Kriegsbilanz? Fehlanzeige!
von Jürgen Nieth
Delegationen aus 85 Staaten und 15 internationale Organisationen trafen sich am 5. Dezember 2011 zur 2. Bonner Afghanistankonferenz. Genau zehn Jahre vorher hatten auf dem Bonner Petersberg die Vertreter zahlreicher Staaten das Ende der Taliban-Herrschaft gefeiert und „Karzai zum Hoffnungsträger für das neue Afghanistans erklärt“ (FR, 06.12.11, S.8). Nach zehn Jahren Zeit für eine Bilanz? Fehlanzeige!
„Unverbindliches zum Krieg …“
… titelt »Die Welt« (06.12.11, S.7). Und sie hält fest: „[…] ausführliche Rückschau inklusive Bilanz wäre für alle Beteiligten wenig erfreulich ausgefallen: Von dem damals ausgerufenen Ziel eines demokratischen Rechtsstaates nach westlichem Vorbild ist Afghanistan weit entfernt. Also lieber nicht darüber reden.“
„Karzai ist längst kein Hoffnungsträger mehr. Sondern jemand, der seine Partner unzählige Male bitter enttäuscht hat.“ (Berliner Zeitung, 06.12.11, S.6) Das wird auch im Umfeld der Konferenz deutlich: „Vor allem in amerikanischen Kreisen wurden am Montag ernste Vorwürfe gegen Karzai erhoben. Die Korruption nehme rapide zu, hieß es. Der Präsident nutze mafiöse Strukturen zur Machterhaltung und pflege gute Beziehungen zu bestechlichen Warlords.“ (Neue Zürcher Zeitung, 06.12.11, S.3) Auf der Konferenz allerdings gibt es Kritik – wenn überhaupt – nur diplomatisch verpackt. Die deutsche Bundeskanzlerin an Karsai: „Aber niemand entlässt Sie aus Ihrer Verantwortung, die Drogengeschäfte und die Korruption mit Ihren eigenen Fähigkeiten und Mitteln zu bekämpfen.“ Ein Appell, der offenbar nicht ankam: „Karsai nickt und nickt, dabei hört er kaum hin. Während Merkels Rede legt er die Kopfhörer ab, die ihm eine Simultanübersetzung bieten.“ (Stuttgarter Nachrichten, 06.12.11, S.2)
Die Bilanz des »Tagesspiegel«: „Es war der Tag der Diplomatie.“ (06.12.11, S.4)
Warum diese Konferenz?
1.000 Teilnehmer aus 85 Ländern. „Mehr als 100 Redner [traten] ans Mikrofon und trugen ihre Plattitüden vor […] Wirklich diskutiert wurde nicht.“ (Die Welt, 06.12.11, S.3)
Für die FAZ war das „Ziel der Konferenz […] ein Tauschgeschäft. Die Afghanen versprachen, ihr Land in Ordnung zu bringen, das interessierte Ausland sagte ihnen dafür Aufbauhilfe für die Zeit nach dem Abzug der Kampftruppen im Jahr 2014 zu.“ (FAZ, 06.12.11, S.4)
Für Thorsten Knuf „liegt der Gedanke nahe, dass es dort [in Bonn] nicht allein darum geht, ein Signal in Richtung Afghanistan zu senden. Sondern auch eines in Richtung der kriegsmüden Völker Europas, Amerikas und anderswo. Der Westen hat erkannt, dass er den Krieg nicht gewinnen kann.“ (FR 05.12.11, S.2) Auch »Die Welt« spricht von einer Botschaft „an die kriegsmüden Bürger in den Truppenstellerstaaten. Das internationale Engagement ist endlich.“ (05.12.11, S.8) Einen Tag später heißt es: „Keine westliche Regierung verfügt mehr über die Kraft, ein längeres Engagement im eigenen Land durchzusetzen.“ (Die Welt, 06.12.11, S.7)
Abzug – aber nicht ganz?
Vom Abzug der Kampftruppen bis 2014 wird gesprochen, doch das muss nicht ein Ende des militärischen Engagements bedeuten. So kritisierte der iranische Außenminister in Bonn „die Absicht »mancher« Nato-Staaten [gemeint sind hier vor allem die USA, J.N.], auch nach 2014 Militärbasen in Afghanistan zu behalten“ (Tagesspiegel, 06.12.11, S.4).
Aber auch die schwarz-gelbe Bundesregierung möchte den Fuß in der Tür halten. Sie strebt über die internationale Zusammenarbeit hinaus ein eigenes Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan an. „Merkel nannte als Schwerpunkte eines solchen Abkommens das Training der afghanischen Sicherheitskräfte, die Berufsausbildung und die Erschließung der Rohstoffe des Landes.“ (taz, 07.12.11, S.6) Von „Billionen, die darauf warten, ausgebeutet zu werden“ hatte Karzai vorher gesprochen. Und Außenminister Guido Westerwelle redete von „enormem wirtschaftlichen Potenzial“ (Stuttgarter Nachrichten, 06.12.11, S.2).
UN nicht erwünscht
„Die meisten Länder setzen darauf, dass die Vereinten Nationen […] 2014 […] in Afghanistan die Führung übernehmen. Doch [UN-Generalsekretär] Ban bestätigte, dass der afghanische Außenminister Rasul vor einigen Monaten in einem Brief an Ban gegenteilige Forderungen erhob. Demnach soll die UN-Mission Unama ihre Präsens im Land deutlich reduzieren, damit die Regierung autonom über die internationalen Hilfsgüter verfügen kann; außerdem wünscht sich die Regierung Karzai, dass sich die UN aus der Organisation von Wahlen zurückziehen.“ (FAZ, 06.12.11, S.4)
Es geht um Geld, viel Geld
Nach Vorstellung von Karzai sollen die NATO-Staaten „seinem Land nach 2014 einen Teil jenes Geldes […] überlassen, dass sie durch den Abzug einsparen. Fünf Prozent der bisherigen Militärausgaben hält er für angemessen.“ Karzai wörtlich: „Ich nenne das die Dividende, die bei der Übergabe von den Isaf-Truppen an die Afghanen fällig wird.“ (Tagesspiegel, 06.12.11, S.4)
Angesichts der internationalen Militärausgaben, die von afghanischer Seite auf „mehr als 100 Milliarden US-Dollar im Jahr“ beziffert werden, wären das fünf Milliarden. (Lübecker Nachrichten, 06.12.11, S.4) Deutschland gibt für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch jährlich 1,4 Milliarden Euro aus, zusätzlich 100 Millionen Euro für das Training afghanischer Sicherheitskräfte. Nach der Forderung Karzais kämen also zu den 430 Millionen Euro, die bisher pro Jahr für den Wiederaufbau gezahlt werden, mindestens 70 Millionen dazu.
Hinter den Kulissen geht es aber bereits um ganz andere Summen. „Der afghanische Finanzminister nannte die Zahl von sieben Milliarden Euro jährlich, die Kabul brauche, um den Sicherheitsapparat nach Abzug der internationalen Truppen bezahlen zu können.“ (Hannoversche Allgemeine, 06.12.11, S.2) Und »Die Welt« schreibt: „In internen Berechnungen der afghanischen Regierung ist laut »Washington Post« von zehn Milliarden [Dollar] die Rede. Angesichts von allein rund sieben Milliarden Dollar für die Bezahlung der afghanischen Sicherheitskräfte ist auch das noch ein eher niedrig angesetzter Betrag.“ (06.12.11, S.7)
Trübe Aussichten
„Für Mitte 2012 ist eine Folgekonferenz in Tokio geplant. Dort soll es erstmals um konkrete Summen für Afghanistan gehen.“ (Berliner Zeitung, 06.12.11, S.6) An einer Tatsache dürfte sich bis dahin kaum etwas geändert haben: „Die afghanische Regierung und der Sicherheitsapparat sind korrupt bis ins Mark.“ (Thorsten Knuf in der FR, 05.12.11, S.3)
Jürgen Nieth