W&F 2011/2

Kultur als Waffensystem

von Rochelle Davis

Im Rahmen des vierten »Kulturgipfels« des US Army Training and Doctrine Command (TRADOC) im April 2010 schlug Generalmajor David Hogg, Leiter der Adviser Forces in Afghanistan, vor, dass das US-Militär „Kultur als Waffensystem“ denken solle.1 Hogg verwies darauf, dass das Militär die Kultur der Länder, in denen es im Einsatz sei, verstehen müsse und dass es lernen müsse, neben konventionelleren Waffensystemen auch dieses Wissen im Kampf gegen die Feinde einzusetzen. Diese konzeptionelle und vielleicht buchstäbliche »Umwandlung von Kultur zur Waffe« setzt eine Entwicklung fort, die mit den Einmärschen der USA in Afghanistan und dem Irak begann.2 Auf allerhöchster Kommandoebene von General David Petraeus unterstützt, entstand die Idee von Kultur als Waffensystem aus dem »weicheren Ansatz«, den die US-Armee nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Bezug auf die US-amerikanischer Kriege nach 9/11 verfolgte.3

Der Ansatz von »Kultur als Waffensystem« wurde wohl am klarsten artikuliert im »Counterinsurgency Field Manual« vom Dezember 2006, das General Petraeus verantwortete. In diesem Handbuch greift die eigentümlich militärische Anwendung von Kultur auf kulturanthropologische Definitionen von Kultur als Verhaltensweisen, Überzeugungen, Bräuche und Werte zurück, wie sie in einer Gruppe von Menschen gelernt und geteilt werden.4 Die Umwandlung von Kultur zur Waffe postuliert, dass Kultur ein zentraler Bestandteil militärischer Aufklärung sein kann, um andere zu beeinflussen, deren Schwachstellen anzugreifen und – etwas freundlicher – die anderen, denen das Militär helfen möchte, zu verstehen. Während Wissenschaftler und Militäranalytiker auf den Stellenwert von »Kultur« im Vietnam-Krieg hingewiesen haben,5, sind die aktuellen Kriege die ersten, in denen so deutlich auf die Bedeutung von Kultur verwiesen wird. Generalmajor John Custer, Kommandeur des »Intelligence Center of Excellence« der Armee, beschreibt diese Veränderung als „tektonische Verschiebung für Militäroperationen“.6

Kultur ist diesem Verständnis nach wie irgendeine andere Waffe im Arsenal der mächtigsten Militärmacht der Welt zu verstehen. Die Verschiebung zur »Umwandlung von Kultur zur Waffe« ermöglicht es dem Militär, Kultur als global zu konzipieren, als Kategorie, die nicht spezifisch auf einen Kriegsschauplatz oder auf einen Feind bezogen wird. Neue Militärinstitutionen produzieren Materialien für Kulturtrainings, für Sprachunterricht und zum Nachdenken über die Frage, was unter dem Begriff »Kultur« zu verstehen ist. Das im November 2005 ins Leben gerufene »Culture Center« von TRADOC ist Teil des »Intelligence Center of Excellence« in Fort Huachuca in Arizona. Das »Center for Advanced Operational Culture Learning« des Marinekorps, ebenfalls im Jahr 2005 gegründet, befasst sich vor allem mit dem Einsatz der Marines in Afghanistan. 2006 hat die Luftwaffe ein »Culture and Language Center« an der Air Force University eingerichtet, während die Marine 2007 das »Center for Language, Regional Expertise and Culture« schuf.

Zwar heuert jedes dieser Zentren ExpertInnen an und stellt Wissen bereit, TRADOC hat aber eine Vorreiterposition, weil es ein Kerncurriculum geschaffen hat, in dem es neben Themen wie gesellschaftliche Organisation, politische Struktur, interkulturelle Kommunikation, vertrauensbildende Maßnahmen, interkulturelles Verhandeln, Extremismus und die Arbeit mit Übersetzern auch um die grundlegende Frage geht, was überhaupt Kultur ist. Diese Lerneinheiten, die allen Angehörigen des US-Militärs zugänglich sind, basieren auf dem, was die Armee als die „vier grundlegenden Bestandteile von Kultur“ definiert hat: „Werte, Überzeugungen, Verhaltensweisen und Normen“.7 Bereits seit 2010 stehen Lernpakete für viele der Länder zur Verfügung, für die das »Central Command« und das neu eingerichtete »Africa Command« zuständig sind – vom Mittleren Osten und Südasien bis zum Horn von Afrika, Nordafrika und der Sahel-Zone. Diese besonderen Kulturtrainings werden dem Militärpersonal je nach Rang, besonderem Verwendungsprofil und Einsatzort angeboten. Seit 2009 hat das TRADOC-Kulturzentrum so genannte »Smart Books« zu Afghanistan, Pakistan und dem Jemen sowie »Smart Cards« für Afghanistan und das Horn von Afrika produziert; weitere zur Demokratischen Republik Kongo, den Philippinen, dem Iran, Saudi-Arabien, Syrien, Somalia, Korea und China befinden sich in Vorbereitung.

»Smart Cards«

Als die USA 2001 in Afghanistan und 2003 im Irak einmarschierten, hatte der Begriff »Kultur« keinen Platz im Vokabular des Krieges. Die USA hatten nach der irakischen Besetzung Kuwaits 1990 große Militärbasen in Saudi-Arabien, Qatar und später auch Kuwait eingerichtet. Veteranen des folgenden Golfkrieges erinnern sich, dass bestimmte Einheiten Informations- und Schulungsmaterial über arabische und muslimische Gesellschaften entwickelten, darunter ein kleines Info-Heft bzw. eine »Smart Card«. Dieses Angebot blieb allerdings vorübergehend. Es gab keine systematische Kulturschulung in der Armee oder im Marinekorps mit dem Ziel, diese auf den Einsatz im Mittleren Osten oder in Zentralasien in der Ära nach 9/11 vorzubereiten. Wie die USA es versäumten, sich ernsthaft auf die Situation vorzubereiten, die mit dem Sturz Saddam Hussein entstehen würde, so unterließ es auch das Militär unter der Führung von Rumsfeld, sich auf die eigene Rolle bei einer langjährigen Besatzung und beim Wiederaufbau des Landes vorzubereiten.

Die Koalitions-Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority; CPA) unter Leitung von L. Paul Bremer sagte im Jahr 2003 die Regionalwahlen im Irak ab, löste die irakische Armee auf und entließ die Anhänger der Baath-Partei aus der Regierung. Der Wiederaufbau des Iraks wurde an US-SoldatInnen, private Militärfirmen und Zivilangestellte übertragen. Obwohl die US-Amerikaner den Staat abgewickelt hatten, machten viele für die Fehler der CPA die irakische »Kultur« verantwortlich. Solche Erfahrungen – sowie ähnliche in Afghanistan – lieferten einen starken Impuls für das, was das US-Militär als kulturellen Imperativ wahrnahm, wodurch die militärische Kultur dazu überging, die Kultur anderer zu berücksichtigen. Im Jahr 2006 rief die Armee das »Human Terrain System« ins Leben, in dessen Rahmen SozialwissenschaftlerInnen in neun Wochen in Sprache, Kultur, Politik und Geografie des Irak und Afghanistans geschult und dann zu ihrer Tätigkeit in Kampfeinheiten entsandt wurden, um dort kulturrelevantes Wissen für die täglichen Interaktionen und die Informationssammlung bereitzustellen.

Dieses frühe Material, das die irakische Kultur beschrieb, basierte auf Studien zum »Nationalcharakter«, wie sie in der Kulturforschung und Kulturanthropologie der 1940er und 1950er Jahre typisch waren. AnthropologInnen haben diesen Ansatz, der die Vorstellung uniformer Eigenschaften von Bevölkerungen und Kulturen ähnlich einem Set von Persönlichkeitseigenschaften transportierte, längst überwunden, weil sie festgestellt haben, dass damit kultureller Wandel nicht angemessen zu erfassen ist und viele Ungenauigkeiten vorkamen. Die Übernahme von Studien zum »Nationalcharakter« durch das US-Militär ermöglichte eine einfache Vorstellung dessen, was einen »Iraker« und »Araber« ausmachte. In diesem Paradigma ist Irakisch-Sein zeitlos und einheitlich bestimmt durch Religion und Familie. Es ist jedoch nie Ergebnis historischer oder politischer Kräfte oder von Regierungspolitik. Stattdessen präsentieren die Materialien alle IrakerInnen als im Kern gleich, womit 27 Millionen Menschen ganz unterschiedlicher Bildungshintergründe, Siedlungskonstellationen, Generationen, Ethnizitäten, Religionen und ökonomischer Einkommensniveaus in einen Topf geworfen werden. Solche Grundmuster des »Nationalcharakters« geben zudem vor, dass sich alle IrakerInnen gemäß den inhärenten Charakteristika ihrer nationalen Gruppe verhalten. Die Konzeptualisierung von Kultur als »Nationalcharakter« basiert auf zwei wichtigen Annahmen: erstens, dass SoldatInnen »Kultur« anhand einer Liste von Charaktermerkmalen lernen können, und zweitens, dass IrakerInnen sich tatsächlich so verhalten. Das erste ist eine pädagogische Angelegenheit, das zweite eine von Genauigkeit.

Die Smart Card »Irakische Kultur« ist die einschlägigste visuelle Verkörperung des Verständnisses von Kultur als »Nationalcharakter«. Die Smart Card ist ein 16 Tafeln umfassendes laminiertes Faltblatt, das von der Armee, den Marines und Militärfirmen wie Kwikpoint und SAIC zusammengestellt wurde und in die Uniformtaschen von SoldatInnen im Einsatz passt. Erstmals 2003 produziert, wurde es seither immer wieder neu formatiert und gedruckt und hat 2006 eine Auflage von über 1,8 Millionen erreicht. Nach Angaben von Paul Nuti, der mit den Erfindern der Smart Card ein Interview führte, handelt es sich dabei nicht nur um „Kultur auf einen Blick“, sondern um „ein Nebenprodukt einer Länderstudie, einer strengen multidisziplinären Analyse des kulturellen Kontextes desjenigen Landes, für das die Smart Card angefordert worden ist.“ 8

Die Smart Card bietet grundlegende Angaben, die US-SoldatInnen ohne jedes Vorwissen über den Irak oder den Mittleren Osten nützlich finden mögen. Die fünf Säulen des Islam sind prägnant und im wesentlichen korrekt aufgeführt. Zusammenstellungen, was im Rahmen religiöser Feiern zu erwarten ist, über die Kulturgeschichte und »islamische« Begriffe sind nützlich. Von zweifelhafter Qualität sind die Darstellungen zu Kleidung und Gestik, zu kulturellen Gruppen und Gebräuchen.

Der Abschnitt zu Kleidung und Gestik enthält Bilder von drei Männern, die Kopfbedeckungen in weiß, schwarz und weiß sowie in rot und weiß tragen. Die Smart Card gibt die Auskunft, die weiße Kopfbedeckung signalisiere, dass der Mann „den Hadsch oder die Pilgerreise nach Mekka nicht gemacht hat. Die schwarz-weiße verweist auf ein Land mit Präsidialherrschaft (z.B. Libyen oder Ägypten) und auf einen bereits durchgeführten Hadsch. Und der Rot-karierte ist aus einem monarchisch regierten Land (z.B. Saudi-Arabien oder Jordanien) und hat den Hadsch bereits absolviert“. Erstens gibt es keinen Marker, der jene kennzeichnet, die die Pilgerreise nach Mekka unternommen haben. Zweitens ist nicht klar, warum die Smart Card für die irakische Kultur die anderen Länder überhaupt erwähnt. Drittens unterstellt eine Sicht, die die Kleidung von Arabern mit der Art der politischen Herrschaft, unter der sie leben, verbindet, dass es keine individuelle Wahlmöglichkeit bei der Kleidung gibt; im Gegenteil sieht es so aus als seien sie dem Diktat ihrer »Nationalkultur« ausgeliefert, dem sie gehorsam Folge leisten. Tatsächlich wird in Irak – wie überall – über die Kleidung nach Aspekten wie Jahreszeiten, Modetrends, verfügbarem Einkommen und individuellem Geschmack entschieden.

Es ist nicht so, dass die Kopfbedeckung arabischer Männer ohne Bedeutung ist; allerdings hat die Smart Card zur irakischen Kultur die Bedeutungen nicht richtig erfasst. In den meisten Fällen ist eine Kopfbedeckung auf dem Kopf eines Mannes nur eine Kopfbedeckung auf dem Kopf eines Mannes wie die Baseballkappe nur eine Baseballkappe ist. Wenn der Bedeckung größere Bedeutung zukommt, so ist diese zeit- und ortspezifisch.

Ein anderer Abschnitt, überschrieben »Bedeutung islamischer Fahnen«, zeigt Abbildungen von vier Flaggen mit Worten darauf – grün (Islam), rot (Opfer), weiß (Reinheit) und schwarz (Märtyrertum). Der dazu gehörige Text lautet: „Muslime hängen häufig farbige Flaggen auf, wenn sie Feiertage befolgen oder um ein Datum von persönlicher Bedeutung zu signalisieren. Jede Farbe hat eine spezifische Bedeutung: Grün ist die Farbe des Islam und hat besonders große Bedeutung für die Schiiten.“ Neben der Tatsache, dass IrakerInnen Fahnen aus ganz unterschiedlichen Gründen zeigen, etwa um zu demonstrieren, dass ein Familienmitglied auf dem Hadsch ist oder dass sie ein bestimmtes Sportteam unterstützen, warum sollte die Farbe grün besonders für Schiiten bedeutsam sein? Bedeutet das, dass alle schiitischen Muslime frommer sind als die Sunniten? Und warum ist es wichtig zu wissen, dass weiß Reinheit symbolisiert? Offensichtlich wird diese Information SoldatInnen zur Verfügung gestellt, damit sie wissen, dass Flaggen Bedeutungen haben jenseits der Signalübermittlung zwischen Aufständischen.

Sinn und Sensibilität

Es überrascht wenig, dass die fünfzig SoldatInnen und Marines, die für diesen Beitrag befragt wurden, angaben, dass ihr offizielles Kulturtraining „nicht brauchbar“ sei, weil »Kultur« als festgelegte Reaktion oder Verhaltensweise beschrieben wurde, häufig als Liste von dem, was getan werden soll, und dem, was nicht getan werden darf.9 Von den 33 SoldatInnen, die entweder bei der Armee oder den Marines offiziell an Kulturschulung teilnahmen, bewerteten nur fünf den Unterricht als nützlich. Ein 35-jähriger Kommandeur einer Infanteriekompanie beschrieb sein Kulturtraining wie folgt: „Ich finde, dass die Dinge, die sie sagten, wichtig sind. Aber es gab viel, was man selbst herausfinden musste. Aber die Sachen, die uns erzählt wurden, waren auf ihre Art auch sehr nützlich. Ich finde es ist wichtig, Deine Fußsohle nicht einem Iraker zu zeigen. Das kann sie recht ungemütlich werden lassen.“ Dieser Hauptmann sah einen Vorteil solchen Kulturtrainings darin, dass es dem US-Militär helfen würde, Kränkungen von IrakerInnen zu vermeiden. Die meisten Armeeangehörigen im Einsatz nutzen inoffizielle Quellen – andere Einheiten und Übersetzer –, um an das zu kommen, was sie „nützliche Information“ nennen.

Ein dauerhaftes Rätsel für US-SoldatInnen war es herauszufinden, ob IrakerInnen »gut« oder »schlecht« waren – wann sie sich schützen mussten oder wann sie ihre kulturelle Sensibilität anwenden sollten. Besondere Regeln und Regularien untersagten zudem bestimmte Formen sozialer Interaktion, so dass die Kontakte zwischen US-SoldatInnen und IrakerInnen noch schwieriger wurden. Ein Oberst der Marines beschrieb die Schwierigkeit, einen General der irakischen Armee, der sich in offizieller Mission im Stützpunkt aufhielt, in den Armeeladen mitzunehmen. Dem General wurde der Zutritt mit dem Hinweis verweigert, dass er Iraker sei.

Die US-SoldatInnen sehen sich der paradoxen Anforderung kultureller Sensibilität während einer militärischen Besatzung konfrontiert. Vermutlich ist das Material aus der Kulturschulung für die Interaktion mit IrakerInnen in Situation vorgesehen, in denen nicht unmittelbar gekämpft wird. Aber obwohl der Oberst der Marines den irakischen General als Kollegen behandelte, stuften ihn die Verhaltensvorschriften des Stützpunktes als einen »potentiellen Feind« ein. Das Wesen der Besatzung bringt es mit sich, dass der Besatzer die Macht hat, die Bewegungsfreiheit der Besetzten einzuschränken und sie von Prozessen der Entscheidungsfindung auszuschließen. In dieser Paradoxie sehen US-Truppen die IrakerInnen sowohl als ihre Feinde als auch als Opfer von Saddam Husseins repressivem Regime an; und die IrakerInnen sehen in den US-SoldatInnen sowohl Befreier als auch Besatzer. Wie, wann und bei wem die US-Truppen ihr kulturelles Wissen anwenden, ist nicht deutlich erkennbar. Das Dilemma wurde noch mehr kompliziert durch die Ereignisse im Gefängnis Abu Ghraib, wo die »kulturelle Relevanz« verschiedener Arten von Folter und Erniedrigung – bezogen beispielsweise auf Geschlechtlichkeit und Hunde – in den Zeugnissen der Täter aufscheinen und in den Photographien enthüllt werden. Kulturspezifisches Wissen ist nicht nur ein weiterer Pfeil im Köcher, nicht einfach ein weiteres »Waffensystem«, das neben anderen ausgewählt werden kann. Das US-Militär kann Kultur nicht in sein Arsenal aufnehmen, ohne Assoziationen zu einer Vergangenheit aufzurufen, in denen von Sensibilität kaum die Rede sein kann.

Entscheiden, wer Iraker ist

Auch wenn die erwähnten Materialien darauf abzielen, die AmerikanerInnen über die IrakerInnen zu informieren, so untergrub die Vorstellung von dem, was als irakische Kultur vorgestellt wurde, die verkündeten Ziele der Invasion. Das »Soldatenhandbuch für den Irak« der First Infantry Division, erstmals 2003 publiziert, erklärt unter anderem, dass die arabische Weltsicht »Wunsch« und »Realität« gegenüberstellt. So werde beispielsweise das irakische „Verlangen nach Modernität durch die Sehnsucht nach Tradition konterkariert (besonders nach islamischer Tradition, da der Islam die einzige Sphäre ist, die von westlicher Identifikation und westlichem Einfluss frei ist). Der Wunsch nach sofortiger Demokratie und Modernisierung ist ein gutes Beispiel dafür, was ein Abendländer als den Widerspruch zwischen Wunsch und Realität ansehen würde.“ Wunschdenken und unrealistische Erwartungen sind allerdings Charakteristika vieler Gemeinwesen; US-AmerikanerInnen weigern sich notorisch, die zur Finanzierung der von ihnen geforderten qualitativ hochwertigen öffentlichen Schulen notwendigen Steuern zu zahlen. Lässt man die Ungenauigkeit dieser Kulturlektion außer Acht, so zeigt sich ihre Widersinnigkeit bezogen auf die Ziele des US-Einsatzes, weil bereits sehr umfänglich vom Weißen Haus die Sichtweise verbreitet wurde, dass mit dem Krieg die Demokratie in den Irak gebracht werde. Tatsächlich waren die US-SoldatInnen, die sich mit dem Handbuch befasst hatten, zu dem Zeitpunkt im Irak, als die IrakerInnen nach erheblicher Verzögerung im Januar 2005 zu den Wahlurnen gingen, um eine 275-köpfige Übergangsversammlung zu wählen. Welche Botschaft übermittelte das Militär nun an die SoldatInnen, von denen es erwartete, dass sie ihr Leben dafür einsetzten, damit IrakerInnen ihre Finger in violette Tinte tunken konnten? Es schien als hätten die Amerikaner die Iraker zwar von Saddam befreit, die IrakerInnen seien aber noch nicht bereit, das Beste daraus zu machen. Eine solche Ambiguität konnte für die Moral der US-Truppen nicht gut sein.

Das militärische Material zur Kulturschulung bestärkte auch das omnipräsente Bild eines konfessionsgebundenen Irak schon bevor Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen auftraten. Ein Feld der Smart Card zur irakischen Kultur aus dem Jahr 2004 zeigt die „kulturellen Gruppen im Irak“ – sunnitische und schiitische Araber, Kurden, Chaldäer, Assyrer und Turkmenen. Wenn eine Soldatin dieses Material sorgfältig liest, dann wird sie das folgende lernen: Araber sehen Kurden als Separatisten an, schauen auf Turkmenen herab und bewerten die Iraner negativ. Es bestehen Spannungen zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern. Kurden sind erkennbar feindlich gegenüber den irakischen Arabern eingestellt und misstrauen den Turkmenen. Es gibt wenige Interaktionen mit den Christen. Assyrer haben Verfolgung durch Kurden und Araber erlitten. Die Chaldäer misstrauen den Absichten der Kurden und Araber, und die Turkmenen fürchten die Kurden. Die einzige positive Beziehung besteht in den friedlichen Verbindungen, die die Chaldäer mit den Turkmenen haben, und darin, dass die Assyrer viel mit den Chaldäern gemeinsam haben.

Früher hatte die Smart Card die IrakerInnen derart porträtiert, dass sie alle einen einheitlichen Nationalcharakter haben, der sich in einigen Spiegelstrichen abbilden ließe. Aber in dieser Version des Bildes der seit über achtzig Jahren bestehenden irakischen Nation scheint es gar keine IrakerInnen mehr zu geben, die eine gemeinsame Basis in nationalem Interesse, Patriotismus oder Heimatliebe finden. Stattdessen scheint es, dass ethnische und/oder religiöse Spannungen alles andere überlagern. Anders formuliert: Den SoldatInnen wird beigebracht, dass der nationale Charakter des Irak hoffnungslos gespalten ist durch ethnische und konfessionelle Urfeindschaften.

Solches Material, das sämtliche SoldatInnen im Irak, die im Land auf Patrouille sind und die Bewegungsfreiheit der Menschen dort einschränken, in die Hände kriegen, bietet keine neutrale Information. Mit dieser Aussage soll keinesfalls die Gewalt entschuldigt werden, die sich die IrakerInnen gegenseitig antun. Es deutet aber vieles darauf hin, dass das US-Schulungsmaterial dazu beigetragen hat, dass sich Spaltungen herauskristallisierten, die vorher rudimentär waren, indem dem gewöhnlichen Soldaten nahe gelegt wurde, den US-Einsatz als Schutz der Schiiten vor den Sunniten zu verstehen, wie es viele getan haben, bevor der Bürgerkrieg eingehegt wurde. Während des Bürgerkrieges legten die Smart Cards den SoldatInnen nahe, interreligiöse Gewalt als etwas dem Irak oder der islamischen Welt Inhärentes und damit außerhalb menschlicher Kontrolle Stehendes zu sehen statt einen Kampf um Macht, Geld und Einfluss im Schatten des Krieges.

Etliche WissenschaftlerInnen schrieben über die konfessionelle Spaltung im Irak nach 2003 und wie die US-Politik diese entweder direkt oder indirekt ermutigt hat. Die Entscheidung Bremers, die Sitze in der Irakischen Übergangsregierung nach einem religiös-ethnischen Proporz zu besetzen, wurde beispielsweise von den IrakerInnen wiederholt, als die Ministerien in der Übergangsregierung von 2004 aufgeteilt wurden. Aber einzelne US-Soldaten, die mit den oberflächlichen Darstellungen der Smart Card ausgestattet wurden, haben auch zu einem Denken in den Kategorien konfessioneller Spaltung beigetragen, zu deren Kontrolle sie formal im Irak waren.

Der kulturelle Imperativ

Entsprechend des neuen militärischen Imperativs, kulturelle Aufmerksamkeit in den US-Streitkräften zu fördern, verfassten zwei für das »Army Research Institute for the Behavioral and Social Sciences« tätige zivile Psychologen, Allison Abbe und Stanley Halpin, den Beitrag »Der kulturelle Imperativ für die Ausbildung von Berufssoldaten und Führungsqualifikation«. In diesem Artikel schlagen sie Ansätze vor, um von – wie sie es formulieren – „kulturellem Wissen“ zu „inter-kultureller Kompetenz“ zu gelangen. Sie kritisieren das gegenwärtige Training über kulturbezogenes Wissen als ineffizient, weil „Regionen spezifische Schulung zwar beschreibende Fakten und Zahlen über eine bestimmte Szenerie zur Verfügung stellt“, aber die „Schwäche dieser Art von Trainings besteht darin, dass seine Wirksamkeit von der Qualität des Inhalts abhängt, welcher gelegentlich aufgrund eines übermäßigen Vertrauens zu Experten, die nicht über jüngste Erfahrungen aus der Region verfügen, ungenau oder inaktuell ist“.10 Wie bereits deutlich geworden sein sollte, enthält das in den ersten fünf Jahren der Besatzung produzierte Material erhebliche inhaltliche Fehler.

Interkulturelle Kompetenz, wie sie von Abbe und Halpin vorgeschlagen wird, hat drei Komponenten: Wissen, Affekt und Fachkenntnis, die „zusammen jene Fähigkeiten ausmachen, um in einer fremden Kultur zu arbeiten. Wissen fängt mit einem Bewusstsein über die eigene Kultur an und schließt das Verständnis von Kultur und kulturellen Unterschieden ein, muss jedoch zu einem zunehmend komplexen Verständnis der Quellen, Ausdrucksformen und Auswirkungen der jeweiligen Kultur übergehen. Affekt umfasst Einstellungen gegenüber fremden Kulturen und die Motivation, über sie zu lernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Fachkenntnis beinhaltet die Fähigkeit, die eigenen Reaktionen in einem interkulturellen Setting zu regulieren sowie die zwischenmenschliche Fertigkeiten und die Flexibilität, sich in die Perspektive einer Person aus einer anderen Kultur hineinzuversetzen.“ 11

Aber selbst wenn die neue Vorstellung des Militärs von Kultur SoldatInnen hervorbringt, die interkulturelle Kompetenz aufweisen, bestehen relevante Aspekte fort. Das Misslingen im Irak und in Afghanistan liegt nicht im Umgang mit der Kultur begründet, sondern an den Einstellungen – individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen, die gestattet und gefördert werden durch Haltungen und Politiken von US-Regierung und -Militär.

Die für diesen Beitrag interviewten IrakerInnen haben Geschichten berichtet, die diesen Aspekt illustrieren. Erstens haben sich die meisten IrakerInnen darüber beschwert, wie sie von den Amerikaner als Zivilisten behandelt wurden – unter dem Gesichtspunkt der Gefahr und des fehlenden Respekts. Die meisten haben direkte Verwandte, die unbeabsichtigt getötet, verletzt oder von US-Truppen beschossen wurden, als sie die Straße hinunterfuhren oder auf ihren Dächern standen. Sie finden, dass einige der SoldatInnen respektvoll auftreten, andere hingegen nicht, und verweisen auf solche Dinge wie Durchsuchungen mit Hunden, das Anfassen von Frauen durch männliche Soldaten und Fälle von Diebstahl. Aber am wichtigsten ist, dass die meisten auf die Frage, ob Kultur im Zusammenhang mit dem Auftreten des US-Militärs im Irak eine Rolle spielt, dies verneinten. Das Ende der Besatzung und allgemeiner Respekt – nicht im kulturellen Sinne, sondern als Respekt für ihr Land und die Fähigkeiten seiner Bevölkerung – wird als zentral angesehen.

Der Aspekt des Respekts ist hinsichtlich der Erfahrung der IrakerInnen mit AmerikanerInnen nach 2003 entscheidend. So sagte ein Feldwebel der Militärpolizei mit Blick auf eine Frage zur Nützlichkeit des Sensibilisierungstrainings: „Ich benötige keine Schulung, um Menschen respektvoll zu behandeln.“ Tatsächlich mag respektvolles Verhalten vor allem eine Frage der persönlichen Integrität und emotionalen Intelligenz sein – Eigenschaften, die viele US-SoldatInnen ohne Zweifel in großer Zahl haben. Aber SoldatInnen sind Ausführende von Politik, und Tatsache ist, dass die Invasion und die Besatzung Iraks nie basierte auf dem Wissen über bzw. dem Respekt vor IrakerInnen und ihren Leistungen. IrakerInnen wurden als Objekte der Befreiung betrachtet und später – um einen Begriff von Timothy Mitchell zu gebrauchen – als »Objekte der Entwicklung«. Diese Einstellung erforderte, dass die IrakerInnen akzeptieren, was ihnen gegeben wird, und Beschwerden nur bei vorgegebenen Foren vorbringen. Vom offiziellen US-Standpunkt aus war Respekt weder angestrebt noch notwendig.

Aufgrund des Inhalts, der für die neuen »Was ist Kultur«-Materialien vorgeschlagen wird, ist anzunehmen, dass US-SoldatInnen Einstellungen gegenüber anderen entwickeln sollen, die auf Anpassungsfähigkeit, Akzeptanz und Verzicht von Wertungen beruhen. Es ist ironisch, dass dieser höchst anthropologisch geprägte Ansatz, wie man sich Kultur nähern kann, nun Teil des Plans des Militärs ist, »Kultur zum Waffensystem« zu machen. Allerdings bleibt abzuwarten, ob ein solcher Einstellungswandel bei den Truppen tatsächlich greift. US-amerikanische Einstellungen gegenüber der Welt außerhalb der USA sind seit langem durchzogen von einem Gefühl des Auserwähltseins und der Überlegenheit – ein Gefühl, das durch das Kümmernis der Attacken vom 11 September verstärkt wurde und seitdem von fast jedem Politiker in der Nähe eines Mikrophons verbreitet wurde. Es scheint als könne der vorgeschlagene Wandel der Einstellungen der US-Truppen gegenüber Kulturen und Menschen, mit denen sie direkt in Berührung sind, in einem sanftmütigen Antlitz einer gewaltsamen imperialen Politik münden, die Invasionen und Besetzungen als gerechtfertigt, zukunftsfähig und ethisch versteht.

Anmerkungen

Der vorliegende Beitrag erschien in einer längeren Fassung zuerst im »Middle East Report« (www.merip.org). Wir danken für die Möglichkeit zum Abdruck.

1) Vgl. Sierra Vista Herald vom 19.04.2010.

2) Vgl. Hugh Gusterson: The US Military’s Quest to Weaponize Culture. In: Bulletin of the Atomic Scientists (June 2008); Keith Brown: ›All They Understand is Force‹: Debating Culture in Operation Iraqi Freedom. In: American Anthropologist 110/4 (2008); Hugh Gusterson (2010): The Cultural Turn in the War on Terror. In: John Kelley & Beatrice Jauregui & Sean T. Mitchell & Jeremy Watson (Hrsg.): Anthropology and Global Counterinsurgency. Chicago: University of Chicago Press.

3) Sheila Miyoshi Jager (2007): On the Uses of Cultural Knowledge. Carlisle, PA: US Army War College Strategic Studies Institute, November 2007, S. V.

4) David Price behauptet, dass ein solches Verwenden von anthropologischen Arbeiten zum Thema Kultur, die bis hin zur Verwendung ganzer Sätze aus einem Who is Who der Kulturanthropologie ohne entsprechende Erwähnung reicht, ein Flickenteppich aus Plagiaten ist. Vgl. Pilfered Scholarship Devastates General Petraeus‘ Counterinsurgency Manual. In: Counterpunch vom 30.10.2007.

5) James Petras: Procuring Academics for Empire: The Pentagon Minerva Research Initiative. In: Dialectical Anthropology 33/1 (2009); Hugh Gusterson: Project Minerva and the Militarization of Anthropology. In: Radical Teacher 86 (2009); Jeffrey Mervis: DOD Funds New Views on Conflict With Its First Minerva Grants. In: Science vom 30.01.2009.

6) Army Culture Education and Training Curriculum 2010, S.3.

7) Army Culture Education and Training Curriculum 2010, S.10.

8) Paul Nuti: Smart Card: Don’t Leave Military Base Without It, in: Anthropology News, Oktober 2006.

9) Rochelle Davis (mit Dahlia Elzein und Dena Takruri): Iraqi Culture and the US Military: Understanding Training, Experiences and Attitudes. In: Anthropology and Global Counterinsurgency (vgl. Fußnote 2).

10) Allison Abbe & Stanley Harpin: The Cultural Imperative for Professional Military Education and Leader Development. In: Parameters 39/4, Winter 2009-2010, S.21-22.

11) Ebd., S.24-25.

Rochelle Davis ist Mitherausgeberin des »Middle East Report« und lehrt als Assistant Professor für Anthropologie am Center for Contemporary Arab Studies an der School of Foreign Service an der Georgetown University. Übersetzt von Fabian Virchow

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 35–40