W&F 2010/3

Lehren aus Afghanistan

Zehn Thesen und ein Plädoyer

von AFK

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) haben die Situation in Afghanistan analysiert und einige allgemeine friedenspolitische Lehren aus dem Fall Afghanistan gezogen, die sie in zehn Thesen zusammen gefasst haben. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine Neuorientierung der Politik hin zu einen konsequenten Ausbau der nicht-militärischen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung unerlässlich ist.

Mit dem Luftschlag von Kundus am 4. September 2009 hat die deutsche Afghanistanpolitik ihre »Unschuld« verloren. Nach jahrelangen Beschönigungen, Vertuschungen und Halbherzigkeiten braucht diese Politik nun endlich Ehrlichkeit, Offenheit und Konsequenz. Die Bundeswehr hat auf ihrem langen Weg zur Einsatzarmee in Afghanistan den Rubikon hin zu Kampfeinsätzen im Rahmen eines asymmetrischen Konflikts überschritten und sich in einen Krieg verstrickt. Dringend erforderlich ist daher nicht nur eine schonungslose Überprüfung der deutschen Afghanistanpolitik, sondern darüber hinaus eine Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik im Allgemeinen.

Wie es mit Afghanistan weitergehen wird, weiß niemand. Nach unserer Auffassung sind es vor allem drei Problemfelder, die im Interesse einer friedlichen Entwicklung in dem geschundenen Land einer konstruktiven Bearbeitung bedürfen: die »Afghanisierung« der Sicherheit, die innerafghanische Versöhnung und das regionale Umfeld.

Erste These: Der afghanische Staat wird vermutlich auf lange Sicht wesentliche Kernfunktionen nicht effektiv ausüben können.

Dies gilt insbesondere für die Durchsetzung eines flächendeckenden Gewaltmonopols. Daher ist es eine Illusion zu glauben, durch den beschleunigten Aufbau einer nationalen personalstarken Armee und Polizei könnte schon bald das Ziel „sich selbst tragender Sicherheitsstrukturen“ erreicht werden. Um verlässliche Sicherheit zu gewährleisten, bedarf es vielmehr der Ausbildung und Stärkung lokaler Sicherheitsstrukturen im Kontext eines von der afghanischen Gesellschaft selbst getragenen Aushandlungs- und Versöhnungsprozesses.

Zweite These: Der Prozess des Ausgleichs und der Versöhnung muss die »Aufständischen« bzw. die »Taliban einschließen.

Dies setzt voraus, sich von eindimensionalen Feindbildern zu verabschieden, die sehr heterogene Gruppierungen von lokalen Gewaltakteuren mit recht unterschiedlichen Interessen und Motiven pauschal zum »Gegner« erklären. Die geduldige Klärung von Streitfragen in einem langwierigen Verhandlungsprozess dürfte allerdings nicht leicht fallen. In Anbetracht der allseits eingestandenen Nichtgewinnbarkeit des Krieges durch die aus- und inländischen Truppen kann es letztlich nur eine Verhandlungslösung geben.

Dritte These: Zu einer dauerhaften Stabilisierung Afghanistans kann es nur kommen, wenn es dafür ein gedeihliches regionales Umfeld gibt.

Hierzu bedarf es eines auf Frieden zielenden Verhaltens der Staaten und Regionalmächte in der engeren und weiteren Umgebung Afghanistans. Dies gilt besonders für Pakistan, das am unmittelbarsten und intensivsten in die afghanische Krise verstrickt ist. Doch gilt es auch andere Länder der Region wie Russland, China und Indien, den Iran und die Türkei sowie die zentralasiatischen Anrainerstaaten in eine tragfähige regionale Sicherheitsarchitektur zur Stabilisierung Afghanistans einzubeziehen.

Allgemeinen friedenspolitischen Lehren

Welche allgemeinen friedenspolitischen Lehren sind aus der verfahrenen Lage in Afghanistan zu ziehen?

Vierte These: Mit militärischen Mitteln kann der islamistisch inspirierte Terrorismus nicht nachhaltig eingedämmt werden.

Der militärisch geführte »Anti-Terror-Krieg« hat eher zur Erosion völker- und menschenrechtlicher Normen sowie zur Unglaubwürdigkeit des Westens als Wertegemeinschaft beigetragen. Erforderlich sind demgegenüber diplomatisch-politische, polizeilich-juristische, entwicklungspolitische sowie integrations- und kulturpolitische Herangehensweisen und Methoden. Zudem scheinen mittlerweile von »hausgemachten« Terroristen in den Ländern des Westens größere Gefahren auszugehen als von fernen Gesellschaften in Afghanistan, Somalia oder im Jemen.

Fünfte These: Asymetrische Kriege sind militärisch nicht gewinnbar

Historisch-komparative Untersuchungen über Aufstandsbewegungen, Erhebungen gegen Fremdherrschaft und asymmetrische Gewaltkonflikte haben deutlich gemacht, dass derartige Kriege in der Regel nicht im klassischen militärischen Sinne »gewonnen« werden können, da es sich hierbei stets eher um soziale und politische als um militärische Konflikte handelt.

Sechste These: Politische Prävention ist sinnvoller als militärische Intervention

Eine frühzeitige nicht-militärische Prävention in Krisen ist einer aufwendigen und langwierigen, militärisch gestützten, reaktiv-kurativen Krisenbearbeitung vorzuziehen. Eine effektive Krisenprävention kann dazu beitragen, selbst solche, durch fragwürdige Politiken westlicher Staaten mit verursachten Krisenlagen wie Afghanistan gar nicht erst entstehen zu lassen. Hier sei nur auf die langjährige Vernachlässigung des Landes durch den Westen nach dem Abzug der Sowjets sowie an das zögerliche und defizitäre internationale Engagement in den ersten Jahren des Wiederaufbaus verwiesen.

Siebte These: Das Projekt des »Staaten bauens« muss mit Bescheidenheit und ohne Illusionen betrieben werden

Die Fähigkeit externer Akteure zur Kontrolle und Steuerung komplexer sozialer Dynamiken in fremden Gesellschaften in einem gewünschten ordnungspolitischen und normativen Sinn (nämlich des Modells des liberalen OECD-Staates mit Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten) wird weit überschätzt. Letztlich können nur eigenständige Prozesse der Staatsbildung zum Ziel führen und nur solche können von außen unterstützt werden. Daher sind zahlreiche externe Versuche, ob mit oder ohne militärische Mittel, Staaten nach westlichem Muster zu formen, weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben, oder ganz gescheitert. Dies gilt auch für Afghanistan.

Achte These: Zivile Konfliktbearbeitung in Krisenregionen ist friedenspolitisch unabdingbar.

Unrealistisch ist ein sozialtechnologischer Machbarkeitsglauben, der in fremden Gesellschaften mit Hilfe des Militärs »Frieden schaffen«, »Staaten bauen« oder »Stabilität herstellen« will. Vielmehr ist in diesen Gesellschaften eine intensive Förderung von eigenständiger lokaler Konfliktbearbeitung vonnöten. Denn die Hauptakteure in Friedensprozessen sind die in den Krisenregionen lebenden Menschen. Friede kann nie von außen implantiert werden, sondern muss von innen her wachsen. Daher gilt es, lokale Kapazitäten für den Frieden zu stärken und politische Räume für die Entfaltung eigenständiger Friedensprozesse zu eröffnen oder zu weiten.

Neunte These: Deutschland muss seinen Aktionsplan zur zivilen Krisenprävention konsequent umsetzen.

Unbestreitbar hat es in den letzten Jahren in konzeptioneller und organisatorischer Hinsicht friedenspolitische Fortschritte gegeben. Einen Höhepunkt stellte im Jahr 2004 die Verabschiedung des »Aktionsplans Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« durch die Bundesregierung dar. Doch mangelt es dem Aktionsplan bis heute an einem deutlichen Umsetzungswillen der Politik sowie an einer klaren regionalen und sektoralen Prioritäten- und Schwerpunktsetzung. Dem koordinierenden Ressortkreis fehlt es nach wie vor an politischer Steuerungskompetenz und Ressourcen. Der anhaltende Ressort-Egoismus behindert eine bessere Abstimmung zwischen den Ministerien. Schließlich ist es nicht gelungen, die Anliegen ziviler Krisenprävention auf wirkungsvolle Weise in der Öffentlichkeit zu propagieren. Daher fordern wir nachdrücklich eine politische Aufwertung des Konzepts und der Agenda ziviler Krisenprävention sowie einen massiven Ausbau der Infrastruktur und Ressourcenausstattung ziviler Konfliktbearbeitung.

Zehnte These: Eine kritische Evaluierung der Auslandseinsätze der Bundeswehr ist überfällig.

Wenn auch nicht von einer umfassenden »Militarisierung« der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik zu sprechen ist, so ist doch unverkennbar, dass es zu einer wachsenden Kluft zwischen militärischen Einsätzen und ziviler friedenspolitischer Konfliktbearbeitung sowie bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit zu einer Dominanz des Militärischen gekommen ist. Zudem ist die friedenspolitische Bilanz von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durchaus strittig. Eine unabhängige, umfassende und kritische Evaluierung dieser Einsätze ist daher, nicht zuletzt angesichts ihrer immensen Kosten, dringend geboten.

Thesen und Lehren fordern ein Fazit:

Plädoyer für nichtmilitärische Krisenprävention und zivile Komnfliktbearbeitung

In der überfälligen Debatte über deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik ist eine nachhaltige Neuorientierung dieser Politik zugunsten des zivilen Elements anzustreben. Der wohlfeilen politischen Rhetorik muss endlich die realpolitische Substanzausfüllung des Konzepts ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung folgen. Das überkommene Ungleichgewicht zwischen militärischen und zivilen Fähigkeiten, Kapazitäten und Ressourcen gilt es zu überwinden. Gerade der Fall Afghanistan zeigt deutlich diese schon lang anhaltende Schieflage zwischen militärischen und zivilen Mitteln und bekräftigt die Erkenntnis, dass Militär ein in seiner Wirkung immer wieder weit überschätztes, immens teures und letztlich untaugliches Instrument nachhaltiger Konfliktbearbeitung und Friedenspolitik ist.

Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Frieden- und Konfliktforschung (AFK): Dr. Barbara Müller, Prof. Dr. Berthold Meyer, Prof. Dr. Volker Matthies, PD Dr. Thomas Kater, M.A. Sandra Dieterich, Wilhelm Nolte, Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, M.A. Jutta Viebach, Christoph Werthmann.
Die Langfassung des Dokuments kann eingesehen werden unter »volkermatthies@t-online.de«

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/3 Afghanistan: Krieg ohne Ende, Seite 37–38