W&F 2019/4

Konflikttextilien

Analytischer, ästhetischer und politischer Stoff für Friedensforschung und -arbeit

von Christine Andrä und Berit Bliesemann de Guevara

Von textilen Wandbildern aus Zeiten der chilenischen Militärdiktatur bis hin zu bestickten Taschentüchern zum Gedenken an die Opfer des aktuellen Drogenkrieges in Mexiko: Textile Handarbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Frieden auseinandersetzen, finden sich in unterschiedlichen Weltregionen und historischen Kontexten. Der folgende Beitrag stellt einige dieser Konflikttextilien vor, macht Vorschläge zu ihrer Nutzung in Friedensforschung und Friedensarbeit und diskutiert ihr emanzipatorisches Potenzial.

Textile Formen des Protests und der Friedensarbeit sind heute so aktuell wie eh und je. Schon in den 1970er und 1980er Jahren dokumentierten Chilen*innen ihren entbehrungsreichen Alltag, die Gräueltaten des Pinochet-Regimes und ihren Widerstand dagegen in »Arpilleras« genannten textilen Wandbildern (Adams 2013), während in Großbritannien aufwändig genähte Transparente die Proteste der Frauen des Greenham Common Women’s Peace Camp begleiteten (Parker 2010). Heute nutzen Aktivist*innen in Katalonien Wandbilder im Arpillera-Stil, um Europas Umgang mit Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen anzuprangern. Frauengruppen in Simbabwe arbeiten mit Textilien vergangene Konflikterfahrungen und deren bis heute spürbare Nachwirkungen auf. Künstler*innen nutzen das Textile für ausdrucksstarke Werke, in denen sie auf persönliche Weise über Gewaltkonflikte reflektieren. Soziale Bewegungen in Mexiko besticken weiße Taschentücher, um gegen die im so genannten Drogenkrieg gängige Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens zu protestieren, und Menschen weltweit greifen diese Idee auf, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen.

In diesem Beitrag plädieren wir vor dem Hintergrund der „ästhetischen Wende“ (Bleiker 2017) in den Internationalen Beziehungen und der zunehmenden Beliebtheit interpretativer Methoden in der Friedensforschung (Fujii 2017) dafür, mit Konflikttextilien neue Wege der Datengenerierung und -analyse zu beschreiten, die zugleich einen Beitrag zur praktischen Friedensarbeit leisten. Dabei stützen wir uns auf Erfahrungen als Ko-Organisatorinnen und Ko-Kuratorinnen einer Konflikttextilien-Ausstellung1 und auf erste Ergebnisse unseres aktuellen Forschungsprojekts zu textiler Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen in Kolumbien.2 Anhand des Beispiels der Arpillera »La Cueca Sola« schlagen wir einerseits vor, Konflikttextilien als dokumentarische, visuelle und materielle Primärquellen von Konfliktwissen zu begreifen. Andererseits diskutieren wir in Bezug auf das Kolumbienprojekt, wie die Fertigung von Konflikttextilien als partizipative Methode zur Erforschung komplexer Kriegs- und Gewalterfahrungen und als Friedensarbeit genutzt werden kann.

Konflikttextilien als Primärquellen

Die Arpillera »La Cueca Sola« (Abb. 1) zeigt eine Gruppe Frauen in weißen Blusen und schwarzen Röcken, die – erkennbar am Taschentuch, das die Tänzerin in der erhobenen Hand hält – den chilenischen Nationaltanz Cueca aufführen. Eigentlich ist die Cueca ein Paartanz, doch hier bewegt sich eine Frau allein zur Gitarrenmusik. »La Cueca Sola« dokumentiert eine kreative Form des Protests gegen die Diktatur Pinochets (1973-1990): Die Cueca Sola tanzten Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Töchter verschwundener Männer allein an öffentlichen Orten, ein Foto des Vermissten am Revers, um auf die Grausamkeiten des Regimes aufmerksam zu machen. Zugleich stellen auch die Arpilleras selbst eine kreative Protestform dar. Weltweit existieren Dutzende Versionen von »La Cueca Sola«. Die auf S. 7 abgebildete wurde von Violeta Morales in Chile gefertigt, dann von Takahashi Masa’aki, Professor in lateinamerikanischer Geschichte und Mitglied der japanischen Solidaritätsbewegung mit Chile, erworben und gelangte als Schenkung zuerst an das Oshima-Hakko-Museum (Japan) und schließlich in die Conflict Textiles Collection (Nordirland).

Der Lebensweg von »La Cueca Sola« verweist auf die unterschiedlichen Funktionen, die Konflikttextilien erfüllen können: Sie dokumentieren Gewalt, erinnern an ihre Opfer, drücken Solidarität aus, verschaffen finanzielle Unterstützung; durch sie wird Wissen in Museen öffentlich zugängig und in Sammlungen archiviert. Um das von ihnen verkörperte Wissen für die Friedensforschung nutzbar zu machen, können Konflikttextilien als Primärquellen auf drei analytischen Ebenen erschlossen werden.

Erstens stellen Konflikttextilien historische Sachquellen dar, deren Bedeutung und Glaubwürdigkeit quellenkritisch untersucht werden können. Wovon berichtet die Konflikttextilie? Wann, wo, von wem, an wen gerichtet, in welchem Kontext, mit welcher Absicht und in welchem zeitlichen und räumlichen Abstand zu den in ihr dokumentierten Ereignissen wurde sie angefertigt? »La Cueca Sola«, deren Geschichte gut dokumentiert ist, berichtet von den Erfahrungen ihrer Schöpferin. Nachdem ihr Bruder Newton im August 1974 vom Pinochet-Regime festgenommen worden war, machte Violeta Morales die Suche nach ihm und den Protest gegen das Regime zu ihrer Lebensaufgabe: Sie engagierte sich in Menschenrechtsinitiativen, als Arpillerista und ab 1978 auch in einer Folklore-Tanzgruppe von Angehörigen der Opfer der Diktatur. Als sie 1989 kurz vor dem Ende der Diktatur »La Cueca Sola« nähte, blickte Morales auf anderthalb Jahrzehnte des Aktivismus zurück und richtete zugleich den Blick nach vorn: „Ich hoffe, dass die Arpilleras anderen Generationen, nicht nur in Chile, sondern in der ganzen Welt, als Zeugnis dienen werden, damit andere mehr lernen können, als wir zu lernen vermochten. (in Agosín 2008, S. 93) Als historische Quelle von dokumentarischem Wert bietet diese Arpillera ein retrospektives Fenster auf den alltäglichen zivilen Widerstand gegen die chilenische Diktatur.

Zweitens können Konflikttextilien als visuelle Quellen analysiert werden. Was bildet eine Textilie ab? Wie bringen ihr Bildaufbau, ihre Farbgebung und ihre Symbolik ihr politisches Anliegen zum Ausdruck? Eine visuelle Analyse hilft, den ersten Eindruck zu hinterfragen, den viele Betrachter*innen von Arpilleras haben: dass es sich bei ihnen um farbenprächtige, aber letztlich unpolitische, ästhetisch schlichte Artefakte handelt. »La Cueca Sola« erzielt ihre visuelle Wirkmacht durch Komposition, Farben und Symbolik. Die Perspektivgebung scheint den Betrachter*innen einen Platz im Zuschauerraum des Theaters zuzuweisen, in dem die Solo-Cueca im Mai 1978 uraufgeführt wurde. Die schwarz-weiße Kleidung der vor kräftig pinkem und violettem Hintergrund tanzenden Frauen bricht subversiv die traditionelle Form der Cueca, die normalerweise von bunt gekleideten Paaren getanzt wird und die unterschiedlichen Emotionen und Phasen einer Liebesbeziehung symbolisiert, was das Fehlen der Männer besonders unterstreicht.

Drittens stellen Konflikttextilien materielle Quellen dar, die ein auf Sinneseindrücken basierendes und durch unterschiedliche soziale Kontexte geprägtes Konfliktwissen in sich tragen. Aus welchen Materialien und mit welchen Methoden wurde eine Textilie kreiert? Wurden die Materialien gekauft oder recycelt? Was sagt uns dies über ihr Anliegen und ihren Entstehungskontext? Wie verändert sich die Bedeutung, wenn eine Textilie ins Ausland verkauft oder in eine Sammlung aufgenommen wird? Bei »La Cueca Sola« fällt hier zunächst der gehäkelte Rahmen auf, der sie als »textiles Gemälde« kennzeichnet, sowie die Applikationstechnik, die als einfaches Nähverfahren von vielen Arpilleristas genutzt wurde. Als Materialien für Arpilleras dienten oft abgelegte Kleidungsstücke – weil Stoffe Mangelware waren, aber auch, weil die Arpilleristas so mittels persönlicher Gegenstände von ihren Erfahrungen erzählen konnten. Die Erfahrungen des Verlusts direkter Angehöriger und der unterschiedlichen Formen kreativen Protests waren für Morales mit widerstreitenden Gefühlen verbunden, wie sie auch in »La Cueca Sola« zum Ausdruck kommen: „Wir wollten nicht nur sticken und unsere Trauer hinausweinen, sondern wir wollten unsere Protestbotschaft auch [fröhlich] singend verbreiten. (in Agosín 2008, S. 88) Die buchstäbliche Weltreise, welche »La Cueca Sola« seit 1989 unternommen hat, zeugt von der wichtigen Rolle, die internationale Solidarität für Friedensarbeit damals wie heute spielt, und davon, wie Konflikttextilien etwa im Rahmen von Ausstellungen einen neuen Abschnitt ihres soziales »Lebens« beginnen, der weit über ihren ursprünglichen Entstehungskontext hinausreichen kann.

Konflikttextilien als kreative Forschungsmethode

Konflikttextilien sind auch als eine Methode für die Forschungspraxis nutzbar, die zugleich praktisch zur Friedensarbeit beitragen kann. In unserem Forschungsprojekt zum Versöhnungsprozess in Kolumbien betreiben wir narrative und textile Biographiearbeit mit ehemaligen Kombattant*innen der FARC-Guerilla (Abb. 2), um ihre Perspektiven auf den Konflikt und den Friedensprozess zu ergründen und sie durch Ausstellungen der im Projekt entstehenden Textilien mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft ins Gespräch zu bringen (Bliesemann de Guevara und Arias Lopez 2019). Unsere Forschung zeigt zum einen auf, wie strukturelle und physische Gewalt­erfahrungen im ländlichen Kolumbien Entscheidungen zum Eintritt in die Guerilla beeinflussten. Zum anderen legt sie die vielschichtigen Biographien der demobilisierten Kämpfer*innen offen, die neben dem Leben in der FARC etwa auch Familien- und Geschlechterrollen und persönliche und kollektive Wünsche und Hoffnungen umfassen, und ermöglicht so die Erzählung von nicht immer nahtlos zusammenpassenden politischen, praktischen und emotionalen Dimensionen der Lebensläufe unserer Teilnehmer*innen.

Nadelarbeit ist dabei eine zentrale Methode: Unsere Teilnehmer*innen sind eingeladen, ihre Erfahrungen und Botschaften in Form einer Seite eines »textilen Buches« zu nähen oder zu sticken. Dieses »textile Erzählen« ist für unsere Forschungsmethode auch insofern bedeutsam, als die manuelle, repetitive, kollektive und über einen längeren Zeitraum erfolgende Handarbeit eine Atmosphäre der Öffnung und des Austauschs über schwierige Themen befördert und in einem durch harte Arbeit geprägten Alltag Raum und Zeit für persönliche Reflexion schafft.

Die entstehenden textilen Bücher dienen nicht nur der Datengenerierung: Als Wanderausstellung bringen sie die Erfahrungen der ehemaligen FARC-Mitglieder anderen Gesellschaftsgruppen näher und nuancieren so die in den Medien und der Politik dominanten Narrative, welche die ehemaligen Kämpfer*innen weiterhin vornehmlich als Feind*innen und Terrorist*innen bezeichnen. In unserer Arbeit mit Frauen in einem armen Stadtteil Medellíns hat dieser textile Dialog bereits zu einem Umdenken über den bis dato kritisch beäugten Friedensprozess geführt: Die Frauengruppe arbeitet an einem textilen »Wörterbuch der Versöhnung«, in dem sie ihre neu gewonnen Erkenntnisse über die Komplexität des kolumbianischen Konflikts reflektieren. So wird Friedensforschung mit Konflikttextilien zur praktischen Friedensarbeit.

Ästhetik, Politik und Emanzipation

„Bei ästhetischer Politik“, so Roland Bleiker (2017, S. 261), „[…] handelt es sich um die Fähigkeit, Abstand zu gewinnen, zu reflektieren, politische Konflikte […] auf neue Weise zu sehen, zu hören und zu spüren. Eine so verstandene Politik kann neue Denk- und Handlungsräume und Adressat*innenkreise erschließen. Konflikttextilien können eine zentrale Rolle dabei spielen, politische Konflikte auf neue Weise wahrnehmbar zu machen, und so ein emanzipatorisches Potenzial entfalten. Bleiker stützt sich auf die Theorie Jacques Rancières (2006), für den sich Politik und Ästhetik wechselseitig implizieren. Unter Ästhetik versteht Rancière die sozial und politisch konstituierte »Aufteilung des Sinnlichen« – des Sichtbaren und Nicht-Sichtbaren, Hörbaren und Nicht-Hörbaren, Spürbaren und Nicht-Spürbaren – und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischer Teilhabe. Hingegen besteht Politik für ihn aus der Konfrontation der gegebenen Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren und der Möglichkeiten zur Teilhabe mit einer alternativen Ordnung.

Folgt man diesem Verständnis von Ästhetik und Politik, so sind Konflikttextilien gerade insofern politisch, als sie gegebene gesellschaftliche Aufteilungen des sinnlich Wahrnehmbaren und der politischen Teilhabe infrage stellen und zu verändern suchen. Das emanzipatorische Potenzial von Konflikttextilien liegt dabei einerseits darin begründet, dass sie marginalisierten Stimmen – seien es Frauen aus den Slums Santiago de Chiles oder ehemalige FARC-Rebell*innen im ländlichen Kolumbien – Gehör verschaffen und jene sehr persönlichen Erfahrungen sichtbar machen, die in den Medien zugunsten eines Fokus auf »high politics« sonst wenig Beachtung finden. Andererseits bieten Konflikttextilien gerade durch ihre visuellen und materiellen Aspekte eine Möglichkeit, sich der gelebten Komplexität von Krieg und Gewalt anzunähern, die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren zu verschieben und damit das für Friedensprozesse wichtige Verstehen anderer Positionen und Erfahrungen zu ermöglichen.

Anmerkungen

1) »Stitched Voices/Lleisiau wedi eu Pwytho«, Aberystwyth Arts Centre in Aberystwyth, Wales/Vereinigtes Königsreich, 25.3.-13.5.2017.

2) Internationales Forschungsprojekt »(Des)tejiendo miradas sobre los sujetos en proceso de reconciliación en Colombia/(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process«, gemeinschaftlich gefördert durch Colciencias, Kolumbien (Projektreferenz FP44842-282-2018) und Newton Fund/AHRC, Großbritannien (Projektreferenz AH/R01373X/1), getragen von der Universität von Antioquia, der Universität Aberystwyth und dem Verein der Opfer und Überlebenden Nordost-Antioquias (­ASOVISNA).

Literatur

Adams, J. (2013): Art Against Dictatorship. Austin: University of Texas Press.

Agosín, M. (2008): Tapestries of Hope, Threads of Love. Lanham: Rowman & Littlefield.

Bleiker, R. (2017): In Search of Thinking Space – Reflections on the Aesthetic Turn in International Political Theory. Millennium, Vol. 45, Nr. 2, S. 258-264.

Bliesemann de Guevara, B.; Arias Lopez, B. (2019): Biographiearbeit und Textilkunst am Beispiel des kolumbianischen Friedensprozesses. In: Franger, G. (Hrsg.): Alltag, Erinnerung, Kunst, Aktion. Nürnberg: Frauen in der Einen Welt, S. 50-53.

Conflict Textiles Collection; cain.ulster.ac.uk/conflicttextiles/.

Fujii, L. (2017): Interviewing in Social Science Research. New York: Routledge.

Parker, R. (2010): The Subversive Stitch. London: I.B. Tauris.

Rancière, J. (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b-books.

Stitched Voices Blog; stitchedvoices.wordpress.com/.

Dr. Christine Andrä ist Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »(Un)Stitching the subjects of Colombia’s reconciliation process« am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.
Dr. Berit Bliesemann de Guevara ist Forscherin und Dozentin am Department für Internationale Politik der Universität Aberystwyth in Wales.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/4 Ästhetik im Konflikt, Seite 6–8