W&F 1995/2

Lernen aus Hiroshima und Nagasaki

Die Verantwortung der Naturwissenschaftler

von Hans-Peter Dürr

In dieser Vortragsreihe bin ich wohl der einzige, der nicht direkt mit der Vorbereitung und Entwicklung der Atombomben zu tun hatte. Es hat sich jedoch so ergeben, daß ich in Verbindung mit meiner wissenschaftlichen Laufbahn als Kernphysiker und Elementarteilchenphysiker in engen Kontakt mit Wissenschaftlern kam, die während des Krieges direkt oder indirekt mit der Entwicklung der Bombe und dem damit verbundenen Fragenkomplex befaßt waren. Ich war auf diese Weise persönlicher Zeuge einiger ihrer Gedanken, Ängste und Schlußfolgerungen. So habe ich insbesondere 1953 – 1957 an der Universität Kalifornien in Berkeley mit Edward Teller, dem sog. »Vater der Wasserstoffbombe«, wissenschaftlich gearbeitet und bei ihm 1956 promoviert. Anschließend war ich am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und München fast 17 Jahre enger Mitarbeiter von Werner Heisenberg, dem Entdecker der Quantenmechanik und wissenschaftlichen Leiter des deutschen Uranprojekts am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik (dem Vorläufer des MPI für Physik) in Berlin-Dahlem und Hechingen während des Krieges. Lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zu meiner persönlichen Entwicklung beginnen, um Ihnen deutlich zu machen, auf welche Weise und in welcher Absicht ich überhaupt in diese Welt geraten bin.

Die schrecklichen Erlebnisse des Krieges, in dem ich am Ende, mit Panzerfaust und Pistole bewaffnet, als 15-jähriger im Volkssturm noch die Heimat verteidigen sollte, und die große Verwirrung der schweren Nachkriegszeit ließen mich ratlos und in einer »ohne-mich«-Stimmung zurück. Mein Vertrauen in die Vernunft der Erwachsenen und ihre Glaubwürdigkeit war tief erschüttert, ohne daß ich ihnen dabei große Schuld zuordnete, weil ich sah, wie sehr sie selbst verunsichert und verloren waren. Diese Umstände verstärkten meinen Wunsch, mich mit Fragen auseinanderzusetzen, die nicht von der Autorität und der Meinung von Menschen abhängen. Insbesondere faszinierten mich die Grundfragen der Naturwissenschaften und hier vor allem die moderne Physik, die Quantenmechanik, die ich 1946 neben der Schule in Abendkursen an der Volkshochschule erstmals kennenlernte. Seit ihrer Rückkehr aus der Internierung in England waren Werner Heisenberg und Max von Laue meine Vorbilder, obwohl ich damals nur ganz wenig von ihnen wußte.

Aber zunächst wollte ich mich einmal selbst in der Welt umsehen. Nach Abschluß meines Physikdiploms mit einer experimentellen Arbeit über die Messung kernmagnetischer Momente 1953 bot mir ein Stipendium der Universität Kalifornien in Berkeley hierzu eine hervorragende Chance. Eine ärgerliche Verschleppung meiner Einreise in die USA um ganze drei Monate – wegen einer damals in der McCarthy-Ära erforderlichen zusätzlichen Überprüfung aller einreisenden »Kernphysiker« durch das State Department – sollte für mich zu einer erfreulichen Weichenstellung führen, da ich kurzerhand die Entscheidung fällte, nach meiner stark geschrumpften Stipendienzeit nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern in Berkeley zu promovieren.

Im Herbst 1953 war damals gerade im Schatten des Oppenheimer-Teller Disputs Edward Teller mit einer großen Schar von Kernphysikern des Manhattan-Projekts von Los Alamos nach Kalifornien übergesiedelt, um in Livermoor ein neues Laboratorium für Wasserstoffbomben aufzubauen. Ich hatte selbstverständlich von diesem Hintergrund keine Ahnung, als ich nach einem geeigneten Doktorvater suchte und ihn in Edward Teller fand, der Anfang der dreißiger Jahre bei Heisenberg promoviert hatte.

So sah ich mich intellektuell auf einmal voll mit der prinzipiellen Ambivalenz der Wissenschaft konfrontiert: Ich war ausgezogen, »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«, und war dabei notwendig bei der aufregend neuen Atomphysik von Heisenberg, die der Physik einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel beschert hatte, gelandet und wurde nun im Kreise meines neuen Lehrers und meiner Kollegen täglich mehr gewahr, zu welch schrecklicher Massenvernichtungswaffe diese tieferen Einsichten geführt hatten. Und es war nicht nur ich, der darüber erschrak und sich ernsthafte Gedanken darüber machte. Die Universität in Berkeley brodelte damals vor Kraft, Intelligenz und Engagement, die sich auf eine Vielzahl von Themen erstreckten.

Es war nicht nur die Zeit, in der man in der Teilchenphysik den ersten Resultaten über Antimaterie am Bevatron auf dem Radiation Hill entgegenfieberte, sondern vor allem auch die Zeit der großen Auseinandersetzungen über die neuen, unheimlichen Kräfte, welche die Physiker entfesselt hatten, und die sie nun wieder geeignet einzufangen versuchten.

Ich habe damals beispielhaft gelernt, was eine lebendige Demokratie zu leisten vermag. Ich erlebte, wie politisches Engagement nicht eine Sache von redegewandten Parteigängern bleiben muß, sondern, gesellschaftspolitisch interpretiert, eine gern wahrgenommene und mit Engagement ausgeführte Pflicht jedes Einzelnen, insbesondere auch der Universitätsprofessoren, sein kann. Die politischen Auseinandersetzungen wurden in aller Schärfe und trotzdem in großer Fairness ausgefochten. Doch gab es in der McCarthy-Ära auch einige schlimme und für die Betroffenen schmerzhafte Entgleisungen »von oben«. So wurden Universitätsbedienstete, Professoren und anderes Personal, die den ihnen vom Staat in der McCarthy-Zeit abverlangten »Loyality Oath« nicht unterschreiben wollten, von der Universität entlassen. In diese Zeit platzten die Teller-Oppenheimer Anhörungen herein, die das Lager der Physiker spalteten und letztlich den Boden bereiteten für die bis heute aktiven verantwortungsorientierten Wissenschaftlerorganisationen wie die Federation of American Scientists, Union of Concerned Scientists, Educational Foundation for Nuclear Science, Pugwash Conferences of Science and World Affairs u.a.

Diese aufregende Zeit in Berkeley riß mich aus meiner »ohne-mich«-Haltung und verwandelte mich in einen passionierten Grenzgänger. Es wurde mir damals klar, daß die Schuld der Verstrickten meist viel kleiner ist, als ihnen von den Nichtbeteiligten zugeschrieben wird, daß sie aber größer ist, als die Verstrickten selbst glauben. Ihre Hauptschuld liegt gewöhnlich darin, nicht frühzeitig und entschieden genug einer verhängnisvollen Entwicklung entgegengetreten zu sein. Es war die Vorstellung eines intensiven gesellschaftspolitischen Engagements, die mich neben meiner beruflichen Karriere 1958 wieder nach Deutschland und dort zu Heisenberg nach Göttingen führte.

Aber dann kam es ganz anders. Die Faszination, mit Werner Heisenberg eine fundamentale einheitliche Quantenfeldtheorie der Materie zu konzipieren, schlug mich in den folgenden Jahren völlig in den Bann, so daß mir kaum mehr Zeit und Phantasie für gesellschaftspolitische Aktivitäten blieben. Ich war damals also ein »typischer« Wissenschaftler. Eigentlich erst in den frühen siebziger Jahren, als ich neben meiner Forschungstätigkeit als Direktor des Max-Planck-Instituts Leitungsaufgaben übernehmen mußte und auf diese Weise vermehrt mit gesellschaftlichen Problemen in Kontakt kam, ließ ich mich wieder auf solche Fragestellungen ein. Auftakt waren damals insbesondere die Fragen im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie.

Hiroshima und Nagasaki

Daß wissenschaftlich-technische Errungenschaften für die Konstruktion von Waffen verwendet werden, war wahrhaftig kein Novum. So wurde der Krieg ja seit jeher geradezu als »Vater aller Dinge« bezeichnet. Trotz der Entsetzlichkeit der Herstellung und des Einsatzes von Giftgas im Ersten Weltkrieg sollte die Entwicklung der Atombomben, der Uranbombe und der Plutoniumbombe, und deren Abwurf im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki nicht einfach als ein weiterer bedauerlicher Ausrutscher betrachtet werden, sondern kennzeichnet eine tiefgreifende irreversible Veränderung, einen »Sündenfall« der Wissenschaft.

Mit der Entfesselung der in den Atomkernen gebundenen Energie wurde den Menschen ein Energiepotential zugänglich, das millionenmal größer als die chemisch aufschließbaren Energien der Atomhülle sind: Ein Kilogramm U-235 ist energetisch äquivalent etwa einer Kilotonne TNT Sprengstoff. Diese millionenfach verstärkte Kraftwirkung versetzt den Menschen in eine total veränderte Lage, die außerhalb seiner bisherigen individuellen und stammesgeschichtlichen Erfahrung liegt.

Menschliche Aktivitäten, wie auch die energetischen Umsätze der Biosphäre, waren bisher im wesentlichen von der täglichen Energieeinstrahlung der Sonne bestimmt. Sie ist auch der Motor der Evolution des Lebens. Dieser Energiedurchfluß führt zu einer teilweisen Umkehr der durch den 2. Hauptsatz der Thermodynamik charakterisierten Prozesse, die durch eine Entropievermehrung, eine unaufhaltsame Zerstörung von Besonderheit und Differenzierung gekennzeichnet ist. Verstärkte Energiedurchflüsse vergrößern im allgemeinen nur diese Zerstörung, diesen Trend zur Unordnung, wenn sie nicht in ein konstruktives Zusammenwirken, ein Plus-Summenspiel eingebunden sind. Abbauprozesse, Zerstörung, Null-Summenspiele können beliebig beschleunigt werden, Aufbauprozesse, Wertschöpfung, Plus-Summenspiele benötigen dagegen immer Zeit.

Waren die Atombomben mit größtem Einsatz an Intelligenz und Material in den USA entwickelt worden, um Hitlerdeutschland dabei zuvorzukommen, so wurden sie, wegen der frühzeitigen Niederwerfung Deutschlands, erstmals in Japan »angewendet«, mit der Begründung, den Krieg dort unter höchstmöglicher Schonung eigener Truppen schnell zu beendigen. An der Vorbereitung dieser ersten Atombombenabwürfe waren noch Wissenschaftler beteiligt, nicht jedoch an der Entscheidung, dies auch wirklich auszuführen.

Hier wurde anschaulich klar, daß mit der Atomenergie der Mensch nicht nur in die Größenordnung natürlicher großräumiger Energieumwandlungen vorgestoßen war, sondern daß die Menschen eine Waffe entwickelt hatten, die letztlich zu ihrer eigenen Zerstörung als Gattung ausreichte. Diese drohende existentielle Gefahr schien jedoch gleichzeitig die Chance zu bieten, den Krieg als »Politik mit anderen Mitteln« endgültig zu verabschieden und ihn durch angemessenere nicht-militärische Konfliktlösungen zu ersetzen.

Die schon der Wissenschaft eingeprägte Ambivalenz, Segen oder Fluch über die Menschen zu bringen, dem Frieden oder dem Krieg zu dienen, wird durch die Verfügung über die Atomenergie millionenfach verstärkt. Durch diese Errungenschaft wurde die Naturwissenschaft völlig aus ihrem philosophischen Elfenbeinturm herausgedrängt. „Wissen ist Macht“ hatte schon im 16. Jahrhundert der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon, Begründer des Empirismus, verkündet. Das ursprünglich vor allem auf Erkenntnis und Wissen gerichtete Interesse der Naturwissenschaft wurde weiter in Richtung auf die praktische Anwendung dieses Wissens gedrängt, dem Know-how, der Manipulation natürlicher Prozesse zur Erreichung bestimmter, gewollter Zwecke.

Dürfen wir alles tun, was wir können? fragen sich heute viele angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung. Dieses Unbehagen spitzt sich bei manchen in der Forderung zu, daß den Forschern künftig ihr Handwerk gelegt werden müsse, um der Menschheit eine Überlebenschance zu geben. Sie sehen den Naturwissenschaftler in der Situation des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nun nicht mehr bändigen kann. Diese Vorstellung hat einen wahren Kern. Sie charakterisiert aber die Lage der Naturwissenschaftler nur ungenügend, da die meisten von ihnen es gar nicht als ihre Aufgabe ansehen, die von ihnen entfesselten Kräfte selbst zu bändigen. Ihre Aufgabe, so meinen sie in ihrer »Bescheidenheit«, war ja nur zu rufen, die Bändigung muß den Menschen in ihrer Gesamtheit gelingen und den von ihnen beauftragten Vertretern, den Politikern, überlassen bleiben.

Edward Teller hat diesen Standpunkt immer stark vertreten und auch die Meinung, daß wir trotz aller Gefahren alles tun müssen, was wir können und dies sogar so schnell wie möglich, um keinen anderen zuvorkommen zu lassen. Hierbei hat er implizit immer angenommen, daß die Schnelleren auch die Besseren und diese selbstverständlich die USA sind. Eine noble Zurückhaltung führt, so meinte er, wegen der immer schwelenden Gefahr des Ausbrechens nur zu Instabilität. Ich bin hier dezidiert anderer Meinung. Seine Vermutung mag ohne zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen richtig sein. Doch warum sollten wir auf solche verzichten? Auch menschliches Zusammenleben ist in hohem Grade ein Plus-Summenspiel und benötigt dieses als notwendige Grundlage. Andererseits ist doch auch offensichtlich, daß dieser von Teller als unvermeidlich angenommene unerbittliche Wettlauf zu einer Eskalation und damit zu einem nicht minder gefährlichen, instabilen »Gleichgewicht des Schreckens« führt.

Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sie betreiben, haben die meisten Wissenschaftler den Elfenbeinturm nicht verlassen und wollen ihn auch gar nicht verlassen. Obgleich sie mit ihrem Tun die Welt täglich verändern, sprechen sie in ihrer Mehrzahl immer noch von Erkenntnissuche, von faustischem Drang und von Befriedigung natürlicher Neugierde, sie bezeichnen ihr Tun als »Wissen«-schaft, was eigentlich schon lange zur »Machen«-schaft geworden ist. Wissen und Machen, Verstehen und Handeln sind für den Menschen selbstverständlich beide wichtig. Hierüber sollte kein Mißverständnis aufkommen. Es geht nicht darum, das eine vor dem anderen auszuzeichnen. Sie ergänzen und bedingen einander. Doch Machen und Handeln erfordern Verantwortlichkeit von dem, der manipuliert, der Wissen ins Werk setzt, denn unsere Kräfte sind zu groß geworden, als daß die Natur unsere Stöße und Tritte noch abfedern, als daß sie unsere Mißgriffe und Mißhandlungen uns noch verzeihen kann. Die Frage ist allerdings, ob und wie der Naturwissenschaftler diese Verantwortung wahrnehmen kann.

Verantwortlichkeit kann dabei nicht einfach in die Forderung münden, alles Mögliche weiterhin zu tun, aber dabei nur wesentlich vorsichtiger vorzugehen. Es macht keinen Sinn, eine fehlerfreie Welt anzustreben, denn Kreativität verlangt notwendig Fehlerfreundlichkeit. Diese aber erfordert Moderation und Entschleunigung.

Aber wer soll hierbei die Hauptverantwortung tragen? Kommen hier neue Befugnisse auf den Wissenschaftler zu oder wird diese weiterhin allein in der Kompetenz der die Allgemeinheit vertretenden Politiker liegen? Dies ist eine schwierige Frage. Sowohl das eine wie das andere erscheint höchst unbefriedigend. Flugzeugingenieure würden doch fahrlässig handeln, wenn sie einen voll geladenen Jumbo einem total unerfahrenen »Piloten« überlassen würden, nur weil dieser mit Mehrheit dafür gewählt worden ist.

Die Entwicklung der Atombomben charakterisiert jedoch nicht nur wegen Hiroshima und Nagasaki einen tiefen Einschitt, sondern auch dadurch, daß sie das Ergebnis eines Großforschungsunternehmens waren. Diese Erfahrung hat in der Folge ganz wesentlich die Ausweitung von Großforschung und Großtechnik stimuliert und damit neue Machtinstrumente und neue Abhängigkeiten geschaffen, die aktive Partizipation und kreative Entfaltung des Einzelnen behindern können.

Eine Fixierung auf die Gefahren der Bombe als dem »sogenannten Bösen« birgt außerdem die große Gefahr, ihr friedliches Gegenstück, den Kernenergiereaktor, als das »eigentlich Gute« zu idealisieren und dessen große immanente Gefahren zu übersehen. Ja, es erscheint sogar für die »Bombenbauer« aufgrund ihrer Betroffenheit fast ein zwingendes Bedürfnis zu sein, den Kernenergiereaktor in diesem hellen Lichte erscheinen zu lassen, um der propagierten Wertfreiheit der Wissenschaft, bei der der Unterschied zwischen »Gut« und »Schlecht« nur in der Anwendung liegen soll, wieder zu voller Geltung zu verhelfen.

Voraussetzungen für die Verantwortung des Forschers

Lassen Sie mich angesichts der bedrohlichen Folgen wissenschaftlicher Forschung nun etwas ausführlicher auf die schwierige Frage der Verantwortung des Naturwissenschaftlers zurückkommen.

Wenn davon gesprochen wird, daß Verantwortung übernommen werden soll, müssen wir immer genauer fragen: Wer hat Verantwortung vor wem und für was? Hierbei drückt die Übernahme von Verantwortung eine Bereitschaft aus – gewöhnlich gegenüber den Mitmenschen, manchmal gegenüber der ganzen Menschheit oder sogar der ganzen Schöpfung – für die durch eigenes Handeln verursachten Folgen persönlich einzustehen und auf eine geeignete Weise zu bürgen. Verantwortung bedeutet also: Persönliche Bürgschaft für ursächliches Handeln, wobei gelegentliches Nicht-Handeln als mögliche verantwortliche Haltung selbstverständlich mit inbegriffen ist.

Die Bejahung einer Verantwortung des Forschers für sein Tun scheint also dreierlei zu verlangen:

  1. Es muß allgemein verbindliche Wertmaßstäbe geben, mit Hilfe derer der Forscher seine Handlungen als mehr oder weniger vernünftig oder unvernünftig, nützlich oder schädlich, gut oder böse einstufen kann.
  2. Der Forscher muß wirklich in der Lage sein, die Folgen seines Tuns vorauszusehen. Denn ursächliches Handeln bedeutet doch, daß bestimmte Wirkungen in der Zukunft sich von dem Forscher genau antizipieren lassen, oder umgekehrt, wenn die Wirkungen einmal eingetreten sind, sich diese auf seine vorherigen Handlungen schlüssig zurückführen lassen müssen.
  3. Der Wissenschaftler muß wirklich selbst – und nicht irgendjemand anderer an seiner Stelle – für die negativen Folgen in einer für ihn relevanten Weise zur Rechenschaft gezogen werden können.

Es ist offensichtlich, daß alle diese Voraussetzungen – verbindliche Bewertung, Prognosefähigkeit und Haftungsmöglichkeit – nur in den allerseltensten Fällen ausreichend, wenn überhaupt, erfüllt sein werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß viele – und darunter vor allem die Naturwissenschaftler selbst – kategorisch verneinen, daß es eine besondere Verantwortung des Naturwissenschaftlers gibt, die über das an Verantwortung hinausgeht, was von jedem anderen Menschen auch verlangt werden soll.

Verbindliche Bewertung?

Gewöhnlich wird bestritten, daß es für wissenschaftliche Erfahrung so etwas wie eine in einem vagen Sinne verbindliche Bewertung gibt. Die Wissenschaftler werden nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Wissenschaft letztlich wertfrei sei, und daß ihre Ergebnisse, wie jegliches Wissen, erst durch die praktische Handhabung und die gesellschaftliche Umsetzung eine Bewertung erfahren, denn erst durch diese Umsetzung werde ihr Schaden oder Nutzen für den Menschen evident. Wissenschaft, so wird deshalb gefolgert, müsse ganz allgemein und bedingungslos gefördert werden, denn Mehrwissen bedeutet immer auch mehr Einsicht, mehr Verständnis, bessere Orientierung, höhere Erkenntnis. Eine Wertung erfolgt hierbei nur unter dem Kriterium »richtig oder falsch«, im Sinne einer Stimmigkeit oder Selbstkonsistenz. Und diese Wertung gilt uneingeschränkt, sie ist wesentlicher Bestandteil jeglicher Wissenschaft.

Eine Bewertung in bezug auf die Bedeutung für den Menschen, die menschliche Gesellschaft, die Biosphäre, unsere Mitwelt, die Schöpfung insgesamt, stellt sich also nur, so meinen sie, bei der Anwendung dieses Wissens, das heißt bei der absichtsvollen Auswahl und Präparation spezieller Anfangs- und Randbedingungen, die geeignet sein sollen, die von den Wissenschaftlern aufgedeckte Naturgesetzlichkeit zu ganz bestimmten, von uns angestrebten Folgen zu zwingen. Schaden für die Menschen und Zerstörung können dabei beabsichtigt oder unbeabsichtigt entstehen. Bei den Waffen jedenfalls ist dies das direkt von den Anwendern angestrebte Ziel. Die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und die Bewertung, die sie als gut und vernünftig ausweist, erscheint bei dieser Sichtweise nicht als Aufgabe der wissensvermittelnden und wissenschaftsfördernden Institutionen, wie etwa der Universitäten und Forschungsinstitute, sondern diese Bewertung sollte durch die Betroffenen und Nutznießer, durch die ganze Gesellschaft und ihre Politiker, als die durch sie legitimierten Repräsentanten, erfolgen.

So überzeugend diese Argumentation erscheint, so halte ich sie trotzdem für falsch. Denn es gibt kein faktisches Wissen ohne Wertung. Eine Wertung des faktischen Wissens geschieht auf doppelte Weise, nämlich in einem grundsätzlichen und einem mehr praktischen Sinne.

Lassen Sie mich zunächst etwas zur grundsätzlichen Wertung sagen. Es gibt wohl so etwas, wie eine wertfreie Wissenschaft, aber diese ist ein Begriffsgebäude, das zunächst nichts mit der eigentlichen Wirklichkeit, von der Wissenschaft angeblich handelt, zu tun hat. Jede die eigentliche Wirklichkeit interpretierende Wissenschaft muß letztlich, um relevant zu sein, aus ihrem logisch strukturierten und – bei den Naturwissenschaften – mathematisch präzisierten Begriffsgebäude heraus und die Brücke zur eigentlichen Wirklichkeit, was immer wir auch darunter verstehen wollen, schlagen, und dies kann nicht ohne eine wissenschaftlich nicht mehr beweisbare, da aus dem Gebäude herausführende, Wertung erfolgen.

Wenn wir uns die Frage stellen, ob faktisches Wissen ohne Wertung möglich ist, so denken wir gewöhnlich jedoch nicht an diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Wissen und Wertung, sondern betrachten diese Frage nur im Rahmen einer streng objektivierbaren, also prinzipiell prognostizierbaren Welt. Die Wertung von Wissen stellt sich hier in einem praktischen Sinn. Sie hängt wesentlich davon ab, inwieweit Wissen zum Ausgangspunkt von Handlungen wird, die Wissenschaft sich als `Machen'schaft, als angewandte Wissenschaft, versteht.

Die Unterscheidung zwischen angewandter Wissenschaft und Grundlagen-Wissenschaft hat eine gewisse Berechtigung durch die bei der Erforschung verwendete Methode, aber im Hinblick auf die Bewertungsfragen und der mit diesen zusammenhängenden Fragen nach einer besonderen Verantwortung der Wissenschaftler für ihr Tun, ist diese Unterscheidung zu ungenau. Bei der Wertungsfrage kommt es weniger auf die Methode als auf die Motive an. Wissenschaft hat im wesentlichen zwei unterschiedliche Motive: sie möchte etwas erkennen und wissen – die eigentliche Wissenschaft –, aber sie möchte auch etwas machen, sie möchte manipulieren und verändern – was ich, ohne den umgangsprachlich negativen Unterton, als Machenschaft bezeichnet habe.

Die besondere Hervorhebung der absichtsvoll handelnden Wissenschaft in diesem Zusammenhang soll nicht bedeuten, daß die auf reine Erkenntnis ausgerichtete Wissenschaft auf eine Bewertung verzichten kann. Dies ist nicht der Fall, denn die Grenzen zwischen erkenntnisorientierter und anwendungsorientierter Wissenschaft sind äußerst verschwommen. Die erkenntnisorientierte Wissenschaft ist ja heute kaum mehr eine passiv betrachtende Wissenschaft, sondern eine experimentelle Wissenschaft, die unter höchstem technischem Aufwand der Natur ihre tiefsten Geheimnisse abzupressen versucht. Die anwendungsorientierte Forschung andererseits verlangt in hohem Maße eine gründliche und detaillierte Untersuchung von bestimmten Teilphänomenen, die in der üblichen Betrachtung zur Grundlagenforschung gerechnet wird und als solche sich methodisch kaum von der erkenntnisorientierten Forschung unterscheidet.

Daß zwischen erkenntnisorientierter Wissenschaft und anwendungsorientierter Wissenschaft ein kontinuierlicher Übergang besteht, bedeutet nun andererseits nicht, daß zwischen diesen beiden Motiven kein klarer Unterschied besteht. Auch Tag und Nacht unterscheiden sich prinzipiell, obgleich es auch hier schwierig ist, genau anzugeben, wann der Tag aufhört und die Nacht beginnt. Wir behelfen uns in einem solchen Falle damit, daß wir irgendwann in der Dämmerung eine Grenzlinie ziehen. Die genaue Lage der Grenzlinie ist dabei unwichtig. Auf ähnliche Weise wird es deshalb auch sinnvoll sein, zwischen der erkenntnisorientierten und anwendungsorientierten Wissenschaft eine Unterscheidung zu machen. Die Notwendigkeit einer Wertung von Wissenschaft wird wichtiger, je mehr sie sich vom Wissen zum Machen verlagert.

Lassen Sie mich dies am Beispiel der Atombombe erläutern:

Um so etwas wie eine Atombombe künftig verhindern zu wollen, wäre es nicht nötig, einem Otto Hahn seine erkenntnisorientierte Forschung zu verbieten. Es war ja nicht so, daß ein nach Transuranen suchender Otto Hahn als zufälliges Abfallprodukt seiner Forschung plötzlich eine Atombombe in seinen Händen hielt. Die Atombombe leitet sich in der Tat von der Hahn'schen Entdeckung der Atomkernspaltung ab, aber die Entwicklung der Bombe benötigte eine gigantische Spezialforschung, die genau mit dem Ziel durchgeführt wurde, eben diese Massenvernichtungswaffe herzustellen. Ihr Bau wurde von der menschlichen Gesellschaft, genauer gesagt, einer von ihr, wie sie wenigstens glaubten, dazu legitimierten Gruppe von Politikern beschlossen. Die Entwicklung der Atombombe war dabei grundverschieden z.B. von der Entwicklung eines Atomreaktors.

Im Falle der Atomphysik erscheint also ziemlich klar erkennbar, wo eine Grenzlinie zwischen erkenntnisorientiertem und zweckorientiertem Forschen mit nützlichen oder schädlichen Auswirkungen gezogen werden könnte. An dieser Grenzlinie muß Verantwortung einsetzen. Eine solche klare Abgrenzung ist selbstverständlich nicht in allen Bereichen der Physik möglich. Ich denke hierbei etwa an die Elektronik, wo nützliche und schädliche Anwendungen sehr eng beieinander liegen. Noch fragwürdiger wird diese Unterscheidung, wie mir scheint, auf dem Gebiet der Biologie und insbesondere der Molekularbiologie. Ein einzelner Forscher könnte dort wohl unabsichtlich in seinem Laboratorium ein »Virus« fabrizieren, das wegen seiner prinzipiell angelegten Reproduktionsmechanismen in Analogie zu einer Kettenreaktion verheerende Konsequenzen für die Menschheit haben könnte.

In dem Maße jedenfalls, wie Forschung heute Großforschung, Technik Großtechnik wird, oder Wissenschaft mit den natürlichen Steuerungs- und Verstärkungsmechanismen manipuliert, darf Wissen nicht mehr wahllos angehäuft und hemmungslos umgesetzt, sondern muß nach allgemeinen ethischen Grundsätzen bewertet und behutsam verwendet werden. Wir sollten dabei immer im Auge behalten, daß es hierbei primär um eine Gefährdung des Menschen geht und nicht um die Gefährdung der »Natur« mit ihren vielfältigen Ausdrucksformen. Aufgrund der enormen Verstärkungsfaktoren können wir künftig nicht mehr nach dem alten Muster verfahren, unbedacht in neue Wissensgebiete vorzudringen, ungehemmt die zugehörige Technik zu entwickeln und dann unser Leben recht und schlecht an die durch sie veränderten Gegebenheiten anzupassen. Die Bewertung muß sich dabei an den Regeln eines Plus-Summenspiels orientieren, die dem Einzelnen im Ganzen seinen Sinn gibt.

Prognosefähigkeit

Für verantwortliches Handeln eines Naturwissenschaftlers erscheint die Prognosefähigkeit unabdingbar. Inwieweit ist aber ein Naturwissenschaftler wirklich in der Lage, die zukünftigen Folgen seines Tuns erfolgreich prognostizieren zu können?

Eine Prognose zukünftiger Folgen scheint besonders schwierig in der Grundlagenforschung, bei der Neuland betreten wird. Doch auch für die angewandte Forschung ist eine solche Prognose sehr kompliziert und nur in beschränktem Maße möglich. Jedenfalls wird eine genaue Prognose auch unter günstigsten Umständen – schon wegen der naturgesetzlich bedingten prinzipiellen Grenzen – nie möglich sein. Daraus soll man jedoch nicht ableiten, wie dies oft geschieht, daß der Forscher für sein Tun auch prinzipiell keine Verantwortung übernehmen kann und deshalb auch keine Verantwortung trägt. Denn, um Verantwortung zu übernehmen, ist keine genaue Prognose nötig. Wichtig vor allem ist, daß der Forscher versucht, die »Topologie« seines Forschungsgeländes auszuspähen, bevor er sich auf den Weg begibt. Er muß sich bei seiner Entscheidung dabei an der ungünstigsten Prognose orientieren.

Die Topologie, die Gestalt, eines Gebiets jedoch wahrzunehmen, verlangt, daß man dieses Gebiet nicht nur als kurzsichtiger Spezialist abtastet, sondern es gewissermaßen auch aus der Distanz in seiner Ganzheit betrachtet hat. Diese Voraussetzung ist heute kaum mehr gegeben. Unser Wissen ist heute in viele Einzeldisziplinen zerstückelt, die jeweils nur noch ein Fachmann übersehen und »verstehen« kann, wobei »verstehen« meist nicht sehr viel mehr bedeutet, als daß dieser Fachmann mit seinem Gebiet mehr oder weniger vertraut ist, daß er sich darin, wie etwa in seiner Wohnung, bewegen und zurechtfinden kann.

Das Wissen in seiner Gesamtheit, wie es durch die Wissenschaften vermittelt wird, ist deshalb für den Einzelnen in diesem Sinne nicht mehr erfaßbar und überschaubar. Wir fühlen uns trotz großer Anstrengung von den ständig wachsenden Anforderungen an unsere Auffassungsfähigkeit überfordert. Wir helfen uns in dieser Notlage, daß wir aufgeben, alles geistig durchdringen und verstehen zu wollen und bauen »schwarze Kästen« ein, die wir – ähnlich wie Autos, Fernseher, Waschmaschinen – einfach durch Knopfdruck und Hebel bedienen, ohne ihre Wirkungsweise eigentlich zu verstehen. In dieser uns überfordernden Situation laufen wir Gefahr, daß uns die Wirklichkeit auf die Existenz und Wirkung der vielen Werkzeuge und technischen Hilfsmittel reduziert erscheint, mit denen wir uns so reichlich umgeben haben. Unsere hochdifferenzierte und harmonisch-natürliche Mitwelt erschließt sich für uns nur noch durch die Vermittlung einer von uns selbst geschaffenen, einfältigen, mechanistisch strukturierten und funktionierenden Teilwelt. Diese primitive Teilwelt verstellt uns den Blick auf die weit vielfältigere und differenziertere eigentliche Wirklichkeit und isoliert uns von ihr.

Wie soll es uns heute gelingen, aus der Einzelbetrachtung von vielen verschiedenen Disziplinen wieder zu einer Gesamtbetrachtung zu kommen, welche die Voraussetzung darstellt, Verantwortung überhaupt wahrnehmen und übernehmen zu können?

Verschiedenartiges Wissen in einem einzigen Kopf unterzubringen, ist nicht nur ein Problem der Fülle, sondern vor allem auch der Frage, ob und auf welche Weise es uns gelingt, Andersartiges und Fremdartiges harmonisch miteinander zu verknüpfen und konstruktiv in Beziehung zu setzen. Denn es geht ja nicht darum, verschiedenartige Teile einfach nebeneinander aufzureihen, sondern letztlich diese harmonisch zu einem höher geordneten Ganzen zusammenzuführen.

So erlaubt die Verschiedenartigkeit der Buchstaben uns nicht nur ein Alphabet hinzuschreiben, sondern mit diesen Buchstaben lassen sich Worte bilden, mit denen wir eine Fülle von Gedanken einfangen können, was uns mit Einzelbuchstaben nicht gelingt. Und wir können in diesem Strukturbildungsprozeß weiter fortfahren: Aus Worten können wir Sätze und aus Sätzen lange Abhandlungen und ganze Bücher aufbauen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wie könnte Literatur erzeugt werden, wenn 26 Spezialisten in einen Raum zusammengesperrt werden würden, von denen jeder nur den Gebrauch eines einzigen Buchstaben beherrscht? Und wie erst könnte dies gelingen, wenn wir sogar die A-Spezialisten, B-Spezialisten usw. noch auf 26 verschiedene Räume eines Gebäudes, das wir dann Universität nennen, verteilen und wir sie im wesentlichen nur jeweils mit sich selber reden lassen würden?

Die schwierigen und drängenden Probleme unserer Zeit werden sich nicht lösen lassen, wenn es uns nicht gelingt, unser vielfältiges Spezialwissen geeignet zu einem größeren Ganzen zu vernetzen und zu vereinen. Das Ziel unserer Erziehung muß sein, eine T-Intelligenz heranzubilden, eine Intelligenz, die man durch den Großbuchstaben »T« charakterisieren kann. Der vertikale Balken des »T« soll hierbei Tiefe und Professionlität auf einem bestimmten Fachgebiet symbolisieren. Denn ohne Kenntnis von Details können wir die Komplexität eines Geschehens nicht ausreichend ermessen. Dieses Detailwissen muß jedoch mit einer globalen Betrachtungsweise verbunden, muß in einen größeren Zusammenhang eingebettet sein, wie dies durch den Horizontalbalken des »T« zum Ausdruck kommt. Ganzheitliche Schau und konkretes detailliertes Handeln bezeichnen in gewisser Weise entgegengesetzte Erfahrungshaltungen, die sich wechselseitig ergänzen. Wir müssen lernen, beide in unser Leben einzubinden.

Haftungsmöglichkeit

Bei dem heute üblichen Vergleich von Risiken wird der Aspekt, in welcher speziellen Situation Menschen überhaupt vernünftig Verantwortung übernehmen können, gänzlich außer Acht gelassen. Dies zielt vor allem auf die Frage einer möglichen persönlichen Haftung eines Verantwortlichen.

Das Risiko bei einer technischen Manipulation, z.B. beim Betreiben einer technischen Einrichtung, wird gewöhnlich definiert als das Produkt aus dem maximalen Schadensumfang, der bei einem möglichen Störfall entstehen kann, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieses Störfalls.

Bei sehr hohen Schadenspotentialen, wie sie z.B. Atomkraftwerken innewohnen, liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, daß man die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Störfalls durch geeignete Maßnahmen ganz extrem absenken muß, um – wie man glaubt – für den Menschen akzeptable Risiken zu erreichen. Wie will man aber die Eintrittswahrscheinlichkeit in solch extremen Situationen überhaupt verläßlich abschätzen? Man kann hierzu nicht einfach die praktische Erfahrung heranziehen, wie dies die Versicherungsgesellschaften bei der Berechnung ihrer Prämien für Autounfälle machen. Wir können es uns nicht leisten, die Reaktorsicherheit aus einer statistischen Analyse von Atomreaktorunfällen zu ermitteln, da eigentlich kein einziger solcher Unfall passieren darf. Wir müssen deshalb zu theoretischen Berechnungen greifen. Wir können die Störanfälligkeit von bestimmten Komponenten der Gesamtanlage, für die praktische Erfahrungen vorliegen, in Rechnung stellen und ihre Verkopplung mit anderen Komponenten geeignet berücksichtigen. Diese haben jedoch, wie alle statistischen Feststellungen, keine Aussagekraft für den Einzelfall.

Wir können die Störanfälligkeit des Gesamtsystems herabsetzen, indem wir wichtige Funktionen mehrfach absichern. Je größer und komplexer das Gesamtsystem jedoch wird, umso höher wird andererseits die Gefahr, daß sich durch eine unglückliche Verkettung von Umständen doch ein Störfall ereignet. Jeder macht in seinem Leben die Erfahrung, daß einfache und übersichtliche Systeme oft störungsfreier arbeiten als die hochraffinierten bis zum letzten ausgeklügelten Systeme. Bei hochkomplexen Systemen wird es immer schwieriger, alle prinzipiell möglichen Störfälle im voraus zu bedenken und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit verläßlich abzuschätzen. Der eigentliche Begrenzungsfaktor für eine solche Abschätzung liegt letztlich in unserer eigenen mangelhaften Phantasie, uns nämlich vorstellen zu können, was eigentlich alles passieren könnte. Je phantasieloser wir sind, umso geringer erachten wir das Risiko, umso höher unsere Sicherheit. Da wir nicht alles überblicken, bleibt immer ein Restrisiko.

Dies soll keine Kritik an den Sicherheitsexperten sein. Sie versuchen das Menschenmögliche. Sie haben die feste Absicht, verantwortlich zu handeln. Keiner von uns könnte sie wohl an Sorgfalt übertreffen. Sie und wir alle sind nach jedem Unfall ein Stück schlauer – das gleiche wird uns nicht ein zweites Mal mehr passieren! Trotz aller Sorgfalt kann es nie völlige Sicherheit geben. Insbesondere entzieht sich die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine jeglicher Berechnung.

Gut, wird man sagen, wir müssen eben alle mit einem gewissen Risiko leben. Was ist jedoch zumutbar? Die Frage der Zumutbarkeit läßt sich nicht beantworten, ohne den Kreis der Betroffenen zu betrachten. Besonders fragwürdig ist die Situation, wenn durch unsere Entscheidungen unbeteiligte Personen betroffen werden, ohne daß diese eine Entzugsmöglichkeit besitzen. Der extremste Fall in dieser Richtung sind Entscheidungen, welche die Lebensgrundlage der Menschheit bedrohen oder zerstören würden, was z.B. bei einem globalen Atomkrieg geschehen würde.

Aus ethischen Gründen, aus unserer Achtung vor der Würde des Menschen, aus unserem Demokratieverständnis darf ein verantwortungsbewußter Mensch keine Technik betreiben, die bei Störfällen zu unzumutbaren Schäden führt, auch dann nicht, wenn er glaubt, daß die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Störfall sehr klein ist. Denn wir wissen, daß »sehr klein« nie »ausgeschlossen« bedeutet und wegen unserer Phantasielosigkeit und menschlicher Bösartigkeit oder moralischer Unzulänglichkeit in der praktischen Realität auch gar nicht so klein ausfallen wird. Denn niemand kann Verantwortung für etwas übernehmen, dessen schlimme Folgen nicht er, sondern hauptsächlich andere ertragen müssen.

Zusammenfassung

Der Naturwissenschaftler ist heute nicht nur ein Philosoph, ein Mensch, der mit seinem analytischen, fragmentierenden Denken und der daraus resultierenden wissenschaftlichen Methodik und experimentellen Technik zu erkunden sucht, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, wie diese Welt, das Universum, entstanden ist, wie es zur Vielfalt seiner Struktur kam, zu unserer Erde, dem Lebendigen auf ihr, mit seinen Myriaden von Pflanzen und Tieren und insbesondere uns selbst, uns Menschen, die wir uns als Krönung dieser Schöpfung betrachten, begabt mit der eigenartigen Fähigkeit, durch unser Bewußtsein in gewisser Weise aus der Schöpfung herauszutreten und sie von außen betrachten zu können. Der Naturwissenschaftler ist nicht nur dieser sinnende und erkennende Betrachter, er ist vor allem der schöpferisch Tätige und Handelnde, der aufgrund seines Wissens um die kausalen Verknüpfungen des Naturgeschehens wesentlich in dieses eingreifen kann. Als solcher trägt er Verantwortung, die sich an überkommenen Werten, an traditionellen ethischen und moralischen Normen orientieren muß. Ihrem Wesen nach stehen diese Normen außerhalb einer wissenschaftlichen Diskussion. Sie liegen auf einem fundamentaleren Niveau. Ihre Sinnhaftigkeit haben diese Normen – wenn ich dies vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachte – durch ihre Bewährung in einer jahrmilliarden langen Evolution erhalten, welche die Struktur eines Plus-Summenspiels hat.

Der Naturwissenschaftler kann diese Verantwortung nur auf sich nehmen, wenn er sein spezielles Tun auf dem Hintergrund eines umfassenden Wissens und in enger Beziehung zu diesen bewährten traditionellen Werten vollzieht. Er muß sich bewußt sein, daß trotz der erstaunlichen Einsichten, die uns die Naturwissenschaften über die Welt vermittelt haben und trotz der mächtigen Werkzeuge zur Manipulation dieser Welt, die ihm aus dieser Erkenntnis erwachsen sind, er immer noch unendlich weit davon entfernt ist, die Natur wirklich im Griff zu haben. Schon aufgrund der nicht-deterministischen Naturgesetzlichkeit läßt sich die Natur prinzipiell nie in den Griff bekommen. Vor allem aber die enorme Komplexität und die vielfältige Wirkungsverschränkung der Natur, die eine ständige Entfaltung von Neuartigem begünstigt und die Möglichkeit zu immer höheren Ordnungsstrukturen eröffnet, machen darüber hinaus langfristige Prognosen und damit eine streng kontrollierte Manipulation praktisch unmöglich. Verantwortliches Handeln verlangt deshalb von einem Wissenschaftler, daß er sich über sein Spezialwissen hinaus um die Einbettung seines Fachgebiets in ein umfassenderes Wissen nach besten Kräften bemühen muß, daß er immer wieder versucht, sein spezielles Tun von einer allgemeineren Warte aus zu betrachten und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.

Verantwortliches Handeln bedeutet jedoch auch, daß ein Naturwissenschaftler sich immer bewußt bleiben muß, daß er an einem hochdifferenzierten und hochgeordneten System manipuliert, das sich in dieser Form in Jahrmilliarden entwickelt und bewährt hat und von dem er, als Wissenschaftler, trotz seiner Schlauheit, was die Vielfalt der Wechselbeziehungen und ineinandergreifenden Regelkreise des Systems anbelangt, nur ganz wenig versteht. Es kann also nicht seine Aufgabe sein, die Gesamtsteuerung der Natur bewußt in die Hand zu nehmen und sie mit größter Gewissenhaftigkeit und Umsicht betreiben zu wollen, wie dies heute manchmal von Biologen gefordert wird. Welche Überschätzung menschlicher Fähigkeiten, welche Vermessenheit spricht aus dieser Vorstellung! Sie übersieht die enorme Komplexität, die vielfältige Vernetztheit natürlichen Geschehens, die selbst der besten und wohlüberlegtesten Steuerung unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt und sie daran scheitern lassen würde. Ein solches Vorhaben übersieht, daß die Vorstellung, unsere Welt bestünde aus vielen getrennten Teilen, die dann auch getrennt manipuliert werden könnten, wesentlich mit der analytischen und fragmentierenden Struktur unseres Denkens zusammenhängt.

Verantwortlichkeit bedeutet deshalb vor allem, daß wir uns bemühen müssen, hinter der Mannigfaltigkeit der Geschehnisse wieder den großen »harmonischen« Zusammenhang zu erkennen, und daß wir aufpassen müssen, dieses synergetische Zusammenspiel nicht durch unsere Eingriffe zu zerstören. Konkret erfordert dies von uns, bei allen unseren Handlungen wieder das richtige Maß zu finden. Wenn wir uns selbst zurücknehmen, vermeiden wir das Herauskippen unseres über mehrere Jahrmilliarden gewachsenen Ökosystems aus seinem zwar robusten, aber nicht beliebig unverletzlichen dynamischen Gleichgewicht. Nur bei ausreichender Mäßigung unserer Fähigkeiten bewahren und ermöglichen wir das vielfältige, freie Spiel der Kräfte, das evolutionär zu geeigneten Anpassungen an neue Umstände und zur Bildung neuer Ordnungsstrukturen führt. Unser Handeln muß also auf volle Kooperation mit der Natur und nicht auf ihre Überwindung und Beherrschung ausgerichtet sein. Denn: die Natur kann letztlich ohne den Menschen leben, aber der Mensch nicht ohne die Natur. Wenn wir die Natur mißhandeln, würden wir sie lediglich zwingen, in ihrer Evolution einige Jahrmillionen oder Jahrhundertmillionen zurückzufallen und nochmals mit einem Versuch beginnen zu müssen, ein vielleicht vernünftigeres Geschöpf als den Menschen zu entwickeln, der nicht mehr seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört.

Es ist unmittelbar einsichtig, daß wir für das »richtige Maß« keine strengen Regeln vorgeben können. Das »richtige Maß« ergibt sich letzten Endes nur aus einer umfassenden Einsicht. Wir brauchen dazu nicht nur einfach Wissen, sondern Weisheit, welche dieses Wissen aufgrund althergebrachter gewachsener Wertvorstellungen zu einem Ganzen verwebt. Da ein Naturwissenschaftler nicht nur ein Spezialist ist, der mit klarem Verstand über Zusammenhänge in der Natur nachdenkt, sondern als Teil der Natur unmittelbar, obwohl begrifflich nicht scharf faßbar, aus ihrem Urgrund schöpfen und als Mensch vertrauensvoll auf eine lange ethische und moralische Tradition zurückgreifen kann, wird er im Prinzip auch die Fähigkeit haben, dieses »richtige Maß« zu finden, wenn er sich diese Quellen nicht hoffnungslos verschüttet.

Seine Fähigkeit, das »richtige Maß« zu finden, wird allerdings völlig überfordert, wenn es auf hohe Präzision ankommt. Dies heißt, daß er alles tun muß, um nie in eine Situation zu kommen, wo solch eine Präzision notwendig wird. Bildlich gesprochen darf ein Naturwissenschaftler nicht über ein Drahtseil mit der Menschheit auf dem Buckel balancieren, da eine geringfügige Abweichung vom »richtigen Maß« die absolute Katastrophe für die Menschheit bedeuten würde. Verantwortliches Handeln verlangt hier, eine Aufforderung zu einem solchen Drahtseilakt strikt zu verweigern, oder nach Möglichkeiten zu suchen, die Menschheit nicht mit in dieses Risiko einzubeziehen.

Die Verantwortungsfrage stellt sich für den Naturwissenschaftler heute so dramatisch und erdrückend, weil wir mit unserer Wissenschaft und Technik mit besonderer Vorliebe in Lawinenhängen herumsteigen und über Drahtseile balancieren. Daß wir dies tun, ist kein Zufall: In einer hemmungslosen Wettbewerbswirtschaft kann man seinen Konkurrenten nur abhängen, wenn man versucht, auf irgendeine Weise extreme Situationen anzusteuern. Hiroshima und Nagasaki haben uns ein unübersichtliches Minenfeld eröffnet. Wir sollten alles daran setzen, es radikal zu entschärfen, anstatt einige erlaubte Trampelpfade hindurchzulegen.

Dr. Hans-Peter Dürr

Über Dr. Hans-Peter Dürr
Geb. 1929, promovierte bei Edward Teller, mit dem er trotz aller politischen Kontroversen bis heute freundschaftlich verbunden ist. Von 1957 bis 1976 war Dürr Mitarbeiter von Werner Heisenberg. Im Spektrum bundesdeutscher Physiker ist Prof. Dürr singulär geblieben; er mischt sich politisch ein, und er überschreitet die Grenzen seines Fachs hin zu den Sozialwissenschaften. Mehrere Bücher dokumentieren sein Engagement für gesellschaftspolitische Probleme, sein Grenzgängertum und seine Interdisziplinarität. 1987 wurde ihm der »Alternative Nobelpreis« verliehen (Right Livelihood Award), von 1985 bis 1991 war er Vorstandsmitglied von Greenpeace Deutschland. Hans-Peter Dürr ist gegenwärtig Stellvertretender geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite