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W&F 1997/1

Lehre in Friedenspsychologie an deutschsprachigen Universitäten: Eine Bestandsaufnahme für 1992 bis 1994*

von Gert Sommer / Ulrich Wagner

Angesichts der weltweit in Anzahl und Ausmaß unverändert sich fortsetzenden gewalttätigen und kriegerischen Auseinandersetzungen sollte die Behandlung des Themas Frieden zu den wesentlichen Aufgaben universitärer Forschung und Lehre gehören (zur Begriffsbestimmung von Frieden und Gewaltlosigkeit vgl. Galtung, 1975; Kempf, Frindte, Sommer & Spreiter, 1993; Sommer, in Druck; zur allgemeinen akademischen Friedenslehre siehe Kinkelbur, 1994; zur Analyse der allgemeinen Friedensforschung und -lehre in Nordrhein-Westfalen vgl. Lammers & Schmidt, 1994). Diese Aufgabe sollte auch psychologische Fragestellungen umfassen (R.V. Wagner, 1988).

Ziel der hier vorgestellten Befragung war es, die aktuelle Repräsentanz von Friedenslehre in der universitären Ausbildung im Fach Psychologie zu ermitteln. Im Frühjahr 1994 wurden dazu alle deutschsprachigen Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Psychologischen Instituten bzw. Fachbereichen angeschrieben, die einen Studiengang mit Hauptdiplom in Psychologie anbieten (Klassifikation A im Anschriftenverzeichnis des Psychologen-Kalenders, Hogrefe, 1994; bei mehreren Instituten an einer Universität wurden alle angeschrieben). Die Empfänger wurden gebeten, in einem Fragebogen zu beschreiben, ob in dem viersemestrigen Zeitraum zwischen Wintersemester 1992/3 und Sommersemester 1994 Lehrveranstaltungen aus sieben von uns vorgegebenen Themen der Friedenspsychologie angeboten wurden. Darüber hinaus wurde nach der Häufigkeit des Angebotes dieser Veranstaltungen und dem Umfang der Friedensthematik in den genannten Veranstaltungen gefragt. In dem eine Seite langen Fragebogen wurden die Antwortkategorien vorgegeben, zudem waren kurze inhaltliche Stellungnahmen möglich.

Von den 60 angeschriebenen Universitäten haben 31 geantwortet; davon haben 23 im Untersuchungszeitraum mindestens eine Veranstaltung zum gegebenen Themenbereich angeboten. Die insgesamt gemeldeten 35 Veranstaltungen waren von den Befragten wie folgt den vorgegebenen Themenblöcken zugeordnet worden (Mehrfachnennungen waren möglich):

  • Ethnische und nationale Vorurteile und Feindbilder: 11
  • Psychologische Bedingungen von Gewalt und Gewaltlosigkeit: 9
  • Gewaltfreie Konfliktlösungen: 8
  • Politische Einstellungen und Konflikte: 4
  • Auswirkungen von Krieg und Kriegsdrohung: 2
  • Psychologische Aspekte von Rüstung und Abrüstung: 1
  • Psychologische Dimensionen von Kriegsursachen: 1.

Die Befragten wiesen einer Restkategorie „sonstige“ sieben weitere Veranstaltungen mit den folgenden Themen zu: Rechtsextremismus/Ausländerfeindlichkeit, Masse und Massenhandeln, Zivilcourage, Menschenrechte, politische Psychologie, Beziehungskonflikte, Macht in Psychotherapien.

Aus der Aufstellung wird deutlich, daß der Großteil der Nennungen sich auf klassische sozialpsychologische Themen bezieht (die 20 Nennungen unter den Kategorien 1 und 2): Vorurteile und Gewalt. Darüber hinaus haben zwei Veranstaltungen eine primär klinisch-psychologische Orientierung. Lehrveranstaltungen mit dem engeren Schwerpunkt Friedenspsychologie sind also wenig vertreten. Anders gewendet kann festgestellt werden, daß friedenspsychologische Themen in einigen sozialpsychologischen Lehrveranstaltungen durchaus behandelt wurden.

Bezogen auf die Häufigkeit bzw. Regelmäßigkeit des Veranstaltungsangebots ergibt sich, daß 6 der insgesamt 35 gemeldeten Veranstaltungen in jedem Semester angeboten werden, 6 in jährlichem und 3 in zweijährigem Rhythmus. 15 Veranstaltungen gehören somit zum regelmäßig wahrnehmbaren Angebot der jeweiligen Universitäten. Von diesen regelmäßigen Lehrveranstaltungen sind 5 sozialpsychologische Vorlesungen bzw. Seminare. Der Anteil von regelmäßigen Lehrveranstaltungen zum Thema Friedenspsychologie im engeren Sinne ist somit gering.

Die Befragten waren schließlich gebeten anzugeben, welchen Anteil die oben genannten sieben friedenspsychologischen Themenbereiche an den Veranstaltungsinhalten ausmachen. Dabei ergab sich folgende Klassifikation in die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten:

  • 100<0> <>% der Inhalte: 4 Veranstaltungen
  • mindestens 50<0> <>%: 2
  • mindestens 25<0> <>%: 9
  • weniger als 25<0> <>%: 8
  • keine Angaben: 12.

Insgesamt ist somit das Angebot an Veranstaltungen, die sich inhaltlich überwiegend – d.h. mit mindestens 50<0> <>% – mit dem Thema Friedens- und Konfliktforschung befassen, mit einer Zahl von 6 Veranstaltungen ausgesprochen gering. Die Themen dieser Veranstaltungen lauten: Friedens- und Konfliktforschung, Zivilcourage, Krieg – Ausdruck gesellschaftlicher Krankheit?, Flüchtlingsprojekt, Ist unser Land ein volles Boot?, Forschungsseminar Friedensforschung.

Werden die Merkmale „Regelmäßigkeit einer Lehrveranstaltung“ und „Anteil an Friedenspsychologie“ kombiniert, dann ergibt sich folgendes Ergebnis: Von den 15 regelmäßig angebotenen Lehrveranstaltungen haben lediglich zwei einen substantiellen Anteil ( 50<0> <>%) an friedenspsychologischen Themen (vier weitere haben einen Anteil von 25<0> <>%). Dies bedeutet, daß an allen deutschsprachigen Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammengenommen pro akademischem Jahr regelmäßig insgesamt eine Lehrveranstaltung angeboten wird, die sich substantiell mit friedenspsychologischen Themen beschäftigt.

Wenn wir die gemeldeten Lehrveranstaltungen nach ihren Titeln und nicht nach den von uns vorgegebenen sieben Themenschwerpunkten analysieren, dann befassen sich sechs Veranstaltungen mit Rechtsextremismus bzw. Fremdenfeindlichkeit, also einem Thema, das zumindest zum Befragungszeitraum in Deutschland und Europa von großer gesellschaftspolitischer Relevanz war. Drei dieser Veranstaltungen wurden explizit nur einmal angeboten.

Die Ergebnisse unserer Befragung machen deutlich, daß das Thema »Frieden« in der deutschsprachigen akademischen Lehre in der Psychologie nur unangemessen repräsentiert ist. Denkbar ist natürlich, daß an einigen Universitäten, die auf unsere Anfrage nicht geantwortet haben, weitere Lehrveranstaltungen zum Thema Friedenspsychologie angeboten werden. Wir halten dies aber nicht für wahrscheinlich, da auch mit weiteren Recherchen (u.a. Lammers & Schmidt, 1994; jährliche Fachtagungen zur Friedenspsychologie) keine zusätzlichen Lehrangebote ausfindig zu machen waren.

Mit der – gemessen an der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas – offensichtlich unzureichenden Behandlung von Friedenspsychologie in der deutschsprachigen akademischen Lehre besteht nicht nur die Gefahr, daß die deutschsprachige Psychologie mehr und mehr in die Situation gerät, an einer bedeutsamen Entwicklung in der internationalen Psychologie nicht teilzuhaben (vgl. Sleek, 1996); darüber hinaus ist zu erwarten, daß die relevanten psychologischen Aspekte der Entstehung von Konflikten und Kriegen, der gewaltfreien Konfliktaustragung und der Herstellung von Frieden nur unzureichend Berücksichtigung finden – mit den entsprechenden sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen.

Literaturverzeichnis

Galtung, J. (1975). Strukturelle Gewalt. Hamburg: rororo.

Kempf, W., Frindte, W., Sommer, G. & Spreiter, M. (Hrsg.)(1993). Gewaltfreie Konfliktlösungen. Heidelberg: Asanger.

Klinkelbur, D. (1994). Akademische Friedenslehre. In B. Dietrich, P. Krahulec, C. Ludwig-Körner & K. Seyffarth (Hrsg.), Den Frieden neu denken (S. 171-188). Münster: Agenda.

Lammers, C. & Schmidt, H. (1994). Zum Stand der Friedenswissenschaft (Friedensforschung, Friedenslehre) an den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen. Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW.

Sleek, S. (1996). Psychologists building a culture of peace. The APA Monitor, 27,1.

Sommer, G. (in Druck). Internationale Gewalt: Friedens- und Konfliktforschung. In H.W. Bierhoff & U. Wagner (Hrsg.). Aggression und Gewalt. Stuttgart: Kohlhammer.

Wagner, R.V. (1988). Distinguishing between positive and negative approaches to peace. Journal of Social Issues, 44, 1-15.

Anmerkung

* Teile des vorliegenden Beitrages wurden auf der 7. Tagung Friedenspsychologie, 24.-26. Juni 1994 in Konstanz vorgestellt.

Der Artikel erschien soeben in Psychologische Rundschau, 1997, Heft 48. Wir danken dem Hogrefe-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie und Dr. Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Phillips-Universität Marburg

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/1 Neben-einander – Gegen-einander – Mit-einander, Seite