kontext auf die Notwendigkeit von (Verlern-)Prozessen, die eine Dezentrierung vom Menschen mit sich bringen. Sie zeigen die Möglichkeit einer Re-Positionierung von Menschen als Teile einer von vielen Arten in verwandtschaftlichen Beziehungen geteilten Welt auf und ermöglichen damit die Anerkennung der Handlungsmacht nicht-menschlicher Lebewesen. So bieten sie die Chance einer fundamentalen Infragestellung dominanter gesellschaftlicher Naturverhältnisse als Grundlage ihrer Transformation im Kontext der kolonialen Moderne. Gleichzeitig birgt die Suche nach Alternativen zu kolonialen gesellschaftlichen Naturverhältnissen auch die Gefahr einer Romantisierung oder Essentialisierung indigenen oder lokalen Wissens, um die es aber bei Dekolonisierungsprozessen nicht geht. Vielmehr steht der Prozess einer Transformation kolonialer Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse im Vordergrund, die eine Vielzahl anderer gesellschaftlicher Naturverhältnisse denkbar und lebbar werden lassen.
Jenseits eines rein technologisch gedachten Klimaschutzes ermöglicht es eine Hinterfragung dieser Paradigmen, andere Lösungen aufzuzeigen beziehungsweise zuallererst denkbar werden zu lassen, die die Verflechtung von Klima- und Biodiversitätskrise mit Kolonialität und Kapitalismus in Verbindung bringen und Konzepte wie Klimagerechtigkeit als handlungsleitendes Moment zentrieren. In diesem Kontext Frieden zu dekolonisieren, bedarf notwendigerweise auch der Einbeziehung gesellschaftlicher Naturverhältnisse und der Zentrierung anderer Verständnisse von »Land«, anderer vielfältiger Ontologien, die den von Herrschaft geprägten Verhältnissen zur »Natur« der kolonialen Moderne auf Relationalität beruhende Verhältnisse entgegensetzen, beziehungsweise diese im Sinne einer Pluriversalisierung3 ermöglichen.
In Bezug auf postkoloniale Kritik verweist Gutiérrez Rodríguez (2010) darauf, dass Kritik zu bloßer Rhetorik wird, „wenn sie Ideen von Praktiken trennt und ihr Endziel im Umformulieren von Konzepten statt der Transformation institutioneller Praktiken findet“ (Gutiérrez Rodríguez 2010, S. 49). Eine Auseinandersetzung mit der von post- und dekolonialen Theorien auch an die Friedens- und Konfliktforschung sowie die praktische Friedensarbeit herangetragenen Kritik kann sich also nicht allein auf Theoriearbeit in Form einer Hinterfragung eines moralisch-anthropozentrischen Friedensbegriffs beschränken, sondern ist aufgefordert, diejenigen Strukturen und Praktiken transformieren zu helfen, die zu einem solchen Verständnis von Frieden geführt haben, bzw. es in Theorie wie Praxis perpetuieren.
Anmerkungen
1) Der Begriff moralischer oder auch normativer Anthropozentrismus verweist auf Positionen, die nicht-menschlichen Wesen keinen oder einen geringeren Wert als Menschen beimessen. Epistemischer Anthropozentrismus verdeutlicht hingegen, dass menschliche Erkenntnisse über die Welt nur von einem menschlichen Standpunkt aus gewonnen werden können (vgl. Borchers 2018).
2) Der moralische Anthropozentrismus betrifft dabei auch die Konzeptualisierung von Gewalt- und Konfliktverständnissen, die ebenso als rein menschliche Angelegenheit verstanden werden und erst langsam, etwa im Kontext der Debatten um Ökozid, erweitert werden.
3) Pluriversalisierung verweist auf eine Welt, in der viele Welten möglich sind. Es geht also nicht um eine Pluralisierung unter dem universalisierten Dach der kolonialen Moderne, sondern um eine onto-epistemologische Vielfalt von Lebens- und Seinsweisen (vgl. Escobar 2020).
Literatur
Alimonda, H. (2019): The coloniality of nature. An approach to Latin American political ecology. Alternautas 6(1), S. 102-142.
Borchers, D. (2018): Anthropozentrismus. In: Ach, J.; Borchers, D. (Hrsg.): Handbuch Tierethik. Grundlagen, Kontexte, Perspektiven. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 143-148.
Brunner, C. (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript.
Cruz, J. D. (2021): Colonial power and decolonial peace. Peacebuilding 9(3), S. 274-288.
Escobar, A. (2020): Pluriversal politics. The real and the possible. Durham und London: Duke University Press.
Fabian, J. (2014): Time & the other. How anthropology makes its object. New York: Columbia University Press.
Ferdinand, M. (2022): Decolonial ecology. Thinking from the Caribbean world. Cambridge: polity press.
Gutiérrez Rodríguez, E. (2010): Decolonizing postcolonial rhetoric. In: Gutiérrez Rodríguez, E.; Boatcă, M.; Costa, S. (Hrsg.): Decolonizing European sociology. Transdisciplinary approaches. Farnham: Ashgate, S. 49-67.
Kolers, A. (2009): Land, conflict, and justice: A political theory of territory. Cambridge: Cambridge University Press.
Lugones, M. (2016): The coloniality of gender. In: Harcourt, W. (Hrsg.): The Palgrave handbook of gender and development. London: Palgrave Macmillan, S. 13-33.
Maldonado-Torres, N. (2007): On the coloniality of being. Contributions to the development of a concept. Cultural Studies 21(2-3), S. 240-270.
Quijano, A. (2000): Coloniality of power, eurocentrism and Latin America. Nepantla: Views from the South 1(3), S. 533-580.
Richmond, O. (2011): A post-liberal peace. London: Routledge.
Simpson, L. B. (2020): Not murdered, not missing: Rebelling against colonial gender violence. Blogpost, Verso Books. 24.3.2020.
Stein, S.; Andreotti, V.; Suša, R.; Ahenakew, C.; Čajková, T. (2022): From “education for sustainable development” to “education for the end of the world as we know it”. Educational Philosophy and Theory 54(3), S. 274-287.
Tuck, E.; Yang, W. (2012): Decolonization is not a metaphor. Decolonization: Indigeneity, Education and Society 1(1), S. 1-40.
Juliana Krohn ist Universitätsassistentin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck und Koordinatorin des Doktoratskollegs »Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung«. Zusammen mit María Cárdenas ist sie Sprecherin des Arbeitskreises »Herrschaftskritische Friedensforschung« der AFK.