W&F 2000/4

Konfliktprävention im türkischen Kurdenkonflikt

Chancen und Probleme

von Gülistan Gürbey

Obwohl die Türkei durch die Festnahme und Aburteilung Abdullah Öcalans einen entscheidenden strategischen Sieg errungen hat, scheint die türkische Staatselite diese Position der Stärke nicht für eine politische Neuorientierung und für Zugeständnisse an die KurdInnen zu nutzen. Ein kurzer Blick auf die innenpolitischen Kräfteverhältnisse zeigt, dass die Türkei auch heute noch zwischen dem unbeirrbaren Festhalten am ideologischen Dogma und den nur halbherzig gewollten Liberalisierungsversuchen schwankt. Eine Lockerung der zum Dogma erhobenen ideologischen Grundlagen des Staates konnte bisher nicht erreicht werden. Dies umfasst vor allem die offizielle Doktrin von der unteilbaren Einheit der türkischen Nation und ihres Staates, die eine institutionelle Anerkennung der kurdischen nationalen und kulturellen Identität nach wie vor verbietet.

Wie in der Vergangenheit bedeutet der ethnische und kulturelle Homogenisierungsanspruch für die KurdInnen auch heute noch eine umfassend und kontinuierlich umgesetzte Politik der zwangsweisen Assimilierung, d.h. Türkisierung. Tabuisierung, Verbot, politische und rechtliche Verfolgung, Vertreibung mit militärisch-staatlichen Repressionsmitteln waren und sind noch immer die Grundlagen dieser Politik.1 Dies ging und geht zugleich einher mit einer Verhinderung der Legalisierung von historisch gewachsenen kurdischen Autonomiebestrebungen. Höhepunkte dabei bilden vor allem die Verbote der prokurdischen Parteien HEP/DEP2 (und möglicherweise auch HADEP) und die Verhaftung und Verurteilung von legitimierten kurdischen Abgeordneten zu langjährigen Haftstrafen.

Der kurdische Widerstand gegen türkische Vormacht und ihre Politik ist nicht erst mit der PKK3 entstanden. Er reicht bis in die späten Phasen des Osmanischen Reiches hinein. In nicht weniger als 27 größeren und kleineren Aufständen prallten bis Ende der dreißiger Jahre der neue türkische Nationalismus und das erwachende kurdische Nationalbewusstsein aufeinander. Zur dauerhaften Unterbindung der Unruhen verfolgte der Staat ein umfassendes Programm der zwangsweisen Assimilierung der KurdInnen. Die forcierte Etablierung des türkischen Nationalverständnisses und die rücksichtslose Durchsetzung der Doktrin vom türkischen Einheitsstaat haben wesentlich zur Reifung der kurdisch-nationalen Identität im Widerstand gegen diese Politik beigetragen.

Ansatzpunkte für eine Annäherung der Kontrahenten

Grundlegende Interessendivergenzen kennzeichnen das Selbstverständnis der Konfliktparteien und ihre Grundeinstellungen zum Minderheitenschutz.4 Die Regierung der Türkei lehnt grundsätzlich Minderheitenschutz oder Autonomieregelungen ab, da sie den Konflikt als eine Bedrohung für die nationale und territoriale Integrität des Staates perzipiert. Lediglich tendenziell ist eine Bereitschaft hinsichtlich einer Lockerung im kulturellen Bereich und einer Kompetenzerweiterung lokaler Verwaltungen festzumachen. Diese ansatzweise Liberalisierung der Kurdenpolitik, die inzwischen von verschiedenen Regierungen und politischen Entscheidungsträgern (mit Ausnahme der rechtsextremen Nationalistischen Aktionspartei und des Militärs) vorsichtig zum Ausdruck gebracht wurde, hat seinen Ursprung in erster Linie in der späten Phase der Özalschen Ära. Die Ablehnung von Autonomieregelungen oder von Minderheitenschutz wird durch die Angst vor Sezession begründet.

Im Selbstverständnis der kurdischen AkteurInnen in der Türkei sind zwei maßgebliche Lager auszumachen: Die traditionell-konservativen Stämme lehnen zwar Sezession und Autonomieregelungen grundlegend ab, da sie dadurch eine deutliche Schwächung ihrer lokalen Machtposition befürchten. Der Gewährung von kulturellen Rechten stehen sie jedoch nicht entgegen. Die national-kurdischen Organisationen und Parteien (PKK, PSK5, DEP/HADEP) betrachten den Konflikt als eine nationale Frage, da die KurdInnen – bisher in einem zusammenhängenden Gebiet lebend – entgegen ihrem Willen auf verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt wurden. Die Grenzziehung habe sie zu künstlichen Minderheiten gemacht, wobei der Konflikt selbst nicht als eine Minderheitenfrage betrachtet werden könne. Entsprechend dieser Sichtweise wird die Lösung in der Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der Völker gesehen, wobei dieses nicht als einseitiger Anspruch auf die Gründung eines kurdischen Nationalstaates verstanden wird. Die Errichtung eines kurdischen Nationalstaates wird wegen der politischen Interessen- und Machtkonstellation in der Region als unrealistisch bewertet, so dass die Forderungen auf die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes innerhalb bestehender Staatsgrenzen konzentriert werden. Damit bildet die Forderung nach Autonomie den politischen Konsens zwischen den national-kurdischen Kräften, der auch die PKK einschließt. Die Form der Autonomie wird im einzelnen nicht konkretisiert. Die Ausführungen reichen von kulturellen Rechten über territoriale Autonomie bis hin zu konföderativen Modellen. Konkrete Forderungen betreffen dagegen die Einleitung sofortiger Schritte unter Einschluss der Gewährung von kultureller Autonomie, die den Krieg beenden, den Friedensprozess einleiten und die Atmosphäre für eine freie und offene Diskussion über eine weitergehende politische Autonomie schaffen sollen.

Trotz Interessendivergenzen gibt es dennoch »Schnittpunkte«, die mit externer Unterstützung der internationalen Organisationen und der BündnispartnerInnen möglicherweise eine Annäherung zwischen den Konfliktparteien bewirken können. Anknüpfungspunkte sind dabei auf der türkischen Seite die Bereitschaft zu Liberalisierungstendenzen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltungsebene und auf gesellschaftlicher Ebene die Forderungen nach Beendigung des Krieges, nach Demokratisierung und Umsetzung von kulturellen Rechten für die KurdInnen. Auf kurdischer Seite bestehen konkrete Forderungen, die eine sofortige Beendigung des Krieges und eine kulturelle Autonomie beinhalten. An diesen Schnittpunkt anknüpfend kommt es primär auf den Staat an, durch konkrete Maßnahmen den Weg für eine politische Lösung zu ebnen. Voraussetzung für die beidseitige militärische Deeskalation ist nach wie vor ein beidseitiger Gewaltverzicht und Waffenstillstand. Eine kombinierte Kurdenpolitik mit Bestandteilen einer Demilitarisierung der kurdischen Region (Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller anderen militärisch-polizeilichen Maßnahmen inklusive der Ermöglichung der Rücksiedlung ehemaliger BewohnerInnen und einer Generalamnestie), einer umfassenden Garantie der demokratischen Menschen- und Bürgerrechte sowie kulturelle Autonomie wären die ersten Schritte zu einer dauerhaften politischen Regelung. Diese Maßnahmen tangieren weder die staatliche Integrität noch die nationale Einheit des Landes. Sie würden lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und ihre Entwicklung fördern; zugleich bedeuten sie für die KurdInnen noch keinen Zugewinn an politischer Autonomie.

Externe Einwirkungsmöglichkeiten: Grundlagen des modernen Minderheitenschutzes

Grundlegendes Ziel des modernen Minderheitenschutzes6 ist der Schutz der Existenz und der Identität von Minderheiten. Nach wie vor überwiegt der individual-menschenrechtliche Ansatz: Es werden nicht die Gruppenrechte von Minderheiten geregelt, sondern die Individualrechte von Angehörigen der Minderheiten zur Pflege ihrer Kultur, zur Ausübung ihrer Religion und Nutzung ihrer Sprache. Der Minderheitenschutz weist trotz Fortentwicklung Defizite auf. So ist es z.B. noch nicht gelungen, sich auf eine völkerrechtlich verbindliche Definition des Minderheitenbegriffs zu einigen. Trotz dieses definitorischen Mangels erachten die internationalen Rechtsinstrumente die ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Merkmale, in denen sich die Minderheit von der Bevölkerungsmehrheit unterscheidet, als schützenswerte Güter. Dieser Umstand führt dazu, dass es jedem Staat selbst überlassen bleibt, welche seiner StaatsbürgerInnen er als Minderheit ansieht. Dies hat zur Folge, dass einige Staaten, vom Konzept eines einheitlichen Staatsvolkes ohne Ansehen der Ethnizität ausgehend, die Existenz von Minderheiten abstreiten, so z. B. die Türkei. Schließlich ist zu betonen, dass es keine Patentlösung für Minderheitenregelungen gibt. Es kommt darauf an, jeweils eine Einzelfalllösung zu finden.

Auf der Ebene der UNO ist das Selbstbestimmungsrecht (SBR) der Völker in der UN-Charta und in UN-Menschenrechtsdeklarationen verankert: Das Volk hat das Recht, seinen Status selbst zu bestimmen. Es muss bei der Wahrnehmung des SBR auf die Staatengemeinschaft Rücksicht nehmen. Es darf weder das Recht auf Eigenstaatlichkeit seitens des Volkes noch die territoriale Integrität durch die Staatengemeinschaft verabsolutiert werden. Art. 27 des »Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte« von 19667 geht auf die Minderheitenproblematik ein. Er formuliert zwar keine weitreichenden Gruppenrechte, enthält aber völkervertragsrechtliche Verpflichtungen für die Staaten auf diesem Gebiet. Die Staaten sind nur verpflichtet, die Wahrnehmung von Sprach-, Religions- und Kulturrechten für Minderheitenangehörige zu gewährleisten. Art. 27 schreibt den Staaten jedoch keinen Weg vor, wie die Minderheitenrechte zu gewährleisten sind. Einige Staaten entgehen den Verpflichtungen aus Art. 27, in dem sie die Existenz von Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet einfach leugnen, z. B. Türkei, Frankreich. Die UN-Minderheitendeklaration von 1992 fordert die Staaten auf, günstige Bedingungen zu schaffen, um Minderheiten die Entwicklung ihrer Kultur, Sprache, Religion zu ermöglichen. Mit der Deklaration wird die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen für Minderheiten grundsätzlich akzeptiert. Dennoch fehlt der Deklaration eine Rechtsverbindlichkeit und eine konkretere Ausgestaltung.

Auch europäische Initiativen im Rahmen des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) und der Europäischen Union (EU) widmen sich der Fortentwicklung des modernen Minderheitenschutzes. Das »Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« des Europarates (Februar 1998 in Kraft getreten) verpflichtet die Staaten, die darin festgelegten Grundsätze in nationales Recht zu übernehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die dem Schutz der Freiheitsrechte der Angehörigen von Minderheiten dienen: dem Schutz der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Den Vertragsstaaten wird auferlegt, die Bedingungen zur Erhaltung und Pflege der Identität der Minderheiten zu fördern. Dazu gehören Bestimmungen für die Bereiche Sprache, Erziehung und Unterricht. Auch hierbei überlässt das Rahmenübereinkommen den Vertragsstaaten, seinen Anwendungsbereich festzulegen. Die fehlende Minderheitendefinition lässt den Staaten freie Hand, selbst zu bestimmen, welche Gruppe als Minderheit angesehen wird. Sie haben somit einen weiten Spielraum bei der Durchführung des Vertrages. Neben dem Rahmenübereinkommen befasst sich die »Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen«, die im März 1998 in Kraft getreten ist, mit dem Minderheitenschutz. Die Türkei und Frankreich haben sie bisher nicht unterschrieben. Andererseits stellte der »Ausschuss für die Einhaltung der Verpflichtungen und Zusagen der Mitgliedsländer des Europarats« in seinem Türkei-Bericht im Januar 1999 fest, der wesentliche Punkt sei, dass die türkischen BürgerInnen kurdischer Herkunft über die Möglichkeit und die materiellen Mittel verfügen sollten, ihr eigene Sprache und ihre kulturellen Gepflogenheiten unter den Bedingungen und Voraussetzungen zu praktizieren und zu wahren, die in den oben genannten zwei wichtigen Konventionen des Europarats klar und angemessen definiert wurden. Auch die EU-Kommission verweist in ihrem Türkei-Bericht 1999 auf diesen Punkt.

Das Kopenhagener Dokument der OSZE vom 29. Juni 1990 stellt die Minderheitenproblematik in ihren wesentlichen Dimensionen dar und fordert für Minderheiten Diskriminierungsschutz und Minderheitenrecht. Das Dokument bedeutet die Herausbildung von gemeinsamen europäischen Standards des Minderheitenschutzes. Gefordert wird u. a. die Sicherung der Minderheitensprachen, die Bildung eigener Bildungs-, Kultur- und Religionseinrichtungen, Prinzip der Selbstverwaltung und Autonomie sowie spezifisches Vertretungsrecht im Parlament. Die Teilnehmerstaaten werden dazu verpflichtet, die Minderheitenrechte zu schützen, dem Prinzip der Gleichheit und Nichtdiskriminierung zu folgen, geeignete lokale und autonome Verwaltungen einzurichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten der Minderheiten Rechnung tragen. Gleichzeitig wird jedoch im Kopenhagener Dokument betont, dass sich diese Rechte lediglich auf staatsloyale Aktivitäten beziehen und keinen Widerspruch zum Prinzip der territorialen Integrität der Staaten darstellen. Die »Charta von Paris für ein neues Europa« der OSZE erwähnt das Recht nationaler Minderheiten, ihre Identität ohne jede Diskriminierung frei zu bekennen und weiterzuentwickeln. Im minderheitenrechtlich als Durchbruch anzusehenden Kopenhagener Dokument wird die Autonomie als Möglichkeit zum Minderheitenschutz herausgestellt. Die OSZE-Staaten räumen in ihrer Gesamtheit der Autonomie nicht den Status ein, der es Minderheiten gestatten würde, von einem Rechtsanspruch auf Autonomie auszugehen. Es heißt darin, dass die Teilnehmerstaaten die Bemühungen zur Kenntnis nehmen, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität bestimmter nationaler Minderheiten zu schützen und Bedingungen für ihre Förderung zu schaffen, indem sie als eine der Möglichkeiten zur Erreichung dieser Ziele geeignete lokale oder autonome Verwaltungen einrichten, die den spezifischen historischen und territorialen Gegebenheiten dieser Minderheiten Rechnung tragen und im Einklang mit der Politik des betreffenden Staates stehen. Bedeutsam ist aber, dass die Möglichkeit ausdrücklich betont wird, obwohl ein Konsens über die Angemessenheit derartiger Lösungen nicht besteht.

Der »Hohe Kommissar für Nationale Minderheiten« (HKNM) der OSZE hat die Hauptaufgabe der Konfliktverhütung. Er soll zum frühest möglichen Zeitpunkt Spannungen erkennen und zu ihrer Eindämmung beitragen und Frühwarnung an die OSZE-Gremien aussprechen. Das HKNM-Mandat ist begrenzt: Erstens durch Bezug auf nur solche Situationen, die die Sicherheit zwischen den Staaten gefährden, Situationen innerhalb der Staaten sind also nicht erfasst. Folglich werden Minderheiten ohne Titularnation vom Mandat nicht berücksichtigt; dies betrifft auch die KurdInnen oder die KorsInnen in Frankreich (Ausnahme: Roma und Sinti); Zweitens ist dem HKNM eine Befassung mit Situationen ausdrücklich untersagt, bei denen Akte von Terrorismus vorliegen (dies betraf bisher auch die KurdInnen). Der HKNM kann sich nur mit Minderheiten auseinandersetzen, die von den einzelnen Staaten als solche anerkannt werden.

Resümierend kann festgehalten werden, dass es bereits eine Reihe von Instrumenten zum Minderheitenschutz gibt, welche die Selbstbestimmung innerhalb eines Staates wahrzunehmen gestatten; eine rechtliche Absicherung von Minderheitenrechten gibt es aber bisher nicht. Verträge und politische Vereinbarungen bedürfen bei ihrer Umsetzung immer der Kooperationsbereitschaft der Staaten; die Durchsetzungsmechanismen sind schwach ausgebildet. Die Umsetzung von Rechtsnormen hängt vom politischen Willen der Staaten ab.

Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen den völkerrechtlichen Prinzipien der nationalstaatlichen Souveränität und der territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Geboten des Minderheitenschutzes, die in den Vereinbarungen zum Schutze von Minderheiten im Rahmen der UNO, der OSZE und des Europarates enthalten sind und die normalerweise Regelungen unterhalb der Sezession sind, konnte sich die Türkei bisher von der Bindewirkung dieser Bestimmungen weitgehend befreien, obwohl sie sich als Mitglied dieser Organisationen einem gemeinsamen Werte- und Handlungssystem unterworfen und sich zu dessen Schutz und Realisierung verpflichtet hat. Die Türkei vertritt in ihrem Vorbehalt die klassische türkische Auffassung, dass es rechtlich keine Minderheiten außerhalb der Regelungen des Lausanner Vertrages (JüdInnen, ArmenierInnen, GriechInnen) gebe.

Beitrag der EU, der OSZE und UNO zur friedlichen Konfliktbeilegung

Ansatzpunkte im Rahmen der UNO, der NATO, der OSZE, der EU und des Europarates für ein konstruktives Einwirken in Richtung auf eine deutliche Umorientierung der türkischen Kurdenpolitik sind bisher nicht konsequent aktiviert worden. Ohne ein konzertiertes und kontinuierliches externes Einwirken, das es bisher in dieser Form nicht gegeben hat, bestehen aber kaum Erfolgsaussichten auf einen Wandel in der türkischen Kurdenpolitik und auf eine friedliche Konfliktbeilegung. Vor dem Hintergrund des türkischen Sieges über die PKK einerseits und der Beendigung des bewaffneten Kampfes und der Friedensbemühungen durch die PKK andererseits sind konsequent gebündelte Friedensinitiativen durch das Zusammenwirken externer AkteurInnen notwendiger denn je.

Ein wichtiger Hebel für die Einflussnahme und konstruktive Hilfestellung liegt gegenwärtig in der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Nur durch eine an Bedingungen gekoppelte attraktive Beitrittsperspektive und Annäherungsstrategie der Türkei an die EU kann die EU Einfluss auf die türkischen Entscheidungsträger nehmen und friedensfördernd wirken. Dabei ist es aus verschiedenen Gründen notwendig, dass die EU über den Ad-hoc-Umgang mit der Kurdenfrage hinauskommt und ein umfassenderes Konzept dafür entwickelt, wie europäische Politik mit dem Problem umgehen soll. Nur eine europäische Strategie, die eine EU-Beitrittsperspektive für die Türkei klar und eindeutig formuliert und diese gleichzeitig an die Bereitschaft zur friedlichen Konfliktbeilegung und die Einleitung von konkreten Schritten zur Umsetzung von Menschenrechten und Minderheitenschutz konditioniert, ist erfolgversprechend.8 Dies setzt aber voraus, dass der Beitrittsprozess anhand eines detaillierten »road map« festgelegt wird, der die Kriterien, Pflichten und Aufgaben für beide Seiten definiert und zugleich Fortschritte im Beitrittsprozess an deren Erfüllung knüpft.

Ausschlaggebend ist dabei vor allem, dass die EU die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien durch Ankara inhaltlich definiert und konkretisiert und zeitliche Umsetzungsfristen vorgibt. Zur Erarbeitung und Koordinierung einer umfassenden Kurdenpolitik sollte die EU in Analogie zur »Balkan-Kontaktgruppe« eine ständige »KurdInnen Kontaktgruppe« einrichten und einen ständigen Gedankenaustausch mit Washington pflegen. Dabei ist angesichts des besonderen US-türkischen Verhältnisses vor allem ein koordiniertes Zusammenwirken mit den USA von zentraler Bedeutung, um ein einheitliches Auftreten gegenüber Ankara zu gewährleisten und damit einen nachhaltigen Druck ausüben zu können.

Auch die OSZE und die UNO sollten sich stärker als bisher für eine Vermittlung und Vertrauensbildung bereitstellen, z. B. durch die Entsendung von UN-BeobachterInnen, ständigen Fact-Finding Missionen und OSZE-Langzeitmissionen in die Region, durch die Ernennung einer/eines OSZE-Beauftragten für friedliche Konfliktbeilegung, durch intensive Dialogaufnahme und Förderung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Kräfte.

Resümee

Eine institutionelle Anerkennung der kurdischen Identität und Kultur ist conditio sine qua non auf dem Wege zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes. Zu einer flexibleren Kurdenpolitik gehört es vor allem, politische und rechtliche Schritte einzuleiten, die Wege für eine politische Repräsentation und Integration der KurdInnen öffnen, die Bedingungen für eine freie und offene Auseinandersetzung schaffen und auf mindestens sechs Ebenen eine kulturelle Autonomie aufzubauen, nämlich auf der Ebene der Sprache, der Präsenz im Medien- und Kulturbereich, im Bildungs- und Erziehungswesen, der Vereinigungsfreiheit, der politischen Repräsentation und der Selbstverwaltung. Die Gewährung von Rechten in diesen Bereichen würde weder die nationalstaatlichen Grenzen noch die unitäre Staatsstruktur tangieren, sondern lediglich die bestehende kurdische Parallelkultur legalisieren und an den gemeinsamen Schnittmengen zwischen den Haltungen der KurdInnen und Teilen der türkischen Politik und Gesellschaft über Vorstellungen von Regelungen im kulturellen Bereich und in der lokalen Verwaltung anknüpfen.

Mit der Entführung und Verurteilung des »Staatsfeindes Nr. 1« hat die Türkei zwar einen strategischen Sieg über die PKK erlangt, der Kurdenkonflikt existiert aber weiterhin und bedarf einer dringenden politischen Verregelung. Auch eine nachhaltige Schwächung bzw. Ausschaltung der PKK und der Verzicht der Organisation auf Gewalt würden keinen endgültigen Sieg des Staates bedeuten, solange ein Politikwechsel in der Kurdenfrage sich nicht vollzieht. Die kurdische Bevölkerungsgruppe ist zu groß, die internationale Wiederbelebung ethno-nationaler Politik zu umfassend und die Internationalisierung des Kurdenkonfliktes zu weit fortgeschritten, als dass der türkische Staat sich gegen kurdisch-nationale politische Strömungen isolieren und immunisieren könnte. Damit bliebe der Türkei der latente Unruheherd und ein andauerndes Element potenzieller Stabilitätsgefährdung weiterhin erhalten.

Anmerkungen

1) Ausführlicher dazu siehe Gülistan Gürbey: Wandel in der Kurdenpolitik? Die Türkei zwischen Dogma und Liberalisierung, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 1, Januar 1998, S. 39-44.

2) HEP: Arbeiterpartei des Volkes; DEP: Partei der Demokratie. HADEP: Demokratiepartei des Volkes.

3) PKK: Arbeiterpartei Kurdistans.

4) Näheres dazu vgl. Gülistan Gürbey: Autonomie- Option zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei, Frankfurt am Main, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK-Report 5/1997.

5) PSK: Sozialistische Partei Kurdistans.

6) Vgl. Hans-Joachim Heintze (Hg.): Moderner Minderheitenschutz. Rechtliche oder politische Absicherung?, Bonn 1998; derselbe: Selbstbestimmungsrecht der Völker – Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Staaten?, Bonn 1997.

7) Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 1991, S. 45-75.

8) Gülistan Gürbey: Die »Europäisierung« des Kurdenkonflikts. Eine Chance für den Frieden?, in: Internationale Politik, Bonn, Nr. 2-3, Februar/März 1999, S. 101-102; dieselbe: Die Europäisierung des Kurdenkonflikts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Heft 4/1999, S. 404-407.

Dr. Gülistan Gürbey lehrt an der Freien Universität Berlin am FB Politik- und Sozialwissenschaften

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/4 Frieden als Beruf, Seite