W&F 1999/3

Kurs Südost?

Nato-Erweiterung zieht neue Kreise

von Hans J. Gießmann

Wer beim Anziehen einer Jacke am Anfang den falschen Knopf erwischt, muss am Ende von vorn beginnen, egal wie gewissenhaft seine Bemühungen zwischenzeitlich auch sind. Das Fatale an der Sache ist, dass man selbst den Irrtum nicht sofort bemerkt. Ähnliches scheint im Zuge der NATO-Erweiterung zu passieren. Im April 1999 wurde in Washington der Abschluss der ersten Aufnahmerunde mit den neuen Mitgliedern Polen, Tschechien und Ungarn mediengerecht zelebriert. Der auf den ersten Blick gelungene Spagat zwischen der Ausdehnung der Allianz und ihrer Hinwendung zur Rolle einer Wächterin über Menschenrechte und Demokratie hat sich seither wie Mehltau über den einst kritischen Diskurs um die Zukunft der NATO gelegt. Das Bündnis wiegt sich in der Hochstimmung des als Sieg interpretierten Waffenstillstandes im Kosovokrieg. Gelegentlich aus Moskau zu vernehmende Misstöne werden mit kaum verhüllter Arroganz abgetan. Dass der für die NATO glückliche Ausgang ihrer militärisch alles auf eine Karte setzenden Strategie letztlich ohne russische Zurückhaltung und Vermittlung kaum erreicht worden wäre, zählt in Washington und Brüssel weniger als die Überzeugung, endgültig unter Beweis gestellt zu haben, wer nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa das Sagen hat. Immerhin verursachte – anders als noch vor zwei Jahren – die fast beiläufige Ankündigung der Allianz, die Tür zum Beitritt für weitere Staaten zu öffnen, selbst in Moskau wenig Aufregung. Nachdem die Frage des »Ob« entschieden ist, geht es für das Bündnis und für das ungefähre Dutzend weiterer Beitrittskandidaten – letztlich wohl auch für Russland – lediglich noch um das »Wer« und das »Wann«. Dass aber bereits der erste Schritt ein Fehler gewesen sein könnte, kommt kaum jemandem mehr in den Sinn, am wenigsten den Mitgliedern der NATO selbst. Falls dies jedoch zutrifft, wofür einiges spricht, fällt spätestens hier das eingangs gewählte Bild auseinander. Die harmlose Peinlichkeit einer falsch zugeknöpften Jacke ist folgenlos zu beheben. Die Erweiterung der NATO bietet diese Chance nicht. Verfehlt sie das Ziel, muss nach anderen Auswegen gesucht werden.

Am Ende des Ost-West-Konflikts waren sich die Allianzmitglieder einig, nicht aufzugeben was sich aus ihrer Sicht über vier Jahrzehnte als Bollwerk des europäischen Abschreckungsfriedens bewährt hatte. Zwar wurde insbesondere in Bonn frühzeitig der Wunsch geäußert, durch die Aufnahme der unmittelbaren Nachbarn in das Bündnis die deutsche Einheit nach Osten abzuschirmen. Die meisten NATO-Mitglieder nahmen die Interessen an einer Bündniserweiterung wohlwollend, jedoch zurückhaltend, zur Kenntnis. Anpassung vor Erweiterung hieß zunächst die Devise. Außerdem sollte eine offene Konfrontation mit Russland vermieden werden, über dessen Bereitschaft zum Widerstand gegen die schwelenden Erweiterungspläne zu diesem Zeitpunkt noch Ungewissheit herrschte. Bis Mitte der neunziger Jahre drängten vornehmlich die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa zu rascheren und verbindlicheren Schritten. Die erste Reaktion der Allianz auf die Beitrittsgesuche – eine ambivalente Mixtur aus Angeboten zur Zusammenarbeit und hinhaltendem Taktieren – vermochte nicht zu verhindern, dass der Druck auf eine zügige Erweiterung beständig zunahm. Letztlich wurden in Washington und Brüssel, hauptsächlich um den immer schnelleren Lauf der Dinge unter politische Kontrolle zu bringen, erst im Herbst 1995 die Wegweiser eindeutig auf die Erweiterung der NATO gestellt. Ohne sich damals auf bestimmte Staaten festzulegen, wurden erstmals Bedingungen genannt, deren Erfüllung eventuelle Beitrittskandidaten für eine engere Auswahl qualifizieren sollten:

  • Ihre Verpflichtung, die Normen und Prinzipien der OSZE anzuerkennen, insbesondere die Beilegung ethnischer und territorialer Konflikte, einschließlich irredentistischer Ansprüche oder innerer Rechtsangelegenheiten mit friedlichen Mitteln;
  • ihre Verpflichtung, durch wirtschaftlichen Liberalismus, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung Stabilität und Wohlfahrt zu fördern;
  • die Einführung einer angemessenen demokratischen und zivilen Kontrolle der Streitkräfte und
  • die Verpflichtung, mit ihren verfügbaren Ressourcen zu den Zielen und Aufgaben der NATO beizutragen.1

Die vorläufige Festlegung auf diese allgemeinen Kriterien machte dreierlei deutlich: Erstens sollte nur jenen Staaten das Privileg einer Mitgliedschaft eingeräumt werden, die unbeeinträchtigt durch innere oder äußere Konflikte keine potenzielle Gefahr für den durch unterschiedlich interpretierte Anpassungszwänge belasteten Bündniskonsens darstellten. Zweitens sollten sämtliche Verpflichtungen für die neuen Mitglieder ohne Einschränkung gelten, d.h. keinerlei Sonderrechte in Anspruch genommen werden dürfen. Beide Maßstäbe waren strenger als für die bereits in der Allianz vertretenen Mitglieder – um nur die Türkei für den einen, Norwegen und Frankreich für den anderen Fall zu nennen. Hinzu kam, drittens, dass die NATO sich das alleinige Recht vorbehielt unabhängig von der Erfüllung der Kriterien darüber zu entscheiden, wer Aufnahme in das Bündnis finden sollte – und wer nicht.

Bis zum 24. März 1999 schien auf diese Weise der Fahrplan der Bündniserweiterung klar umrissen. Die erste – von Moskau widerwillig tolerierte – Aufnahmerunde stand unmittelbar vor dem Abschluss. Slowenien und Rumänien, mit ungewisseren Vorzeichen die Slowakei und die baltischen Staaten, galten als aussichtsreichste Anwärter auf künftigen Zuschlag. Gleichwohl vor allem auch Bulgarien, die Ukraine, Makedonien, Kroatien und Albanien auf Berücksichtigung hoffen, fehlten sie bisher auf der heimlichen Liste der erklärten Favoriten. Dies könnte sich nach den jüngsten Entwicklungen ändern, vielleicht viel schneller als von der NATO erwartet.

Erweiterungspolitik unter veränderten Vorzeichen

Das Neue Strategische Konzept der NATO, im April in Washington beschlossen, hat ex post facto sanktioniert, was die Allianz vier Wochen zuvor bereits begonnen hatte: die offensive Anwendung militärischer Gewalt zur Durchsetzung kollektiver Interessen ohne ausdrückliche Rückendeckung durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Der Alleingang zielte auf eine Demonstration der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit der »neuen NATO« jenseits ihrer traditionellen kollektiven Verteidigungsfunktion. Er signalisierte zugleich das neue Selbstbewusstsein der Allianz, internationales Recht nach eigenen Vorstellungen auszulegen, falls dies – wie US-Verteidigungsminister William Cohen formulierte – der „Verteidigung eigener Interessen“ dient. Zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikt wähnt sich die NATO imstande, einen offenen Konflikt mit jedem Staat dieser Welt, selbst mit Russland und China, zu riskieren.

Nachdem keines der ursprünglichen Ziele der NATO im Kosovo-Krieg durch die Luftschläge wirklich erreicht worden ist, bleibt diese Demonstration das eigentliche Ergebnis des gewählten Vorgehens. Ihren Nachschlag fand sie in der arroganten Anmaßung, über den konkreten Beitrag Russlands zur KFOR-Friedenstruppe zu bestimmen. Es besteht wenig Zweifel: Die NATO hat das Zepter der Ordnungsmacht auf dem Balkan übernommen und sie wird es nach eigenen Aussagen für lange Zeit nicht aus der Hand geben. Nicht von der UNO und der OSZE, schon gar nicht von Russland wird sie sich diese Rolle streitig machen lassen.

Für die mittel- und osteuropäischen Staaten haben sich durch die jüngsten Entwicklungen eigene Hoffnungen und Erwartungen einmal mehr bestätigt. Deutlicher als zuvor dürften sie zu dem Schluss gelangt sein, dass nicht ein auf die OSZE gestütztes System regionaler kollektiver Sicherheit die Zukunft Europas prägen wird, sondern vielmehr die NATO als Bündnis der Stärksten, fähig zum Schutz seiner Mitglieder und zugleich entschlossen, deren Interessen notfalls auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen. Das Bestreben, selbst ein Teil dieses Machtkartells zu werden, ist nach dem Krieg nicht geringer geworden, wohl aber das Interesse an jeglichen Alternativen zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO. Dieses vorrangige Ziel hinterlässt bereits seine Spuren in konkreten Entscheidungen. Die auf direktes Drängen der NATO – nicht der UNO – in der ersten Juliwoche von Rumänien verfügte Verweigerung von Überflugrechten für das russische KFOR-Kontingent liefert hierfür ein präzedensloses Beispiel.

Während allerdings die meisten beitrittswilligen Staaten an der Türschwelle zur NATO gewöhnlich als Bittsteller auftreten, ließen jetzt mit Albanien und Makedonien ausgerechnet zwei Länder durch die Forderung nach unverzüglicher NATO-Mitgliedschaft aufhorchen, denen nach den Maßstäben der NATO auf absehbare Zeit eigentlich kaum Chancen eingeräumt wurden. Beide sind durch ethnische Konflikte und Irredenta betroffen, von einer funktionierenden Marktwirtschaft weit entfernt und viel zu schwach, um durch eigene Ressourcen die kollektive Verteidigung der NATO zu stärken. Zumindest in Albanien bestehen darüber hinaus berechtigte Zweifel an der tatsächlichen zivilen und demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. Das politische Kalkül beider Länder, nach dem Ende des Krieges dennoch bevorzugt behandelt zu werden, erscheint trotzdem nicht völlig abwegig. Die NATO hat sich ohne Not in eine Lage manövriert, die jetzt ihr gesamtes Erweiterungskonzept über den Haufen zu werfen droht.

Anders als bei den übrigen Beitrittskandidaten ist das Bündnis um der ureigenen Glaubwürdigkeit als Ordnungsmacht willen auf die direkte Unterstützung der Regierungen in Tirana und Skopje angewiesen. Beide Staaten haben erhebliche logistische Hilfe für den Aufmarsch der NATO-Truppen und die Bewältigung des Flüchtlingsstromes geleistet. Vor allem aber halten sie den Schlüssel für dauerhafte Stabilität im Umfeld des Kosovo in ihren Händen. Gerieten ausgerechnet hier die ethnischen Konflikte erneut außer Kontrolle, wäre die nächste Katastrophe vorprogrammiert, mit allerdings dem wesentlichen Unterschied einer wahrscheinlichen Verwicklung von NATO-Truppen in bewaffnete Kämpfe am Boden. Die vormalige NATO-Strategie des geringsten Risikos – die Anwendung von luft- und seegestützten Abstandswaffen – ist mit der Stationierung der KFOR-Truppen obsolet geworden. In Brüssel dürfte Klarheit darüber bestehen, dass ein stabiles Umfeld unverzichtbare Bedingung für das Ausbleiben neuer Kampfhandlungen ist und bleibt. Dies setzt allerdings voraus, dass in der Bevölkerung der beiden Länder – und natürlich im Kosovo selbst – der Anreiz, den Frieden zwischen den Volksgruppen zu erhalten, auf Dauer stärker wiegt als jener, politische Konflikte untereinander gewaltsam zu regeln. Von der gesicherten Anwesenheit dieser Voraussetzung ist aber nicht ohne weiteres auszugehen. Stützte sich die Hoffnung auf Frieden durch Stärke allein auf einen sich ausbreitenden Flickenteppich militärischer Schutzzonen zwischen verfeindeten Volksgruppen, könnte sich der Gewinn an Prestige für die NATO rasch verbrauchen.

Stabilitätstransfer durch politische und wirtschaftliche Strukturbildung

Das Dilemma für die NATO ist offenkundig: Sie hat ihr stärkstes Pulver bereits verschossen. Ihre Glaubwürdigkeit als wichtigster Sicherheitsanker Europas ist jetzt an den unbedingten Erfolg der Friedenserhaltung geknüpft. Die Fähigkeit, dies zu garantieren, wird aber durch ihre Mittel beschränkt. Weder ist sie strukturell und funktional berufen, innergesellschaftliche Konfliktursachen zu beseitigen, noch etwa ist ihr Erfolg vom künftigen Verhalten der beteiligten Konfliktparteien unabhängig. Die Eigendynamik der Spannungen auf dem Balkan existiert unbeeinflusst davon dass es die NATO gibt und kaum berührt durch deren Präsenz. In der erkennbaren Zwangslage zwischen politischem Anspruch und der Dysfunktionalität verfügbarer Mittel könnten sich die einst sorgsam bedachten NATO-Kriterien einer kontrollierten Erweiterungspolitik verflüchtigen. Tatsächlich stünden unter solchen Vorzeichen die Chancen einer vorgezogenen Aufnahme Rumäniens, Makedoniens und Albaniens nicht schlecht. Die scheinbar positiven Erfahrungen mit der NATO-Mitgliedschaft der Türkei und Griechenlands scheinen dies sogar zu bekräftigen. Allerdings spricht zum einen dagegen, dass die Konflikte zwischen diesen beiden Staaten bisher nicht durch die NATO, sondern stets durch direkte politische Intervention Washingtons eingedämmt wurden. Zum anderen zeigt gerade das Beispiel der Türkei, dass Mitgliedschaft in einem Militärbündnis weder vor ethnischer Repression im Innern des Landes feit, noch von grenzüberschreitenden Aggressionsakten abhält. So gesehen – und im Lichte der komplizierten sicherheitspolitischen Lage – verspricht die Aufnahme der Balkanstaaten in das Bündnis mehr als sie zu halten imstande ist.

Aus der Sicht der betreffenden Länder geht es allerdings auch um mehr als militärische Teilhabe und verlässlichere Sicherheitsgarantien. Die Balkanstaaten erhoffen sich vor allem die Hilfe des Westens für ihre eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung als Fundament stabilerer politischer Verhältnisse. Zwar kann genau dies die NATO nicht leisten, doch der Glaube in den Reformländern ist unerschütterlich, dass sich für Mitglieder der Allianz die Füllhörner westlicher Investoren eher öffnen als dies bei Außenstehenden der Fall ist. Ihr vehementes Drängen in die NATO entpuppt sich insofern vor allem als Reflex auf die zögerliche Stabilisierungspolitik der Europäischen Union und die stark unterentwickelte regionalwirtschaftliche Zusammenarbeit in Mittel- und Südosteuropa. Der anvisierte Stabilitätspakt für den Balkan setzt deshalb zwar ein richtiges Signal – allerdings viel zu spät und aller Voraussicht nach nicht ausreichend. Frieden und Stabilität werden auf dem Balkan erst reifen wenn hierfür der politische, wirtschaftliche und soziale Humus vorhanden ist. Wird dies nicht durch gezielte Strukturbildung gefördert, wird die Neigung zur gewaltsamen Durchsetzung von Interessen innerhalb und zwischen den schwachen Demokratien früher oder später erneut die Oberhand gewinnen.

Der erhoffte Stabilitätstransfer durch die schrittweise Erweiterung eines Militärbündnisses ist und bleibt ein Trugbild. Die Konfliktrisiken auf dem Balkan sind durch militärische Präsenz, so stark sie auch sein mag, letztlich nicht einzudämmen. Je eher dies erkannt und durch geeignetere Konzepte ersetzt wird, um so günstiger wären die Aussichten auf Frieden.

Anmerkungen

Anmerkung

1) Study on NATO Enlargement, September 1995, S. 25, Par. B 72.

PD Dr. Hans-Joachim Gießmann arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/3 Tödliche Bilanz, Seite