W&F 2009/4

Keine NATO des Ostens

Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit als eurasisches Großprojekt

von Peter Linke

Alle Hoffnungen auf eine »multipolare Welt« haben sich bislang nicht erfüllt. Die Welt von heute ist eher »nicht-polar« (Richard Haass) – mit all den daraus resultierenden Gefahren für globale und regionale Sicherheitszusammenhänge. Verstärkt richtet sich daher das Augenmerk auf Strukturen, die einer multipolaren Welt potentiell Vorschub leisten. Dabei von besonderem Interesse: Die Neustrukturierung des postsowjetischen Raums, die Herausbildung verschiedener postsowjetischer »Subräume«, ihr Verhältnis zueinander, die Konstituierung regionaler und subregionaler politischer Kulturen im Spannungsfeld zwischen säkularer Krise und religiöser Wiedergeburt sowie die dabei zutage tretende Rolle externer Akteure.

Im postsowjetischen Raumkonglomerat tummeln sich inzwischen nicht wenige Organisationen: von der so genannten GUAM (gegründet 1997 durch Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan und Moldowa unter aktiver Mithilfe Washingtons) über die »Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit« (ODKB) – ein 2002 auf Initiative Moskaus aus der Taufe gehobener militärischer Beistandspakt, dem neben Russland Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan angehören – bis hin zur »Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EwrAsES), deren Gründungsvertrag 2000 im kasachischen Astana von Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan unterzeichnet wurde.

Die geostrategisch und geokulturell interessanteste Struktur ist und bleibt jedoch die »Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit« (russisch: SchOS).

Vorläufer der SchOS war die so genannte Schanghaier Fünfergruppe, deren Mitglieder China, Russland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan sich Mitte der neunziger Jahre in mehreren Abkommen zu „militärischer Vertrauensbildung und gegenseitiger Streitkräftereduzierung im grenznahen Raum“ verpflichtet hatten. Nach dem Beitritt Usbekistans konstituierte man sich 2001 zur SchOS. Hauptanliegen der neuen Organisation war „der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus, die Förderung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten, die Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region sowie die Etablierung einer neuen, demokratischen und gerechten Weltordnung.“1 2004 gewährte die Organisation der Mongolei und 2005 Indien, Pakistan und dem Iran den Status von Beobachtern und erweiterte damit ihren geopolitischen Spielraum um ein Vielfaches.

Neben diversen Gesprächsforen verfügt die SchOS über zwei ständige Organe: ein Sekretariat in Peking sowie eine »Regionale Antiterrorstruktur« in Taschkent. Deutlich verstärkt hat sich in den letzten Jahren die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SchOS, was insbesondere in diversen multilateralen »Antiterror-Manövern« zum Ausdruck kommt.

Doch auch wirtschaftspolitisch rückt man immer enger zusammen. Jüngstes Beispiel: die zwischen Moskau und Peking im April 2009 vereinbarten Maßnahmen zur gemeinsamen Entwicklung des Russischen Fernen Ostens.

Wohin die weitere Reise der Organisation gehen soll, machte der Kreml vor wenigen Wochen deutlich, als er im ostrussischen Jekaterinburg den inzwischen 9. SchOS-Gipfel elegant mit dem 1. BRIC-Gipfel2 verband.

Insbesondere US-Strategen taten sich zunächst schwer damit, die SchOS ernst zu nehmen, verspotteten sie als „widersprüchlichste Organisation der Gegenwart“, die versuche, zu umfassen, was sich nicht umfassen lasse, und daher eine „Todgeburt“ sei.3 Ein Sinneswandel setzte erst 2005 ein, als die geopolitischen Schwergewichte Indien und Iran Beobachterstatus erhielten: Während sich einige Analysten damit begnügten, die SchOS als anti-amerikanische Verschwörung zu verteufeln, die einzig und allein das Ziel verfolge, Washington den Stuhl vor die eurasische Tür zu stellen, versuchten andere, mit Hilfe alternativer Konzepte wie dem eines »Greater Middle East« oder einer »Greater Central Asia Partnership for Cooperation and Development« der SchOS geopolitisch den Wind aus den Segeln zu nehmen. Unterstützung fanden Letztere insbesondere unter japanischen Kollegen, die SchOS durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden und mit Vorschlägen wie dem einer »Eurasischen Interaktionsinitiative« danach trachteten, ihr eigenes Land sowie die USA und EU-Europa als »Dialogpartner« an die SchOS anzudocken. Mit Blick auf die Europäische Union ein durchaus kurioses Anliegen, zeigte sich diese doch an der neuen Struktur im Osten wenig interessiert. Ein Zustand, an dem sich bis heute wenig geändert hat.

Nüchtern betrachtet, ist die SchOS weder eine Todgeburt, noch eine Bedrohung für die »freie Welt«, sondern eine junge Organisation auf der Suche nach einem eigenständigen, unverwechselbaren Platz im künftigen transeurasischen Sicherheitsgefüge.

Eine »Organisation neuen Typs«

Laut Generaloberst Leonid Iwaschow, Präsident der Moskauer Akademie für geopolitische Probleme, strebt die SchOS als eine »Organisation neuen Typs« (Jewgenij Primakow) ein Sicherheitssystem an, das sich von dem der NATO, der ODKB und anderer militärischer Blöcke prinzipiell unterscheidet. Gleichzeitig bemühe sich die Organisation um ein eigenes Entwicklungsmodell, basierend auf einem System gemeinsamer, transzivilisatorischer Werte.

Dies sei besonders wichtig angesichts erheblicher Armut in vielen Mitgliedsländern sowie anhaltender ethnokonfessioneller Spannungen in der gesamten Region. Die SchOS brauche mehr als eine bloße Wachstumsideologie, sie brauche eine komplexe Entwicklungsstrategie, die die Veränderung der Wirtschaftstruktur in den einzelnen Mitgliedsstaaten zum Ziel habe und darauf orientiere, die Lebensqualität durch die Förderung von Kultur, Wissenschaft, Bildung sowie einer komfortablen Lebensweise bei gleichzeitiger Schonung der Natur nachhaltig zu verbessern.

Vor allem Russland mit seinen gewaltigen »Transformationsproblemen« habe dies frühzeitig erkannt. Es sei kein Zufall, so Iwaschow, dass gerade russische Diplomaten und Militärs bereits 1998 Kurs auf die Umwandlung der Schanghaier Fünfergruppe in eine stärker strukturierte Organisation genommen hätten. Dazu gedrängt habe sie eine zunehmend unipolare Weltordnung mit Hang zur Schaffung einer „Diktatur der militärischen Stärke“, aber auch die Dominanz liberaler Marktbeziehungen, in deren Folge die Zerrüttung der Weltwirtschaft, die Störung des globalen ökologischen Gleichgewichts sowie die Behinderung friedlichen zivilisatorischen Miteinanders eine neue, gefährliche Qualität angenommen hätten.

Einen Kontrapunkt habe man damals setzen, der individualistisch-konsumorientierten Gesellschaft des Westens eine Art Gegenentwurf präsentieren wollen: die Vision eines „zweiten Pols der Menschheit“, der aufgrund alternativer lebensphilosophischer Ansätze – basierend auf neuen Einsichten in das Verhältnis von Mensch und Natur sowie gemeinschaftsorientierten Wertmaßstäben – „harmonische Beziehungen zwischen Staaten und Zivilisationen“ aktiv befördere sowie ein „auf ausbalancierten Kräften und Potentialen fußendes Sicherheitssystem“ anstrebe.4 Mit der Gründung der SchOS habe man dieser Absicht erstmals praktisch Nachdruck verliehen. Die Suche nach einem komplexen Sicherheitsverständnis sei sehr schnell zum Markenzeichen der neuen Organisation geworden.

Russisch-chinesische Missverständnisse

Iwaschows Ausführungen verdeutlichen auf recht anschauliche Weise, welch gewaltige globalpolitischen Absichten russische Strategieplaner von Anfang an mit der SchOS verfolgten. Ein Ansatz, der aber von Strategieplanern anderer Mitgliedsländer, insbesondere Chinas, so nicht geteilt wird. Im Unterschied zu Russland war Chinas Engagement in der Organisation bislang eher taktischer Natur.

Seit Deng Xiaoping betrachtet Peking als zentrales Ziel seiner Außenpolitik, sich mit den entscheidenden internationalen Akteuren über eine (Neu-)Aufteilung der Welt in Interessen- und Verantwortungssphären zu verständigen, ohne dabei selbst eine globale Führungsrolle anzustreben oder (insbesondere gegenüber den USA) konfrontativ aufzutreten. Offiziell »Strategie der harmonischen Entwicklung« genannt, lässt dieser Ansatz letztlich wenig Raum für aktives globalpolitisches Engagement.

China weigere sich, Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Stabilität im Weltmaßstab zu übernehmen, begnüge sich mit stabilen Verhältnissen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, so Alexander Koltjukow, Chef des Instituts für Militärgeschichte des Russischen Verteidigungsministeriums. Der Weg dorthin führe aus Sicht der chinesischen Führung über die Anbindung der benachbarten Volkswirtschaften an die eigene Volkswirtschaft. Aus genau diesem Grunde verweigere sich Peking militärischen Blöcken oder wirtschaftlicher Integration nach dem Vorbild der EU; es bevorzuge, sämtliche politische und wirtschaftliche Fragen auf bilateraler Ebene zu klären.

Vor diesem Hintergrund sieht Koltjukow wesentliche Unterschiede im Herangehen Russlands und Chinas an mögliche Kooperationsformen im Rahmen der SchOS: Während Russland nach vertiefter Integration auf Grundlage einer teilweisen Delegierung staatlicher Souveränitätsrechte an supranationale Organe (etwa des ODKB oder der EwrAsES) strebe, weigere sich China, seine Souveränität mit irgendjemandem zu teilen. Pekings Interesse sei darauf gerichtet, gegenüber Moskau und Delhi eine Abgrenzung von Interessen- und Verantwortungssphären in der Region durchzusetzen. Russland freilich betrachte die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken längst als Sphäre seiner Interessen.

Zentralasiatische Schaukelpolitik

Die offensichtlichen Interessengegensätze zwischen Russland und China verführten die Zentralasiaten selbst zu einer teilweise abenteuerlichen Schaukelpolitik, von der letztlich, wenn überhaupt, nur Dritte profitieren würden. Koltjukow: „Die zentralasiatischen Republiken sind noch nicht lange genug souverän, um wirklich bereit zu sein, in supranationalen Strukturen mitzuarbeiten. Von gefestigten außenpolitischen Traditionen kann keine Rede sein. Noch suchen die Staaten der Region nach einem eigenständigen, das bestehende Kräftegewicht berücksichtigenden Entwicklungspfad. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Suche zur Aufkündigung der strategischen Partnerschaft mit Russland führt…“5

Moskaus Integrationsverheißungen irritieren viele zentralasiatische Entscheidungsträger, ist deren Durst nach Souveränität doch längst nicht gestillt. Gleichzeitig beunruhigt sie Pekings massive wirtschaftliche Expansion in die Region. Um zwischen Integrationsdruck einerseits und wirtschaftlicher Überfremdung anderseits nicht zerrieben zu werden, spielen sie nur allzu gern die US-Karte.

Gefährlicher Bilateralismus der »Beobachter«

Den Scharaden der Vollmitglieder skeptisch gegenüberstehend, konzentrieren sich die vier Beobachter bislang auf die Pflege bilateraler Kontakte, was die Organisation nicht wirklich voranbringt: Delhi versteht die SchOS vor allem als Vehikel, preiswerter als je zuvor an russische Waffen zu gelangen, seine militärpolitische Präsenz in Zentralasien zu festigen (etwa durch den Ausbau des Luftwaffenstützpunktes Ajni in Tadschikistan) sowie den Einfluss Pakistans in der Region möglichst klein zu halten. Islamabad versucht mit Hilfe der Organisation nicht nur, seine gravierenden Energieprobleme in den Griff zu bekommen, sondern auch Delhis wachsendes Engagement in und um Afghanistan zu konterkarieren. Teheran nutzt seinen Beobachterstatus, um seine sicherheitspolitischen Aktivitäten in der Region zu diversifizieren sowie bei fortgesetzter Frontstellung gegen Washington die Integration der Islamischen Republik in die Weltwirtschaft voranzutreiben. Ulan-Bator hofft, über die SchOS zusätzliche Mittel zur Entwicklung seiner Verkehrs- und sonstigen Infrastruktur akquirieren zu können, ohne dabei (erneut) in allzu große Abhängigkeit von Moskau oder Peking zu geraten.

Mangelnde Abstimmung zwischen den »SchOS-Lokomotiven« Russland und China, latentes Misstrauen der »Kleinen« (Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien) gegenüber den »Großen« (Russland, China, Kasachstan) sowie ein die Organisation überwuchernder Bilateralismus, insbesondere zwischen den »Kleinen« und den Beobachtern verhindern bislang die tatsächliche Etablierung der SchOS als »Organisation neuen Typs«.

Strategische Reserven

Nach Meinung vieler Beobachter handelt es sich bei den o.g. Differenzen im Wesentlichen um Kinderkrankheiten einer noch im Werden begriffenen Struktur. Diese zu überwinden sollte der SchOS perspektivisch möglich sein, wurde sie doch als ein Instrument praktischer Vertrauensbildung konzipiert.

Als solches kann die Organisation einen einzigartigen Beitrag zum Abbau gegenseitiger negativer Klischees (etwa im Verhältnis Russland-China) bzw. Feindbilder (insbesondere im indisch-pakistanischen Kontext), zur Förderung multilateraler Sicherheitsarrangements zwischen Vollmitgliedern und Beobachtern, zu effektiver wirtschaftlicher Kooperation und damit ultimativ zur räumlichen Neustrukturierung Transeurasiens mit erheblich gesteigerten geopolitischen Handlungsoptionen, insbesondere für die Staaten Zentralasiens (direkter Zugang zum Meer dank strategischer Infrastrukturprojekte mit Pakistan und dem Iran etc.) leisten.

Neuer Eurasismus

Auf diesem Wege könnte die SchOS tatsächlich zum Rückgrat eines alternativen eurasischen Sicherheitssystems werden, das transregionalen Verkehrsinfrastrukturprojekten ebenso viel Aufmerksamkeit entgegen bringt wie Initiativen zur nachhaltigen Bodennutzung oder kulturellen Selbstbehauptung. Damit würden sich der SchOS reale Handlungsoptionen weit über den eigenen, unmittelbaren Tätigkeitsrahmen hinaus eröffnen (Vernetzung mit OSZE, ASEAN/ARF etc.).

Die »eurasische Option« wird immer mehr zu einer Grundkonstante geopolitischen Denkens im postsowjetischen Raum. Bereits Mitte der 1990er Jahre trat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew mit der Idee einer Eurasischen Union an die Öffentlichkeit. Auch wenn Nasarbajews Ansatz im Kreml zunächst eher skeptisch gesehen wurde, stieß er bei russischen Geostrategen sofort auf offene Ohren: Russland als einzige Kontinentalmacht mit massiver Territorialpräsenz in Europa und Asien sowie mit mehr eurasischen Nachbarn als irgendein anderer Staat, so der bekannte Moskauer Militärhistoriker Wjatscheslaw Simonin, könne entscheidend zur Schaffung eines einheitlichen und universellen »Eurasischen Systems der Sicherheit, Zusammenarbeit und Entwicklung« (EASBSR) auf Grundlage existierender institutioneller und nichtstaatlicher Organisationen beitragen, wobei der OSZE, der SchOS, dem ASEAN-Regionalforum (ARF) sowie dem Asien-Europa-Treffen (ASEM) eine Schlüsselrolle zukomme.

Dass dem Kreml derartige Gedanken nicht gänzlich fremd sind, demonstrierte Wladimir Putin erstmals im Dezember 2001, als er auf einer Pressekonferenz mit kargen Worten umriss, was faktisch einem eurasischen Sicherheitssystem vom Atlantik bis zum Pazifik gleichkam.

Wie ein derartiges System praktisch-konkret aussehen könnte, beschreibt Jahre später der Petersburger Geograph Jurij Krupnow. Seiner Meinung nach besteht die wichtigste geopolitische und diplomatische Aufgabe Russlands in den nächsten zwanzig Jahren in der Umwandlung Zentralasiens und des Mittleren Ostens – von Kasachstan bis Nordindien und dem Persischen Golf – in eine prinzipiell neue Makroregion, die für Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung auf Grundlage beschleunigter Industrialisierung und systemischer Zusammenarbeit zwischen Russland, Indien, China, dem Iran, Afghanistan, Pakistan, der Mongolei, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisien, Tadschikistan, Aserbaidschan und der Türkei steht. Ausgangspunkt eines solchen Makroprojektes müsse die Schaffung eines einheitlichen geoökonomischen und geokulturellen Raums sein, der weder geopolitische Grenzziehungen, noch nationale geostrategische Egoismen kenne. Fern jeder Instrumentalisierung durch einzelne Länder könne eine solche Makroregion den Kern eines zentraleurasischen gemeinsamen Marktes sowie ein Dialogforum für die in der Region beheimateten Zivilisationen und Völker bilden.

Spätestens die von Krupnow vorgeschlagene Bezeichnung »Neuer Mittlerer Osten« (NSW) für die geplante Makroregion macht deutlich, dass sie nicht zuletzt als Antwort auf die US-Konzeption eines »Greater Middle East« gedacht ist. Sie darauf zu reduzieren, wäre jedoch grundfalsch. In Krupnows Ansatz widerspiegelt sich vor allem der Versuch, auf eine Reihe für Russland sehr realer Herausforderungen mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz zu reagieren:

Mobilisierung dringend benötigter externer Ressourcen für die Entwicklung des asiatischen Teils Russlands;

infrastrukturelle Entwicklung Sibiriens und des russischen Fernen Ostens, nicht zuletzt durch systematische Nutzung zentralasiatischer Arbeitskräfte;

Ausbau strategisch bedeutsamer Pipeline-Systeme und Transportkorridore, insbesondere durch enge Kooperation mit dem Iran;

nachhaltige Boden- und Wassernutzung, vor allem im sibirisch-zentralasiatischen Grenzgebiet;

Gewährleistung transregionaler Nahrungsmittelsicherheit;

Delegitimierung ethnischer Gewalt durch Kultivierung eines neuen Transkulturalismus.

Gesucht: Eine neue strategische Kultur

Insbesondere die letzten drei Herausforderungen bedingen einen Sicherheitsansatz, der weit über das hinausgeht, was gemeinhin als »vernetzte Sicherheit« bezeichnet wird. Ein solcher Ansatz müsste vor allem prophylaktischer Natur sein, was wiederum eine qualitativ neue strategische Kultur6 voraussetzt. Qualitativ neu bedeutet dabei nicht, das Militärische nachhaltig zu marginalisieren, sondern eher im Gesamtkoordinatensystem moderner sicherheitspolitischer Herausforderungen anders zu verorten.

Dem wiederum müsste ein neuer Gewaltbegriff zugrunde liegen, der dem zunehmend dualen Charakter moderner Waffensysteme ebenso Rechnung trägt, wie der wachsenden Komplexität von Mensch-Maschine-Systemen sowie praktischer künstlicher Intelligenz. Auf diesem Wege könnte ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Formierung einer neuen, die Grenzen zwischen militärischer und nichtmilitärischer Selbstbehauptung des Menschen aufhebenden Ethik für das heraufziehende posthumane Zeitalter geleistet werden. Ein ideales Betätigungsfeld für die SchOS, will sie tatsächlich eine »Organisation neuen Typs« sein.

Die SchOS als Wiege einer neuen transeurasischen Zivilisation, basierend auf einer neuen strategischen Kultur – eine ehrgeizige Vision, aber dennoch realistisch unter der Voraussetzung, dass sich die beiden »Lokomotiven« der Organisation endlich ihrer kollektiven Potenz bewusst werden.

Höchste Zeit, dass beide »Großen« gemeinsam und in enger Abstimmung mit den nicht ganz so Großen sowie allen Beobachtern über Grundbausteine einer neuen strategischen Kultur für den transeurasischen Raum nachdenken. Moskaus Entscheidung vom April 2009, der wirtschaftlichen Expansion Pekings in Russlands Fernen Osten sowie nach Zentralasien nicht länger im Weg zu stehen, kann durchaus als eine vertrauensbildende Maßnahme gelten, ist jedoch noch kein Schritt hin zu einer wirklich neuen strategischen Kultur.

Notwendig wäre eine gewaltige intellektuelle Anstrengung in Sachen eurasischer Idee jenseits aller Nationalismen. Ein komplexes Geschichtsbewusstsein, die genaue Kenntnis der weltlichen und religiösen Traditionen Eurasiens sind dafür ebenso Voraussetzung wie ein fundiertes Gespür für neue und neueste Trends in Wissenschaft und Gesellschaft.

Woran es der SchOS nach wie vor ermangelt, ist eine Art Grand Strategy, eine Vision, die den Menschen Transeurasiens eine gemeinsame Zukunft verheißt, ohne sie ihrer individuellen Vergangenheit zu berauben.

Chinas Vision für die SchOS, kritisiert der bekannte chinesische Geostratege Jia Qingguo, bleibe abstrakt und schlecht definiert, da das Land nicht in der Lage sei, einen konkreten Wertekatalog vorzulegen, der sowohl Chinesen als auch andere Völker in den Mitgliedstaaten der Organisation ansprechen würde. Die Schwäche der SchOS, resümiert Leonid Iwaschow, bestehe darin, dass sie über keinerlei fundamentale Theorie zur Beschreibung eines derartigen transzivilisatorischen Gebildes verfüge, über keinerlei formierte philosophische Weltanschaung, Konzeptionen und Algorhythmen zur Strukturierung dieses gewaltigen Raums. Es bleibt also viel zu tun!

Weiterführende Literatur

Lusjanin, Sergej (2007): Wostotschnaja Politika Wladimira Putina (Die Ostpolitik Wladimir Putins), Moskwa, Wostok-Sapad.

Zhao, Quansheng (1996): Interpreting Chinese Foreign Policy, Oxford University Press.

Anmerkungen

1) Siehe Erklärung über die Gründung der SchOS vom 15. Juni 2001 unter www.sectsco.org/RU/show.asp?id=83.

2) Informelle Verabredung zwischen Brasilien, Russland, Indien und China, „neue ökonomische Programme zu erarbeiten“ sowie „die internationalen Finanzbeziehungen zu reformieren.“ (Dmitrij Medwedjew).

3) Siehe z.B. Thomas Ambrosio (2005): Challenging America´s Global Preeminence: Russia´s Quest for Multipolarity, Aldershot: Ashgate, S.138.

4) Leonid Iwaschow (2007): SchOS i geopolititscheskije interesy Rossii w Jewrasii (Die SchOS und die geopolitischen Interessen Russlands in Eurasien), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa i jejo rol w sosdanii alternatiwnoj besopasnosti w Asii (Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit und ihre Rolle bei der Schaffung einer alternativen Sicherheitsarchitektur in Asien), Moskwa, ROPZ, S.22.

5) Alexander Koltjukow (2008): Wlijanije Schanchajskoj organisazii sotrudnitschestwa na raswitije i besopasnost Zentralno-Asiatskowo regiona (Der Einfluss der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit auf die Entwicklung und die Sicherheit der zentralasiatischen Region), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa – k nowym rubesham raswitija (Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit – auf zu neuen Entwicklungshorizonten), Moskwa, IDW, S.282.

6) Im Sinne einer Garnitur aus „gemeinschaftlichen Glaubenssätzen, Annahmen und Verhaltensweisen, abgeleitet aus gemeinsam gemachten Erfahrungen und allgemein akzeptierten Erzählungen (mündlicher wie schriftlicher Art), die kollektive Identität stiften, das Verhältnis zu anderen Gruppen prägen sowie von zentraler Bedeutung bei der Wahl angemessener Mittel und Wege zum Erreichen von Sicherheitszielen sind.“ Siehe Darryl Howlett (2006): The Future of Strategic Culture, Defense Threat Reduction Agency, Advanced Systems and Concepts Office, 31 October 2006, S.3.

Peter Linke leitet das Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2009/4 Russlands instabile Südflanke, Seite