W&F 1986/3

Libyenkrise: Signal des Neoglobalismus

von Wolfram Brönner

Der Luftangriff der Weltmacht Nr. 1 auf das unliebsame Ölland Libyen stand unter dem offiziellen Vorzeichen der „Terrorismusbekämpfung“. Auf dem Wirtschaftsgipfel der sieben Westmächte Anfang Mai in Tokio ließ sich die Reagan-Administration Diese Finte bescheinigen. Laut Abschlußerklärung von Tokio wollen sie künftig den sog. Unterstützerstaaten das „internationalen Terrorismus“, voran dem namentlich genannten Libyen, mit vereinten „Gegenmaßnahmen“ begegnen.

Immerhin hatten sich einige NATO-Verbündete, darunter die Mittelmeeranrainer Griechenland, Italien und Frankreich, vom US-Luftangriff des 15. April 1986 auf Tripolis und Bengasi distanziert. Das Zurückweichen vor den Einschwörungsversuchen Washingtons in Tokio kann daher nur ermunternd für die Angriffsplaner das Pentagon wirken, den Konfliktkurs gegen ihren aktuellen Buhmann Muhammar al Ghaddafi und andere „Terrorstaaten“ weiterzufahren.

Die bevorzugten nächsten Angriffsziele haben Präsident Reagan und sein Außenminister Shultz inzwischen unverhohlen abgesteckt. Ronald Reagan beschuldigte Ende April d. J. Nicaraguas regierende Sandinisten, sie versuchten, „vor unserer Haustür ein Libyen zu errichten“ und böten wie dieses „eine Zuflucht für allerlei internationale Terroristen“. Falls es ähnliche „Beweise“ gegen Syrien oder den Iran gäbe, würde man auch gegen diese losschlagen: „ich denke, wir könnten es wieder tun.“ In Washington werden einstweilen die Vorbereitungen für „einen zweiten Schlag“ gegen Libyen getroffen und offen debattiert. Und George Shultz scheute sich nicht, dabei den Einsatz von Cruise Missiles anzukündigen.

Angesichts dieser Sachlage die Wiederholungsdrohungen Washingtons als bloßes Wortgeklingel abzutun, wäre lebensgefährlich. Nach der US-Invasion Grenadas (Oktober 1983), nach der US-Intervention im Libanon 1982-84 und nach dem Übergang zum Luftkrieg gegen Libyen darf die Entschlossenheit der Reagan-Administration zum Gewalteinsatz schon gar nicht mehr unterschätzt werden, mit ihr auch nicht die damit einhergehende Gefahr einer regionalen bis weltweiten Kriegseskalation.

Rollback des Kommunismus

Welches Konzept steht dahinter? Wenn es nach den Vorstellungen der konservativen Regierung Reagan geht, war der Angriff auf Libyen das Signal, der Auftakt für ein weltweit zugeschnittenes Roll Back des revolutionären Lagers, welches von antiimperialistischen Regimes der sog. Dritten Welt über Befreiungsbewegungen bis hin zum „Reich des Bösen“, der Sowjetunion reicht: „Während seiner (Reagans) ersten Amtszeit“, so Präsidentenberater Patrick Buchanan, „wurde kein Quadratzentimeter westlichen Bodens an den Kommunismus verloren. Am Ende seiner zweiten Amtszeit soll man sagen können, daß verlorenes Territorium wiedergewonnen wurde“. Und die New York Times ordnet den Angriff auf Libyen so ins Konzept einer antirevolutionären Reaganschen Gegenoffensive ein:

„Washington hat endlich begonnen, die Truman-Doktrin der Eindämmung durch die Verpflichtung zu ergänzen, eine aktivere Politik der Verteidigung gegen den Prozeß der sowjetischen Expansion zu betreiben. In diesem Kontext ist die Bombardierung Libyens von noch nicht einschätzbarer psychologischer und politischer Bedeutung. Der Westen kann nicht länger hoffen, daß die sowjetische Politik durch natürliche Ursachen allein aufgeweicht wird.“

Mit Hilfe der Primitivformel, alle Befreiungsprozesse seien sowjetischen Ursprungs, greift die Reagan-Administration auf das antiquierte Modell des massiven militärischen Interventionismus zurück, das eingangs der 70er Jahre angesichts des Desasters im US-Vietnamkrieg (1964-1973) ad acta gelegt worden war. Sicher hatte es auch in der Entspannungsära, so 1975/76 im Angolakrieg, einen verdeckten, indirekten US-Interventionismus gegeben, aber generell hatte man die Militärpräsenz, die CIA-Aktivitäten u.a. gedrosselt. Mit dem Rückfall in den globalen Konfrontationskurs, der bereits unter Präsident Carter 1979/80 einsetzte, war im Januar 1980 die militärische Gewaltandrohung in der „vitalen Interessensphäre“ Persischer Golf einhergegangen – parallel zum Brüsseler Stationierungsbeschluß (Pershing II, Cruise Missiles) vom Dezember 1979. Damals auch begann man mit dem Aufbau der Schnellen Eingreiftruppe, deren rund 300.000 Mann atomar teilbewaffnet und teils in der Zielregion Naher und Mittlerer Osten stationiert worden sind.

Ausbau der Militärpräsenz

Die Reagan-Administration trieb zunächst den Ausbau der eigenen Militärpräsenz (Stützpunkte, Flugzeugträger, Truppen, neue atomare Raketen usw.) gerade in den Erstschlagsregionen Europa, Naher und Mittlerer Osten und Westpazifik sowie in der Krisenregion Mittelamerika/Karibik systematisch voran. Für die Ölregion wurde Anfang 1983 ein Zentralkommando Südwestasien gegründet. Die BRD-Regierung hatte man 1982 im „War-Host-Nation-Support“ (WHNS)-Abkommen darauf verpflichtet, im Fall „von Krise oder Krieg“ die blitzartige Verlegung von US-Interventionstruppen in einer Stärke von nahezu 100.000 Mann von Westeuropa in den Nahen und Mittleren Osten abzusichern und Beihilfe zu leisten.

Unterstützung der Contras

1985/86 ging die Regierung Reagans daran, die gegen antiimperialistische, voran sozialistisch orientierte Regimes des Dritten Welt agierenden konterrevolutionären Gruppierungen („Contras“) zu koordinieren und verstärkt zu unterstützen. Mit dem Ziel, die Revolutionsregimes Angolas, Nicaraguas oder Afghanistans zu beseitigen, ist die US-Bereitstellung selbst modernster Raketen („Stinger“!) und anderer Waffen an die Contras verknüpft.

Im Fall Angolas hob man das 1975 vom Senat verhängte Clark-Amendment, ein Verbot der CIA-Waffenhilfe für die von Südafrika gemanagten Banditengruppen UNITA und FNLA, demonstrativ auf. Savimbis UNITA wurde 1985 eine US-Hilfe von 30 Mio. Dollar zugesagt, für die nicaraguanische Contra sucht Reagan – bislang ohne Erfolg – eine neuerliche Hilfe von 100 Mio. Dollar im Kongreß durchzubringen. Parallel wurde die generelle Reaktivierung der überseeischen CIA-Aktivitäten und die Verdoppelung von interventionistischen US-Spezialeinheiten (auf jetzt 20.000) betrieben.

Neointerventionismus

Mit Hilfe der Contras, von hochgerüsteten willfährigen Regimes (Honduras, Südafrika, Pakistan, Israel u.a.) und nötigenfalls dem Einsatz von US-Streitkräften sollen unbotmäßige Revolutionsregimes destabilisiert, sturmreif gemacht und schließlich abgeräumt werden. Die weltweite Anlage dieses Neointerventionismus trugen ihm die Titulierung Neoglobalismus ein. Er ist eine Mixtur von staatlich Befördertem Terrorismus und eigenem Militärinterventionismus, eingesetzt zur sozialen Revanche gerade in den geostrategisch wichtigsten Regionen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, um verlorenes Terrain zurückzuerobern, die Befreiungskräfte der Dritten Welt einzuschüchtern und den dort gewachsenen Einfluß des sozialistischen Lagers zurückzudrängen.

Daß sich Reagans „Freiheitskämpfer“, die Contras, geradeso wie die Stellvertreterregimes Südafrikas, Israels, El Salvadors usw. vorzugsweise terroristischer Mittel bedienen, ist in den Vereinten Nationen längst aktenkundig. Von der UNO umgekehrt als legitim anerkannt ist der Widerstandskampf etwa der Befreiungsbewegungen Südafrikas (ANC), Namibias (SWAPO), Palästinas (PLO) oder El Salvadors (FMLN/FDR). Doch eben diese werden von der Reagan-Administration als „terroristische Vereinigungen“ tituliert.

Folgerichtig stempelt man das Contraopfer Nicaragua zum „Terrorstaat“, da es die salvadorianischen Befreiungsfronten FMLN/FDR unterstütze. Und Libyen und Syrien stilisiert man zum „Hort des Terrorismus“ hoch, weil sie die PLO oder dem gegen israelische Besatzer kämpfenden libanesischen Widerstand beistehen.

Hier wird die Grenze zwischen legitimen Befreiungsbewegungen und einzelnen palästinensisch-libanesischen Splittergruppen, die individuelle Terrorakte u. a. in Westeuropa verüben, bewußt verwischt, um auf diese Weise dem Neointerventionismus der US-Staatsterroristen das Mäntelchen der „Terrorismus-Bekämpfung“ umhängen und um Interventionskriege fortan als „antiterroristisch“ besser rechtfertigen können.

Libyen als geeigneter Vorwand

Weshalb wählte man dann ausgerechnet Libyen, um die vorgeschützte „lange Schlacht gegen den Terrorismus“ (R. Reagan) zu eröffnen? Einesteils eignet sich Ghaddafis nationaldemokratisches Regime (siehe AIB-Hintergrundheft zu Libyen) wegen der irrationalen Momente seiner Außenpolitik, z.B. Tschad Gebietsansprüche, Stützung Idi Amins, Androhung von Gegenattacken auf Italien, Spanien usw. am besten für das Aufziehen eines Feindbildes.

Kriegerische Akte gegen Libyen lassen sich am ehesten als Gegenwehr, als „Selbstverteidigung“ gegen einen Vorposten des internationalen Terrorismus ausgeben. So dürftig Reagans „Beweise“ für eine libysche Beteiligung bei den neueren Bombenanschlägen in Westeuropa auch sein mögen, aufgrund gelegentlicher großsprecherischer Drohungen aus Tripolis mit dem Einsatz terroristischer Methoden und wegen behördlich inszenierter bzw. gutgeheißener Attentate auf libysche Opponenten im Ausland, ließen sie sich als einigermaßen glaubhaft verkaufen.

Unter dem Vorzeichen der „Terrorismusbekämpfung“ wird es den Westmächten bzw. NATO-Alliierten wiederum einfacher gemacht, den militärischen Interventionskurs Washingtons mitzutragen oder wenigstens hinzunehmen. Begünstigend für das Drängen auf Interventionsbeteiligung gegenüber den NATO-Verbündeten mußte ferner der Fakt wirken, daß Libyen als Mittelmeeranrainer innerhalb des offiziellen Zuständigkeitsbereichs der Allianz liegt. Ghaddafis Androhungen von Gegenschlägen gegen südeuropäische NATO-Mächte im Ernstfall konnte da nur vorschob leisten. Schließlich fiel, verglichen mit dem anderen arabischen Angriffsziel Syrien, risikomindernd die größere räumliche Distanz von der UdSSR und das Nichtvorhandensein eines Beistandsvertrages mit ihr ins Gewicht. Ferner bietet das Schüren von Konfliktherden im Mittelmeenraum dem Pentagon Gelegenheit, diesen und das angrenzende

Südwestasien als militärisches Aufmarschgebiet im globalen Kriegsplan weiter zu präparieren. Hier sind in Reichweite des obersten Angriffsziels Sowjetunion atomwaffenbestückte Cruise Missiles, strategische Bomber, mobile Eingreiftruppen u. a. stationiert, ist die Grenzlinie zu einer urplötzlichen globalen Kriegseskalation fließend.

USA schlagen Entspannungsangebote aus

Eben wegen dieses hohen Risikos unterbreitete Ende März d. J. die sowjetische Führung ihren bislang weitgehendsten Vorschlag zur Entmilitarisierung des Mittelmeerraumes (siehe AIB 6/1986), drängte sie Ghaddafi zum Verzicht auf konflikteskalierende Gegenangriffe auf NATO-Ziele.

Die Reagan-Administration hingegen schlug dieses Verhandlungsangebot ebenso wie jenes Ghaddafis in Sachen Libyen in den Wind. Sie tat dies geradeso bei den vorausgegangenen radikalen Abrüstungsinitiativen Gorbatschows oder den Demilitarisierungsofferten Nicaraguas, Angolas usw.

Washingtons routinemäßiges Ausschlagen von Entspannungsangeboten macht nur einen Sinn: Das Anheizen von Regionalkonflikten und Androhen von „Zweitschlägen“ gegen Libyen, Nicaragua oder Syrien (hier stellvertretend durch Israel) kann lediglich die globale Konfrontation verfestigen. Sie wiederum vermehrt nur den Unterordnungsdruck der USA auf die europäischen NATO-Alliierten. Und mit ihm wächst die Gefahr, daß gerade Bonn als US-Sonderverbündeter (WHNS-Abkommen, Air Land Battle, Stationierer von Pershing II, Cruise Missiles, SDI-Geheimabkommen) in Reagans Kriegsabenteuer mit hineingezogen wird.

Dies erhärtet die Tatsache, daß der US-Libyenangriff durch den NATO-Oberkommandierenden Rogers von Stuttgart aus geleitet und hier stationierte Pershings dabei startklar gemacht wurden.

Wachsamkeit geboten

Äußerste Wachsamkeit, breitestmöglicher Massendruck gegen weitere US-Interventionsakte und jede bundesdeutsche Beteiligung sind daher angezeigt. Bonn muß zur WHNS-Aufkündigung, zur Eskalationsabsage, zum Einsatz zugunsten politischer Verhandlungslösungen gebracht werden.

Die rund 80.000 bundesdeutschen Spontandemonstranten gegen den US-Überfall auf Libyen haben hier Mitte April d. J. ein positives Zeichen gesetzt. Dem Reaganschen Neoglobalismus kann nur mit einem globalen Weltverständnis der Friedens und Befreiungskräfte, mit ihrem vereinten Widerstand, der Weg versperrt werden.

Wolfram Brönner ist Chefredakteur der Zeitschrift „AIB – Das 3. Welt-Magazin“.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/3 1986-3/4, Seite