W&F 2020/3

Krieg und Krisen in Corona-Zeiten

von Stefan Peters und Emily Ritzel

Das Corona-Virus wirkt wie ein Brandbeschleuniger auf viele wirtschaftliche, soziale und politische Krisen. Abseits des Interesses der Weltöffentlichkeit bedeutet die Pandemie – allen Friedensappellen zum Trotz – für viele Krisengebiete im Globalen Süden eine Stärkung von Gewaltakteuren und die weitere Verschlechterung der humanitären Situation der Zivilbevölkerung. Die Corona-Pandemie ist zweifellos eine Ausnahmesituation, doch neue globale Krisen sind bereits absehbar, allen voran die Klimakrise. Die Internationale Politik muss bereits jetzt Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen und internationale Kooperationen sowie zivile Friedens­politiken stärken, um den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts adäquat begegnen zu können.

Heute gibt es nur ein Thema: Corona-Virus! Kein Land wird von der Pandemie verschont. Doch auch wenn uns alle der gleiche Sturm trifft, sitzen wir nicht im selben Boot. Der Fokus der Pandemie hat sich in den letzten Wochen zunehmend in den Globalen Süden verlagert.1 Hier trifft das Virus die historisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf dem Land oder in den städtischen Armenvierteln mit besonderer Wucht. Viele der Schutzvorkehrungen, wie regelmäßiges Händewaschen und physische Distanz, sind für diese Bevölkerungsgruppen in der Regel ebenso illusorisch wie die Hoffnung auf einen Test oder im Falle eines schweren Krankheitsverlaufs die Aussicht auf ein Beatmungsgerät.

Noch einmal deutlich dramatischer stellt sich die Situation in den Krisengebieten der Welt dar. Legt man die offiziellen Zahlen zugrunde, scheinen viele Konflikt- und Krisenstaaten bisher zwar noch weitgehend von der Pandemie verschont geblieben zu sein. Und tatsächlich kann die geringere Verbindung zum Rest der Welt die Ausbreitung des Virus verlangsamen – aufhalten wird sie die Pandemie dennoch nicht. Darüber hinaus sind die Zahlen trügerisch, die Dunkelziffern gerade in Krisengebieten enorm hoch. Zudem haben die häufig zitierten Daten der Johns Hopkins University eine weitere Schwachstelle: Sie fokussieren sich aus naheliegenden Gründen auf die Infektionszahlen. Die Pandemie bedeutet jedoch im Globalen Süden und insbesondere in den Krisenstaaten in erster Linie eine soziale und humanitäre Krise, die schnell im wahrsten Sinne existenzbedrohend werden kann. So ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten gerade in vielen Krisengebieten nicht gesichert, internationale Organisationen gehen von wachsendem Hunger aus, und die humanitäre Situation in den Flüchtlingslagern, etwa im Nahen Osten, in Ostafrika, aber auch an den europäischen Außengrenzen, ist oft katastrophal.

Keine Atempause: Konflikt­regionen in der Corona-Zeit

Zu Beginn der Pandemie gab es optimistische Stimmen, die prognostizierten, dass die Kraft des Corona-Virus zwar ganze Volkswirtschaften lahmlegen, aber auch die bewaffneten Konflikte auf der Welt stoppen oder zumindest eindämmen könnte. Barry Posen sah sogar ein Möglichkeitsfenster für eine „Pax Epidemica“ (Posen 2020). Diese Hoffnungen waren nicht gänzlich unbegründet: Als die Pandemie ausbrach, plädierte UN-Generalsekretär Antonio Guterres eindringlich für einen globalen Waffenstillstand und stieß damit durchaus auf Widerhall innerhalb der internationalen Politik. Zudem haben Konfliktparteien aus zwölf Staaten von Kolumbien bis zu den Philippinen temporäre Waffenstillstände angekündigt und teilweise auch umgesetzt.

Doch mittlerweile wurden diese optimistischen Zukunftsszenarien von düsteren Realanalysen verdrängt. Selbstverständlich sind Verallgemeinerungen problematisch, und es müssten jeweils die lokalen Konfliktdynamiken in den Blick genommen werden. Dennoch: Eine Gesamtschau legt den Schluss nahe, dass die Pandemie nicht zu einer Eindämmung von kriegerischen Handlungen auf der Welt beigetragen hat.

Die Gründe hierfür sind vielfältig: So konnte sich der UN-Sicherheitsrat erst nach einem dreimonatigen Machtkampf auf eine entsprechende Resolution einigen (siehe dazu ausführlicher »Im Auge des Sturms« von Anna Holzscheiter auf S. 28). Am Ende überwog die Erleichterung, dass dies überhaupt gelang. Friedenspolitische Erfolge werden von dem Papier kaum erwartet. Die Großmächte haben andere Prioritäten, und wachsende Spannungen zwischen den Vetomächten lassen für die Zukunft kaum eine Blüte internationaler Zusammenarbeit erwarten. Aktuell erleben wir die Kluft zwischen der UN-Resolution einerseits und der kriegerischen Realpolitik andererseits, etwa mit Blick auf die zunehmende Internationalisierung des Krieges in Libyen infolge des Eingreifens der Türkei und Ägyptens. Hinzu kommt, dass humanitäre Überlegungen für die meisten Konfliktakteure irrelevant scheinen; selbst Gesundheitspersonal gerät bisweilen ins Fadenkreuz der Gewaltakteure.

Oft folgten Waffenstillstände eher taktischen Gründen und hatten kaum spürbare Auswirkungen. In der Zentralafrikanischen Republik wurde ein vorübergehender Waffenstillstand bald wieder gebrochen, und in verschiedenen Ländern Sub-Sahara-Afrikas scheinen islamistische Terrororganisationen, einschließlich des »Islamischen Staates«, die Pandemie zu nutzen, um sich militärische Vorteile und Propa­gandaerfolge2 zu verschaffen. Im Jemen verkündete Saudi-Arabien angesichts der hohen Kosten des Krieges einen Waffenstillstand, der jedoch nicht zu einer Eindämmung des Konfliktgeschehens führte; Anfang Juli wurde die saudische Regierung für einen Bombenangriff mit mehreren toten Zivilisten verantwortlich gemacht. In Kolumbien hat die Guerillaorganisation »Ejército de Liberación Nacional« (ELN, Nationale Befreiungsarmee) ihren einseitigen temporären Waffenstillstand nicht verlängert und stößt mit ihren Vorschlägen für einen beidseitigen Waffenstillstand bei der Regierung von Präsident Duque bisher auf taube Ohren. In Teilen des südamerikanischen Landes hat sich die Sicherheitslage merklich angespannt. Bewaffnete Gruppen konnten ihre Kontrolle über ländliche Regionen konsolidieren oder ausbauen. Gerade in den abgelegenen Gebieten des Landes nehmen auch Vertreibungen und Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen erneut zu, und der international vielbeachtete kolumbianische Friedensprozess wirkt sich in vielen Landesteilen kaum aus.

Diese Liste der Fälle fortwährender Konflikte trotz der Corona-Pandemie ließe sich leicht verlängern. Es kann kaum überraschen, dass sich die komplexen Konfliktkonstellationen durch das Coronavirus nicht auflösen. Ein Frieden durch die Pandemie ist folglich nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Zukunftsaussichten erscheinen düster: Die Krise droht die finanziellen Ressourcen für internationale Friedenseinsätze drastisch zu reduzieren und Konfliktursachen zu verschärfen.

Krieg in Zeiten der Corona-Pandemie

Kriege sind immer auch humanitäre Katastrophen. Hauptleidtragend ist die Zivilbevölkerung. Besonders stark betroffen sind vulnerable Gruppen wie Frauen und Kinder. Das Corona-Virus führt uns aktuell die dramatischen sozialen Folgen des Krieges vor Augen. Die meisten Konfliktschauplätze sind durch eine verarmte und ausgezehrte Bevölkerung, kollabierte Sozial- und Gesundheitssysteme sowie eine bestenfalls fragile Versorgung der Bevölkerung charakterisiert. Die Corona-Pandemie trifft hier bereits auf eine humanitäre Notlage. Eine weitere Zuspitzung der sozialen Situation durch das Virus ist absehbar.

Besonders besorgniserregend stellt sich die Situation etwa in Somalia und im Jemen dar. In Somalia war bereits in der Vergangenheit ein Drittel der circa 15 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Dürren und Überschwemmungen haben diese Situation weiter verschärft, und eine Heuschreckenplage droht den Hunger noch auszuweiten. Dennoch besteht die Gefahr, dass die al-Shabaab-Miliz die Verteilung von Hilfsleistungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten – wie bereits in der Vergangenheit geschehen – zurückweisen wird. Doch die Notlage der Zivilbevölkerung beschränkt sich nicht auf die Nahrungsmittelversorgung. Der Großteil der Menschen ist dem Virus fast vollkommen schutzlos ausgeliefert. Im Land fehlt es an den grundlegenden Voraussetzungen für die Einhaltung von Hygienestandards und Maßnahmen des »physical distancing«. Folglich gehen somalische Experten von einer hohen Dunkelziffer aus.

Die Folgen der Ausbreitung des Corona-Virus müssen als katastrophal eingeschätzt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das somalische Gesundheitssystem als eines der prekärsten der Welt ein. Auf 1.000 Einwohner*innen kommen 0,028 Ärzt*innen (zum Vergleich: Deutschland 4,2 Ärzt*innen/1.000 Einwohner*innen). Das Land verfügt über 25 Intensivbetten und nur ein Beatmungsgerät, das ein junger Mechaniker im Zuge der Corona-Pandemie erfunden und produziert hat. Zudem gibt es auch Hinweise auf eine Zunahme gender-basierter Gewalt und insbesondere der Genitalverstümmelung seit Beginn der Pandemie. Insgesamt ist eine deutliche Zuspitzung der Notlage der Bevölkerung zu befürchten. Damit ist die Gefahr verbunden, dass sich mehr Menschen der al-Shabaab-Miliz anschließen und die Terrormiliz gestärkt wird.

Eine ähnliche Situation findet sich auch im Jemen. Internationale Hilfsorganisationen warnen eindringlich vor einer massiven Verschlechterung der humanitären Lage. Das Corona-Virus trifft im Jemen auf eine durch Tod, Krankheit und Vertreibung gebeutelte Bevölkerung und stellt eine massive Bedrohung für die Menschen dar. Mehr als 80 Prozent der etwa 30 Millionen Einwohner*innen des Landes sind auf humanitäre Hilfe, wie Lebensmittel und medizinische Versorgung, angewiesen, über die Hälfte der Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Wasser. Zudem brach 2017 im Jemen die weltweit schlimmste Cholera-Epidemie aus, die je dokumentiert wurde. Aktuell droht dem Land eine massive Hungerkatastrophe. Hinzu kommt, dass ein Großteil der ohnehin prekären Gesundheitsinfrastruktur im Zuge des international weitgehend vergessenen Krieges zerstört wurde und das Gesundheitspersonal meist ohne entsprechende Schutzkleidung arbeiten muss.

Die Vereinten Nationen bezeichnen den Krieg im Jemen als schwerste humanitäre Krise der Gegenwart. Mit der Corona-Pandemie wird sich die Lage weiter verschlechtern. Zwar wurden Anfang Juni auf einer internationalen Geberkonferenz Hilfsgelder zugesagt, diese werden jedoch als unzureichend kritisiert. Zudem verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen für die Hilfsorganisationen.

Im Allgemeinen ist bereits jetzt absehbar, dass die Corona-Pandemie in vielen Konfliktregionen eine soziale Zeitbombe darstellt und einen Teufelskreis begründen wird. Die Notlage erhöht in vielen Ländern die Gefahr neuer Konflikte und erleichtert die Rekrutierung neuer Kämpfer*innen. Diese Dynamiken erschweren nicht nur die Bearbeitung der Corona-Krise, sie drohen eine Gewaltspirale zu beschleunigen und stellen zudem eine schwere Hypothek für die Zeit nach der Pandemie dar.

Friedensorientierte Politik in Corona-Zeiten

Trotz dieser düsteren Aussichten bietet die Pandemie auch Chancen. Die aktuelle Krise provoziert Reflektionen über den Zustand der internationalen Politik und erfordert konkrete Vorschläge für die Neugestaltung der Weltpolitik.

  • Erstens braucht es eine konsequente Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit: Das Virus lässt sich von Grenzen nicht beeindrucken, und der Rückzug in nationale Schneckenhäuser ist weder gesundheits- noch friedenspolitisch ratsam.
  • Zweitens braucht es schnelle humanitäre Hilfen für die Bevölkerung in den Krisenregionen. Die Appelle für mehr Menschlichkeit der Politiker*innen sind nur dann glaubwürdig, wenn sie auch durch ein entsprechendes finanzielles und politisches Engagement flankiert werden. Die Maßnahmen könnten durch eine Reduzierung der Militärausgaben finanziert und von einer Verschärfung der Richtlinien für Waffenexporte begleitet werden.
  • Schließlich darf der Fokus der internationalen Politik in der Corona-Krise nicht allein auf humanitäre Hilfe für die Konfliktregionen gelegt werden. Die Corona-Krise stürzt die Staaten des Globalen Südens in schwere wirtschaftliche und soziale Krisen. Mühsam errungene Entwicklungserfolge der vergangenen Jahre werden von dem Virus mit einem Handstreich kassiert. Zweifellos gibt es in vielen Ländern des Globalen Südens auf nationaler Ebene reichhaltige Möglichkeiten, Ressourcen zu akquirieren, um die Krise zu bearbeiten. Die Erhöhung der Steuerlast für die Wohlhabenden und einmalige Vermögensabgaben für die Eliten stellen nicht nur in Lateinamerika einen Königsweg dar. Auch Waffenkäufe sollten eingefroren und die eingesparten Mittel in eine Stärkung der Gesundheits- und Sozialsysteme gesteckt werden.

Und dennoch: Die Bearbeitung der sozialen Krise durch die Pandemie erfordert auch internationale Solidarität. Sollte die internationale Gemeinschaft die endlosen Bekenntnisse zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) ernst meinen, müssen jetzt mutige Entscheidungen getroffen und breit ausfinanziert werden. Andernfalls sind die Ziele für 2030 bereits Ende 2020 Makulatur.

Doch es geht nicht um Statistiken: Im Zentrum stehen Menschenleben. Deshalb muss jetzt rasch und entschlossen gehandelt werden. Denn die direkten (gesundheitlichen) und indirekten (wirtschaftlichen, sozialen und politischen) Folgen des Corona-Virus haben eines gemeinsam: Langes Abwarten führt zu einer Verschärfung der Situation, die bald unkontrollierbar werden könnte. Kluge Entwicklungspolitik ist auch und insbesondere Krisenpräventions- und mithin Friedenspolitik.

Das Säbelrasseln zwischen den Weltmächten verdeutlicht, dass in der Realpolitik die Zeichen der Zeit weiterhin nicht verstanden werden. Dabei sind die Konsequenzen der Corona-Pandemie ein eindringlicher Weckruf an die Internationale Politik. Den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – einschließlich globaler sozialer Ungleichheiten, Gesundheitsrisiken und des Klimawandels – kann nur durch internationale Kooperation und weitsichtige Politiken begegnet werden. Hierfür braucht es eine Neuorientierung der Weltpolitik und eine Stärkung von Stimmen der Zivilgesellschaft insbesondere aus dem Globalen Süden.

Anmerkungen

1) Die Corona-Pandemie entwickelt sich weiter sehr dynamisch: Der Artikel wurde am 20. Juli 2020 fertiggestellt.

2) So wird das Virus von der al-Shabaab-Miliz in Somalia als »Strafe Gottes« interpretiert.

Literatur

Posen, Barry R. (2020): Do Pandemics Promote Peace? Why Sickness Slows the Way to War. Foreign Affairs, 23.4.2020.

Prof. Dr. Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ) in Bogotá.
Emily Salome Ritzel ist Juristin; sie studierte an der Universität Leipzig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 13–15