W&F 2011/4

Kein Frieden ohne Frauen in Afghanistan

von Monika Hauser

Zehn Jahre werden im Dezember vergangen sein, wenn nach der ersten Afghanistankonferenz auf dem Petersberg in Bonn 2001 afghanische und internationale PolitikerInnen erneut zusammenkommen, um über das Schicksal Afghanistans zu entscheiden. Viel hat die internationale Gemeinschaft in das Land investiert – Hoffnung, Kraft, Wissen, militärisches Engagement und reichlich Geld –, doch noch immer befindet es sich im Krieg. Derzeit ist ein Ende der Gewaltspirale – Kampf gegen Aufständische auf der einen und die Zunahme terroristischer Anschläge auf der anderen Seite – nicht in Sicht.

Von der Aufbruchstimmung nach dem Fall der Taliban ist derzeit nicht mehr viel zu spüren, vielmehr dominieren Unsicherheit, Frustration und Bitterkeit. Zu viele Fehler haben die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung in den vergangenen Jahren gemacht. Ein ganz wesentlicher: Die fehlende Einbeziehung afghanischer Frauen in den Friedens- und Wiederaufbauprozess des Landes. Zwar soll sich bei den Verhandlungen in Bonn im Dezember dieses Jahres die afghanische Delegation bis zu 25 Prozent aus Frauen zusammensetzen. Ob sie eine bestimmende Rolle im Prozess einnehmen werden, ist jedoch stark zu bezweifeln.

Obwohl der Militäreinsatz in Afghanistan immer wieder auch damit legitimiert wurde, afghanische Frauen aus ihrer Unterdrückung befreien zu wollen, sprach die Strategie der Waffen eine ganz andere Sprache. Aufstandsbekämpfung lautete die Devise, und nicht Schutz der Menschenrechte und Demokratieaufbau, von präventivem Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt ganz zu schweigen.

Chancen wurden vertan. Das über Jahrzehnte kriegsgeschüttelte und von Willkür und autoritäter Macht dominierte Land wurde nicht von den Vorteilen einer zivilen Gesellschaft überzeugt. Das Potenzial von Frauen, auf die Schaffung einer geschlechtergerechten Friedensgesellschaft hinzuwirken, wurde viel zu wenig genutzt. Anstelle dessen ging es den westlichen Strategen offensichtlich nur um ihre eigenen Interessen.

Wären 2001 die Hälfte der Konferenz-TeilnehmerInnen Frauen gewesen – anstelle von 95 Prozent Männer, einschließlich der Warlords, die die internationale Gemeinschaft sehenden Auges akzeptiert hatte –, dann sähe es heute in Afghanistan mit Sicherheit anders aus. Statt auf Waffen und Clanchefs zu setzen, hätten Frauen die Realitäten der Zivilbevölkerung im Blick gehabt: Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und der Zugang zu medizinischer Versorgung wären zu wichtigen Zielen geworden. Einige kompetente afghanische Frauen hätten Staatsgeschäfte übernehmen können.

Doch auch elf Jahre nach der Verabschiedung der UN-Resolution 1325, die unter anderem eine stärkere politische Mitbestimmung von Frauen fordert, sind die Afghaninnen weit entfernt von einer realen Beteiligung an der Friedens- und Sicherheitspolitik ihres Landes.

Entgegen der vollmundigen Behauptungen der NATO-Mächte ist die Lage von Mädchen und Frauen in Afghanistan ein Jahrzehnt nach dem 11. September und dem Beginn des NATO-Einsatzes katastrophal. Gab es kurz nach dem Fall der Taliban noch Hoffnung auf mehr Sicherheit und damit größere individuelle Freiheiten und ökonomische Verbesserung, so zeigt sich heute ein weit verbreitetes Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit.

Zwar sieht Artikel 22 der afghanischen Verfassung die Gleichberechtigung von Frauen und Männern vor dem Gesetz vor. In der Realität müssen Frauen und Mädchen jedoch täglich erleben, wie ihre verfassungsgemäßen Rechte mit Füßen getreten werden. Durch konservative und frauenfeindliche Rechtsprechung werden Frauen regelmäßig zu Unrecht angeklagt und verurteilt, wenn sie denn überhaupt einen Prozess bekommen.

Laut einem Bericht von UNIFEM (United Nations Development Fund for Women) werden 87 Prozent aller Frauen „regelmäßig geschlagen“. 80 Prozent aller Ehen werden unter Zwang geschlossen, die Hälfte der Ehefrauen ist bei der Heirat unter 16 Jahre alt. Dementsprechend hoch ist die Zahl der Risikoschwangerschaften und der Müttersterblichkeit. Vergewaltigungen sind laut UNAMA (UN Assistance Mission in Afghanistan) „in allen Teilen des Landes eine Alltagserscheinung“. Neben dieser Alltagsgewalt in den Familien wächst das Risiko für Frauen, die öffentlich um Gleichberechtigung und Demokratie kämpfen: Morde an Frauenrechtsaktivistinnen, Journalistinnen und weiblichen Parlamentsmitgliedern wurden in den vergangenen Jahren immer häufiger. „Ich lebe jeden Tag in Angst“, erklärte eine Mitarbeiterin einer internationalen Nichtregierungsorganisation (NRO) der Journalistin Ann Jones in einer Reportage zur Lage der afghanischen Frauen. Drei ihrer Kolleginnen wurden entführt, geschlagen, gefoltert und mit dem Tode bedroht, falls sie ihre Arbeit für die NRO fortsetzen würden.

Mit Präsident Karsais zweiter Amtszeit hat sich das Klima für Frauen weiter verschärft. So ist der seit 2010 amtierende Justizminister Habibullah Ghaleb, ein 71-jähriger islamischer Rechtsgelehrter, ein offener Gegner von Frauenrechten. Er fragte, wozu eine islamische Gesellschaft Frauenhäuser brauche, und schloss bereits zwei Zufluchten, die von der internationalen Gemeinschaft finanziert worden waren. Unter dem Vorwurf, Frauenhäuser seien Horte der Prostitution und Sittenlosigkeit, sollten gemäß einer neuen Verordnung die übrigen Schutzhäuser fortan unter strenger Kontrolle der Regierung stehen. Nur durch massiven Protest seitens afghanischer und internationaler Frauenrechtsgruppen, aber auch internationaler Regierungen, konnte die afghanische Regierung zum Einlenken bewegt werden.

Geradezu zynisch und absurd ist ein Erlass des obersten Gerichtshofes in Kabul, der für seine ultra-konservativen Richter bekannt ist. Demnach können Mädchen und Frauen, die – meist aufgrund von Gewalt und Zwangsehen – von Zuhause fliehen, künftig strafrechtlich verfolgt werden. Suchen sie Zuflucht bei Fremden, so auch in einem Frauenhaus, können sie gemäß der neuen Verordnung wegen Ehebruchs oder Prostitution verurteilt werden. Schutzsuchende werden auf diese Weise diffamiert und kriminalisiert – ein eklatanter Rückschritt in Sachen Frauenrechte!

Doch wie soll eine kollektiv traumatisierte Gesellschaft wie die afghanische sich demokratisch entwickeln können, wenn tagtäglich weitere Gewalt stattfindet? Wie soll eine Demokratie aufgebaut werden mit Männern, die Demokratiefeinde sind?

Fest steht: Der Aufbau einer tragfähigen Justiz und einer demokratisch ausgerichteten Polizei wie überhaupt von zivilgesellschaftlichen Strukturen und die Stärkung und Verankerung von Menschen- und Frauenrechten wurden sträflich versäumt. Jahrelang hat Präsident Karsai Familienangehörige und ehemalige Warlords mit Posten versorgt, statt in die Ausbildung von Staatsbeamten zu investieren, für die Menschenrechte und Demokratie keine leeren Worte sind.

Auch der beim NATO-Gipfel in Lissabon 2010 viel beschworene Strategiewechsel der Bündnispartner hin zu mehr zivilem Wiederaufbau ist nicht zu erkennen. Es bleibt die Grundhaltung der internationalen Gemeinschaft, dass Stabilität und Sicherheit ausschließlich über militärische Sicherheit definiert werden. Dabei bedeutet Sicherheit wesentlich mehr, als nur die Abwesenheit von militärischer Gewalt. So sind unter anderem der Schutz von Frauen vor (sexualisierter) Gewalt und ein funktionierendes Justizsystem elementar wichtig für den Aufbau und die Entstehung eines nachhaltigen Friedens. Was zudem fehlt, ist die Einsicht, dass das Wiedererstarken konservativer Kräfte in direktem Zusammenhang mit der weit verbreiteten Straflosigkeit und der mangelnden Gerechtigkeit für die einfache Bevölkerung steht. Dort, wo der Staat seine Verantwortung nicht wahrnimmt, insbesondere in abgelegenen, schwer zugänglichen Gebieten, treibt er die Menschen förmlich in die Arme der Taliban.

Auf der Afghanistankonferenz Anfang Dezember 2011 in Bonn sollen nun erstmals vorrangig zivile Aspekte des Afghanistan-Einsatzes behandelt und die Erfahrungen der ersten sechs Monate des als »Transition« bezeichneten Prozesses der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die AfghanInnen ausgewertet werden. Doch eine solche Auswertung greift zu kurz, wenn sich »Transition« nur auf die Übergabe der Verantwortung im militärischen Sinne, nicht aber auch auf den Staatsaufbau sowie den Aufbau eines tragfähigen Justizsystems bezieht.

Zu befürchten ist, dass sich an der Geringschätzung eines stabilen Justizsystems und eines auf Menschenrechten basierenden Staatswesens für die Stabilität Afghanistans auch weiterhin nichts ändern wird. In den vergangenen Wochen mussten afghanische Frauen sich immer wieder anhören, dass sie mit einem „negativen Frieden“ rechnen müssten, also damit, dass bestenfalls irgendwann die Waffen im Land endlich schweigen, Frauen- und Menschenrechte jedoch weiterhin mit Füssen getreten werden. Mit der „Übergabe in Verantwortung“ stiehlt sich die internationale Politik in einer Weise aus einer Affäre, die an Verantwortungslosigkeit nicht zu überbieten ist.

Trotz der für Frauen äußerst schwierigen Bedingungen hat sich in den vergangenen Jahren eine heterogene afghanische Frauenbewegung entwickelt, die sich von alltäglichen Bedrohungen nicht abhalten lässt, ihre eigenen Vorstellungen von Demokratie und Frieden zu formulieren. Bei einem Runden Tisch des Afghan Women Network Ende Juli konstatierten die Veranstalterinnen klar, dass es ohne eine erfolgreiche Versöhnung keinen erfolgreichen Übergangsprozess geben werde. Dabei kann und darf Versöhnung nicht allein heißen, dass ehemalige Taliban-Kämpfer in die afghanische Gesellschaft reintegriert werden, sondern muss auch ethnische Konflikte und die Unterdrückung afghanischer Frauen bei gleichzeitiger Aufarbeitung der Kriegsverbrechen thematisieren.

Klar ist: Ein dauerhafter Friede in Afghanistan wird nur dann eine reale Chance haben, wenn Frauen bei allen künftigen Friedensgesprächen mit am Tisch sitzen. Und klar ist auch: Bei der bevorstehenden Konferenz im alten Bundestag gehören Frauenrechte auf die Agenda. UN-Resolution 1325 betont, der Ausschluss von Frauen aus der Friedenspolitik bedeute ein Hindernis für den Frieden. Diese sicherheits- und friedenspolitische Relevanz der Resolution wird allerdings bis heute weitestgehend unterschätzt und ignoriert. Auch von den internationalen PolitikerInnen!

Die afghanische Bevölkerung, die mutigen afghanischen Aktivistinnen haben unsere aufrichtige und engagierte Solidarität weiterhin verdient. Jetzt, über die zweite Afghanistankonferenz in Bonn und über 2014 hinaus!

Monika Hauser ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied von medica mondial und Trägerin des Alternativen Nobelpreises 2008.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/4 »Arabellion«, Seite 5–6