Kolumbien:
Frieden in Gefahr?
von Philipp Naucke und Anika Oettler
Im kolumbianischen Wahljahr 2018 ist der Friedensprozess nur eines von vielen entscheidenden Themen. In einer Atmosphäre von Politikverdrossenheit und Indifferenz, die sich in einem hohen Grad an Wahlenthaltung widerspiegelt, sind Korruption, Bildungs- und Gesundheitspolitik sowie das Gefühl einer aufziehenden wirtschaftlichen Krise die Themen, die viele bewegen. Dies geht mit einer »Genderpanik« und der Furcht vor hunderttausenden Venezolaner*innen einher, die die dortige Krise im letzten Jahr über die Grenze getrieben hat.
In dieser Gemengelage ist der Friedensprozess lediglich eines von vielen polarisierenden Themen. Während Iván Duque, der Kandidat der rechtskonservativen Partei von Ex-Präsident Uribe, im Wahlkampf angekündigt hatte, Inhalte des Friedensvertrags mit der FARC zu revidieren und den aktuellen Verhandlungsprozess mit der ELN abzubrechen, standen sowohl der moderat linke Kandidat Gustavo Petro als auch die weniger aussichtsreichen Kandidaten Sergio Fajardo, Germán Vargas und Humberto de la Calle für eine Fortsetzung des Friedensprozesses.
Eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des Friedensvertrages zwischen der Regierung und der größten Guerillabewegung FARC hat sich auch auf der internationalen Ebene die Euphorie gelegt. Zeit für Ernüchterung? Kommt darauf an. Dieser Friedensprozess, in dem 7.000 FARC-Kämpfer*innen in Übergangszonen ihre Waffen abgaben, die FARC sich als politische Partei neu konstituierte und eine umfangreiche Übergangsjustiz ausgehandelt wurde, ist auch im internationalen Vergleich bemerkenswert. Dabei hinkt der Friedensprozess seinen eigenen Ansprüchen hinterher. Zwar gibt es signifikante Fortschritte bei der Erreichung kurzfristiger Ziele, aber im Hinblick auf ambitioniertere Ziele ist der Umsetzungsprozess schleppend. Dies betrifft neben der Frage von Sicherheiten und demokratischer Partizipation auch die Reduzierung des Drogenanbaus sowie die Landreform, die Übergangsjustiz und die Opferentschädigung.
Hinzu kommen Entwicklungen, die das Vertrauen der Bevölkerung in beide Vertragsparteien trüben: In den meisten Regionen, die die FARC verlassen hat, haben nicht staatliche Kräfte die Kontrolle übernommen, sondern illegale bewaffnete Gruppen, wie die Guerilla ELN und Neo-Paramilitärs. Der Prozess der sozialen Integration der demobilisierten FARC-Kämpfer*innen verläuft stockend. Das Land hat mehr als sieben Millionen Binnenvertriebene, und die Zahl steigt seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags deutlich. Auch hat die systematische Verfolgung sozialer Aktivist*innen dramatisch zugenommen: In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden bereits 46 Morde registriert. Der Fond für die Finanzierung der Friedensmaßnahmen steht unter Korruptionsverdacht. Gegen ehemalige FARC-Kommandant*innen wird wegen mutmaßlichen Drogenhandels ermittelt, und nicht zuletzt haben bewaffnete Aktionen beider Seiten den Verhandlungsprozess zwischen Regierung und ELN-Guerilla immer wieder torpediert.
Sind die Präsidentschaftswahlen ein Wendepunkt? In der jüngeren Landesgeschichte lösten Präsidentschaftswahlen immer ambivalente Entwicklungen aus. Die Wahl César Gavirias 1990 trug wesentlich zur Demobilisierung von fünf Guerillagruppen und zu einer modernen Verfassungsreform bei, aber zugleich stieg die Gewalt in einigen Landesteilen. Nach der Wahl Álvaro Uribes 2002 demobilisierten sich 36.000 paramilitärische Kämpfer*innen, ein Teil setzt aber die Aktivitäten bis heute fort. Zugleich waren es die Militäroffensiven, mit all ihren Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die die FARC zurückdrängten und ihre Verhandlungsbereitschaft erhöhten, als mit Juan Manuel Santos 2010 ein verhandlungsbereiter Präsident gewählt wurde. Auch bei der Stichwahl am 17. Juni geht es um die Fortsetzung des Friedensprozesses.
Unabhängig vom Wahlausgang und der nationalen Friedenspolitik ist vor allem entscheidend, wie der Vertrag in den einzelnen Regionen Kolumbiens umgesetzt wird. In diesen waren die Konfliktdynamiken immer schon höchst verschieden, und die aus legalen und illegalen, alten und neuen Akteuren bestehenden regionalen Eliten sind selten bereit, auf politischen Einfluss und ökonomische Privilegien zu verzichten.
Kolumbianische Friedensbewegungen weiter zu unterstützen und sub-nationale Prozesse (auch im internationalen Vergleich) zu begreifen, ist das Gebot der Stunde, denn hier liegt der Schlüssel für den Friedenprozess.
Anika Oettler, Professorin für Soziologie, und Philipp Naucke, Mitarbeiter der Kultur- und Sozialanthropologie, vertreten hier den Kolumbien-Schwerpunkt am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.