W&F 2019/4

Komponierbare Friedensproblematik?

von Dieter Senghaas

Der nachfolgende Beitrag zeigt auf, inwiefern Musik als Reflexion internationaler Beziehungen fungiert. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der »Friedensproblematik«. Damit erfasst der Text einen thematischen Aspekt, der in den Paradigmen der Internationalen Beziehungen bisher überraschend wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dieter Senghaas zeigt auf, welches Potential dabei klassischer Musik zuteil wird. Im friedenspolitischen Sinne kann klassische Musik vor Krieg warnen, aber auch Frieden erfahrbar gestalten.

Wer sich mit den internationalen Beziehungen beschäftigt, sieht sich einem breiten Spektrum politischer Konstellationen gegenüber: einerseits militant hochgerüsteten konfrontativen Machtlagen bzw. offenen Kriegssituationen, andererseits vielfältigen friedvoll-kooperativen Beziehungen. Erinnert sei an den Ost-West-Konflikt und demgegenüber an die einigermaßen zivilisierte Kooperation im Raum der nord- und der westeuro­päischen Staaten nach 1950/60. Bei Konstellationen zwischen den Endpunkten des Spektrums stellt sich immer die Frage, ob sich im konkreten Fall eine leidlich kooperative Konstellation herausbilden wird (Nordkorea-Südkorea?, USA-China?) oder eine sich militarisierend-kriegsgeneigte (Iran-Israel?, Indien-Pakistan?).

Historiker*innen, Philosoph*innen, Sozialwissenschaftler*inn und insbesondere Friedensforscher*innen beschäftigen sich mit diesen unterschiedlich gelagerten Konstellationen und den entsprechenden Friedensproblematiken in den internationalen Beziehungen. Erstaunlicherweise finden sich, insbesondere in der klassischen Musik, Kompositionen, die ausschnitthaft Problemlagen des genannten Spektrums musikalisch bearbeiten. Die Angebote sind vielfältig und eben nicht nur auf Frieden im engeren Sinne des Begriffes ausgerichtet, sondern auf die Friedensproblematik in aller Breite, wie sie in den internationalen Beziehungen zu beobachten ist.

Betrachten wir das Spektrum der Werk­angebote. Es gibt nur wenige Werke, in denen sich Vorahnungen über eine sich abzeichnende Katastrophe, den drohenden Krieg, andeuten. Der Krieg selbst ist natürlich vielfach Gegenstand von Kompositionen geworden: manchmal in unbeschwertem Sinne, früher oft in militaristischer Absicht, aber heute vor allem in Werken, die den Willen zum Frieden aktivieren wollen. Die Fürbitte um den Frieden und die Erwartung des Friedens im Krieg sind häufig Gegenstand von Kompositionen, auch der Dank für den wiedergewonnenen Frieden, allerdings in früheren Kompositionen nicht selten als Dank für gewonnene Siege. Im 20. Jahrhundert standen Kompositionen im Vordergrund, die sich durch einen Trauer- und Klagegestus auszeichnen. Der Krieg erscheint darin als menschenverachtend und inhuman. In dieser Zeit waren auch Anti-Kompositionen, also vor allem antimilitaristische Musik, die sich schon im 17. Jahrhundert im zeitlichen Umkreis des Dreißigjährigen Krieges auffinden lässt, besonders eindrucksvoll, ebenso Musik gegen Gewalt, Repression, Tyrannis, Not und Rassismus. Mit der positiven, konstruktiven oder gar affirmativen Darstellung des Friedens im engeren Sinne des Begriffes taten sich und tun sich Komponist*innen schwer, früher nicht anders als heute. Dieser Sachverhalt ist kein anderer als in Geistes- und Sozialwissenschaften, einschließlich der Friedensforschung.

Komponist*innen haben sich mit diesen friedenspolitischen Konstellationen auseinandergesetzt, und natürlich wollten sie dabei in aller Regel nicht nur ihre kompositorisch-ästhetischen Fähigkeiten dokumentieren, sondern vor allem warnend in den Gang der Geschichte eingreifen. Ob das gelungen ist, lässt sich nur im Einzelfall überprüfen. Aber unbezweifelbar sind Kompositionen der genannten Art auch friedenspädagogisch hilfreich, wenn sie nicht nur als Musikwerke gehört und betrachtet werden, sondern im Kontext breiter friedenspolitischer Fragestellungen dazu beitragen, das Sensorium für Friedensproblematiken zu schärfen. Olivier Messiaen, der französische Komponist, plädierte einmal dafür, nicht nur »Finsternismusik« zu komponieren, sondern »Farbenmusik«, die sich vermitteln würde wie sonnenbeschienen-vielfarbige Fenster in mittelalterlichen Kathedralen! Um das Sensorium für die Friedensproblematiken in den internationalen Beziehungen wachzurufen, sind jedoch beide Varianten von Kompositionen erforderlich, wie eindrucksvoll durch Beiträge in der neuzeitlichen Kompositionsgeschichte dokumentiert.

Literatur

Hanheide, S. (2007): Pace -Musik zwischen Krieg und Frieden. Kassel: Bärenreiter.

Lück, H.; Senghaas, D. (Hrsg.) (2005): Vom hörbaren Frieden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Lück, H.; Senghaas, D. (Hrsg.) (2010): Den Frieden komponieren? Mainz: Schott Music.

Senghaas, D (2001): Klänge des Friedens – Ein Hörbericht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Senghaas, D. (2013): Frieden hören – Musik, Klang und Töne in der Friedenspädagogik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

Dieter Senghaas ist emeritierter Professor für Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung an der Universität Bremen (1978-2005).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 34