Konfliktsensibilität nach Bürgerkrieg
Studienexkursion nach Bosnien und Herzegowina, Juni 2013, Universität Marburg
von Gertraud Beck und María Cárdenas Alfonso
Die ersten gesellschaftsumfassenden Demonstrationen seit den großen Antikriegskundgebungen und der nahende EU-Beitritt Kroatiens – für 13 Master-Studierende der Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg stand die Exkursion nach Bosnien und Herzegowina im Juni 2013 im Zeichen spannender Ereignisse, die aus den sonst überwiegend negativen Nachrichten hervorstachen. Das Lehrendenteam um Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel und die Doktoranden Christian Braun und Timothy Williams hatte eine Vielzahl von Treffen mit Nichtregierungsorganisationen (NROs) organisiert, ebenso mit Vertreter_innen der internationalen Gemeinschaft (wie der Vereinten Nationen oder dem Office of the High Representative for the Implementation of the Peace Agreement on Bosnia and Herzegovina, OHR). Gemeinsam wollten sie der Frage nachgehen, »Wie kann Entwicklungszusammenarbeit nach einem Bürgerkrieg konfliktsensibel gestaltet werden?«. Christian Braun ergänzte und kontextualisierte die Gespräche sowie die Begegnungen vor Ort darüber hinaus mit seinen jahrelangen Erfahrungen in Bosnien. Auch Jagoda Gregulska unterstützte die Durchführung der Exkursion vor Ort tatkräftig.
Konfliktsensible Stadtrundgänge
Im Rahmen der Exkursion wurden die besonders vom Krieg 1992-1995 betroffenen Städte Sarajewo und Mostar erkundet. Beide Städte zeugen von der kulturell und politisch vielfältigen Geschichte des Landes, welches unter anderem vom Osmanischen Reich, der Österreich-Ungarischen Monarchie und später durch die deutschen Nationalsozialisten beherrscht worden war, bis es von Josip Broz Tito in ein vereintes und unabhängiges sozialistisches Jugoslawien geführt wurde. Jugoslawien führte während des Kalten Krieges die Gruppe der Blockfreien Staaten an, bis es nach Titos Tod im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Teilstaaten von einem ethnisierten Krieg erschüttert wurde und letztendlich in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Mazedonien und den Kosovo zerfiel.
Die zahlreichen kulturellen Einflüsse spiegeln sich noch heute in der architektonischen Vielfalt sowie in der religiösen und kulturellen Identität seiner Bewohner_innen wider. Noch immer zeugen Einschusslöcher an Hauswänden und Granateinschläge auf dem Asphalt vieler Straßen vom Bürgerkrieg. Mehr noch als Sarajewo leidet Mostar bis heute unter den Folgen des Bürgerkrieges: Der ethnisierte Konflikt hat den Bürgerkrieg überdauert und die Stadt in der Herzegowina in bosnische Kroat_innen im Westen und Bosniak_innen im Osten gespalten. Wolkenkratzerartige Kirchtürme einerseits und gen Westen ausgerichtete Lautsprecher der Moscheen andererseits ebenso wie zerstörte Denkmäler und Grabschändungen zeugen von gegenseitigen Provokationen der Volksgruppen. Lediglich das riesige Partisanendenkmal erinnert daran, dass die Gruppen, die heute sogar zwei administrative Körper in der Stadt haben (müssen), früher vereint gewesen waren. Dass Tourismus jedoch auch in einer konfliktiven Umgebung stattfinden kann, zeigt sich besonders deutlich an der während des Krieges zerstörten und wieder aufgebauten Brücke »Stari Most«, die im 16. Jhd. von den Osmanen erbaut worden war und nun das Zentrum von Geschäften und Restaurants vor allem für ausländische Touristen bildet.
Internationales Engagement »in, on and around conflict«
Obwohl der Krieg in Bosnien und Herzegowina 18 Jahre zurückliegt, spielen ethnisierte Konflikte weiterhin eine bedeutsame Rolle. Außer den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verweisen auch viele andere Organisationen auf die desolate wirtschaftliche Lage und die Apathie der Bevölkerung sowie auf die Pattsituation, die infolge des Dayton-Abkommens, welches 1995 den Frieden besiegelte, entstanden ist. Selbst der Vertreter des OHR, das zur Überwachung des Dayton-Abkommens eingerichtet wurde, verwies auf das Dilemma der Koexistenz des machtvollen High Representative einerseits und der ineffektiven Regierung und des gespaltenen Parlaments, das sich vor allem aus nationalistischen serbischen, kroatischen und bosniakischen Parteien zusammensetzt, andererseits.
Vor diesem Hintergrund suchten und fanden die vor Ort arbeitenden Organisationen Wege, die Blockadehaltung der Parteien zu umgehen. So fördert die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (giz) vor allem Projekte auf regionaler Ebene und strebt eine stärkere wirtschaftliche und politische Kooperation der Akteure an. Andere Organisationen vermeiden explizit die Zusammenarbeit mit der politischen Ebene und legen ihren Schwerpunkt auf Projekte und Aktivitäten mit nichtstaatlichen Akteuren, so z.B. das Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD), dessen Wanderausstellung MOnuMENTI zu Denkmälern im westlichen Balkan gerade in Sarajewo gastierte (siehe Bebilderung der aktuellen W&F-Ausgabe sowie den Text auf S. ). Neben einer weiteren Nichtregierungsorganisation, Pharos e.V., die vor allem Mikroprojekte u.a. im ländlichen Bereich sowie juristische Unterstützung für Sinti und Roma leistet, wurde mit der Heinrich-Böll-Stiftung auch eine der politischen Stiftungen in Sarajewo besucht, die hier einen Schwerpunkt auf die Akzeptanz und Integration lesbischer, schwuler, bisexueller und transsexueller Menschen und/oder Transgender (LGBT) legt.
Die bereits angedeutete Blockadehaltung der nationalen Parlamentarier_innen zeigte sich besonders deutlich bei den Personenregisternummern für Neugeborene. Trotz einer Vorgabe des Obersten Gerichtes gelang es dem Parlament nicht in der vorgesehenen Frist, das hierfür geltende Gesetz zu überarbeiten; daher konnten seit Februar diesen Jahres keine Personenregisternummern mehr zugewiesen werden. Eltern konnten für ihre Kinder weder staatliche Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen noch Reisepässe für sie erhalten. Unter der Bezeichnung »Baby-Revolution« (Bebolucija) wurde aus Protest im Juni 2013 das Parlament in Sarajewo besetzt. Das Bedeutsame an dieser Demonstration waren nicht nur die zehntausende Teilnehmenden und die Unterstützung der Blockade durch die Polizei, sondern vor allem die sowohl Generationen als auch Ethnien übergreifende Zusammensetzung dieser ersten großen Demonstration in Bosnien seit der blutig niedergeschlagenen Friedensdemonstration 1992. Im Zeichen dieser Bewegung stand auch der Besuch bei »Schüler Helfen Leben«, durch den die Gruppe weitere interessante Hintergrundinformationen erhielt.
Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch beim ICMP, dem International Center for Missing Persons. Das durch internationale Gelder finanzierte Forschungszentrum hilft bis heute durch den systematischen Vergleich von Genproben aus Massengräbern, u.a. in und um Srebrenica, mit den Genproben Angehöriger bei der Auffindung von Personen, die während des Bürgerkriegs »verschwunden« sind. Im Kontext ethnisierter bzw. konfliktiver Geschichtsschreibung kommt der Identifizierung vermisster Personen eine besondere Relevanz zu, bei der das ICMP eine Schlüsselrolle spielt, da durch neue Technologien im Genmatching Fakten zum Umfang der Menschenrechtsverbrechen der jeweiligen Akteure etabliert werden. Interessant hierbei waren auch die »lessons learned« der Organisation sowie die Übertragung dieser Erfahrungen auf weitere konfliktive Situationen, wie in Kolumbien, Syrien und Irak, aber auch die unterschiedlichen kontextuellen Herausforderungen.
Zuletzt besuchten wir die Privatuniversität Sarajevo School of Science and Technology (SSST), die über eines der wenigen regionalen Forschungsinstitute im Bereich Konfliktregelung und Versöhnungsprozesse verfügt. Unser zentrales Interesse lag darin, die während der vorherigen Gespräche aufgekommenen Fragen und Probleme mit den beiden anwesenden Lehrenden zu diskutieren und das SSST in die Fragestellungen einzubetten: Welche Möglichkeiten hat die Universität und haben die Lehrkräfte, um einen positiven Einfluss auf Jugend und Politik auszuüben und welche Verantwortung kommt ihnen als Bildungsinstitution (nicht) zu?
Exkursion – eine Bereicherung für das Studium
Gerade die Vielfalt der besuchten Institutionen und Organisationen zeigte das internationale Engagement in Bosnien und Herzegowina in seiner Breite auf, ebenso die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die nach wie vor höchst präsent sind. Die serbische Perspektive konnte in der Regel leider nur in geringem Ausmaß beleuchtet werden, und sie wurde von den besuchten Organisationen vor allem negativ dargestellt. Insgesamt empfanden wir die Exkursion als äußerst bereichernd und spannend, da sie es uns ermöglichte, die Arbeit internationaler und Nichtregierungsorganisationen im bosnischen Kontext zu ermessen und dabei nicht die Komplexität und Mehrdimensionalität dieses Kontextes sowie die nachwirkende Prägung auf die bosnische Gesellschaft aus den Augen zu verlieren.
Gertraud Beck und María Cárdenas Alfonso