LinkedIn als Barometer
Wissenstransfers zwischen ziviler und militärischer F&E
von Thea Riebe, Stefka Schmid und Christian Reuter
Gibt es Wissenstransfers zwischen militärischer und ziviler Forschung? Wenn ja, in welchem Umfang? Um die Art und Weise zu untersuchen, wie Unternehmen durch sogenannte »Spillover«-Effekte von den Aktivitäten in den Bereichen »Forschung und Entwicklung« (F&E) eines anderen Unternehmens profitieren, existieren bereits Methoden, die die Mobilität von Arbeitskräften als Initiator von Wissenstransfers untersuchen. Dieser Beitrag stellt einen ergänzenden Ansatz vor, der auf »Social Media Analytics« (SMA) beruht. Er soll helfen, die »Spillover«-Effekte vom Verteidigungsbereich in die zivile F&E quantifizieren zu können und beruht auf der Analyse von Angaben zum Beschäftigungswechsel aus dem sozialen Netzwerk »LinkedIn«.
Unter »Spillover« wird der Prozess des Transfers von (technologischem) Wissen verstanden, der häufig innerhalb oder zwischen Unternehmen entsteht und anschließend, zum Beispiel durch Patente oder Weitergabe an andere Akteure, sichtbar wird (vgl. Aghion und Jaravel 2015). Unternehmen profitieren auf diese Weise von den Aktivitäten in der F&E eines anderen Unternehmens. In diesem Zusammenhang wurden in der Forschung Ansätze entwickelt, die die Mobilität von Arbeitskräften als Initiator von Wissenstransfers untersuchen (vgl. Audretsch und Keilbach 2005). Für die Messung dieser »Spillover« wurde der Fokus auf geografische Nähe sowie auf Transfers von informellem Wissen über soziale Netzwerke gelegt.
Dieser Beitrag soll zum interdisziplinären Forschungsbereich der Friedensinformatik beitragen, die die Rolle und Anwendung der Erkenntnisse und Methoden der Informatik im Kontext von Frieden und Sicherheit untersucht (vgl. Reuter 2019). In dieser Studie untersuchen wir konkret, inwieweit die Analyse Sozialer Medien (SMA) als ein ergänzender Ansatz zur Quantifizierung von »Spillover«-Effekten im Verteidigungsbereich auf zivile Forschung und Entwicklung verwendet werden kann.
Es existieren bereits viele verschiedene Möglichkeiten, Daten aus Sozialen Netzwerken zu analysieren: Neben den Beiträgen der Nutzer*innen spielen auch persönliche Netzwerke und Beziehungen eine zentrale Rolle. Daher werden in dieser Studie insbesondere Beschäftigungsbiographien aus dem sozialen Netzwerk »LinkedIn« analysiert. Mittels deskriptiver Statistik untersuchen wir die Mobilität von Mitarbeiter*innen zwischen militärischer und ziviler F&E in Deutschland. Es wird von manchen Wissenschaftler*innen angenommen, dass Innovationen aus dem Verteidigungssektor aufgrund dessen spezifischer Eigenschaften selten in zivile Bereiche »überlaufen« (vgl. Schmid 2017). Tatsächlich zeigte unsere Studie auch, dass Mitarbeiter*innen von Rüstungszulieferern signifikant seltener in zivile F&E wechselten, als Fachkräfte, die hauptsächlich im zivilen Sektor gearbeitet haben.
Ansatz: Arbeitsmobilität und Soziale Netzwerke
Die Innovationsforschung konzentrierte sich zur Messung von »Spillover«-Effekten bisher insbesondere auf Wirtschafts-, Wissens- und Technologietransfers, auch in persönlichen Netzwerken oder durch einzelne Sektoren (vgl. Cerulli und Potì 2009). Die Untersuchung von »Spillover«-Effekten hilft dabei, zu verstehen, welchen Effekt Innovationen über ihren originären Sektor hinaus haben können und wie sich solche Effekte über verschiedene Sektoren hinweg verhalten. Die wichtigste Methode zur Untersuchung und Quantifizierung von »Spillover«-Effekten macht sich den Umstand zunutze, dass sich Autor*innen von Patenten und Publikationen gegenseitig zitieren. Die Untersuchung dieser Zitationsnetzwerke hilft, die Beziehungen zwischen Innovationen nachvollziehen zu können (vgl. Acosta et al. 2011). Die Analyse von Patentzitaten bietet zwar viele Vorteile, stößt aber auch an Grenzen. Insbesondere bei den sogenannten »Emerging Technologies«, also grundlegend neuen und sich schnell entwickelnden Technologien, die möglicherweise noch keinen etablierten Output an Patenten entwickelt haben, muss unter Umständen auf andere Indikatoren für die Messung des »Spillover« von Innovationen zurückgegriffen werden.
Dabei wird diesen Innovationen ein weitreichender Einfluss und die Fähigkeit zugeschrieben, den Status Quo zu verändern. Da sie sich noch in der Entstehung befinden und viele Anwendungsgebiete noch erforscht werden, vermutet man ihre bedeutsamsten Auswirkungen in der Zukunft, weshalb letztere noch nicht mit Sicherheit eingeschätzt werden können (vgl. Rotolo et al. 2015). Im militärischen Kontext werden als solche zukunftsweisenden Innovationen in Entwicklung derzeit insbesondere Cyber-Technologien, Künstliche Intelligenz (KI), autonome Waffensysteme (AWS), Hyperschallflugkörper und ferngelenkte Systeme diskutiert (vgl. Sechser et al. 2019).
Im Zuge der zunehmenden Nutzung sozialer Netzwerkplattformen wie »Facebook« und »LinkedIn« ist das Feld der »Social Media Analytics« entstanden. Deren Ansatz ist es, Methoden zur Analyse von Social-Media-Daten zu kombinieren, zu erweitern und anzupassen (vgl. Stieglitz et al. 2018). Die Verwendung der von SMA bereitgestellten Daten kann Aufschluss über soziale Netzwerke und relevante Wissenstransfers geben, welche die Schwachstellen der Patentanalyse umgehen könnten. Bei der Untersuchung von »Spillover«-Effekten auf der Basis von individuellem Verhalten konzentriert sich unser Ansatz mithilfe einer Karrierenetzwerkanalyse darauf, wie Individuen Wissen zwischen Unternehmen, Abteilungen und Jobpositionen übertragen. Auch wenn sich die betreffenden Personen nicht persönlich kennen, können ihre Wege miteinander verbunden sein, indem sie für dieselbe Firma arbeiten, ähnlichen Aufgaben nachgehen oder dasselbe Wissen erwerben und weitergeben (vgl. Robertson und Jacobson 2011). Unserer Ansicht nach repräsentieren »LinkedIn«-Netzwerke teilweise diese Netzwerkcharakteristika und ermöglichen so die Untersuchung von Verbindungen zwischen der Verteidigungs- und der zivilen Industrie sowie zwischen relevanten Rüstungsunternehmen, welche durch Arbeitsplatzwechsel einzelner Akteure initiiert werden.
Ergebnisse und ethische Einordnung
Für die Analyse wurden 513 Profile von Mitarbeiter*innen untersucht, die im Zeitraum von 2009-2019 zu irgendeinem Zeitpunkt für die drei umsatzstärksten Rüstungsunternehmen in Deutschland gearbeitet haben.1 Die Beschäftigten wurden danach ausgewählt, dass sie in einem Bereich der F&E tätig waren, wobei nicht nach der Beschäftigung mit einer konkreten Technologie ausgewählt wurde. Die Beschäftigten wechselten ihren Arbeitsplatz zwischen 2009 und 2019 im Durchschnitt 3,75 Mal (siehe Tabelle auf Seite 50).
Anzahl der Arbeitsplätze zwischen 2009-2019 | 1,926 |
---|---|
Fachkräfte | 513 |
Durchschnittliche Arbeitsplatzwechsel pro Person | 3.75 |
Standardabweichung | 1.76 |
Median | 3 |
Tabelle: Arbeitsmobilität zwischen 2009-2019
Es lassen sich drei Gruppen innerhalb der Stichprobe identifizieren: Gruppe eins (D), bestehend aus Personen, die ausschließlich für Unternehmen des Verteidigungssektors gearbeitet haben, Gruppe zwei (DC), bestehend aus Personen, die überwiegend im Verteidigungssektor gearbeitet haben und Gruppe drei (C) mit Personen, die häufiger im zivilen Sektor als im Verteidigungssektor gearbeitet haben (siehe Abbildung auf Seite 50). Die Anwendung der deskriptiven Statistik auf die Stichprobe zeigt dementsprechend in der Verteilung von militärischen zu zivilen Arbeitsplätzen, dass 257 Personen innerhalb von zehn Jahren ausschließlich für verteidigungsorientierte Unternehmen gearbeitet haben (der Anteil der Jobs im militärischen Bereich (v) ist also v(D) = 1.00). Des Weiteren arbeiteten 154 Individuen überwiegend im militärischen (v(DC) = 0.50) sowie 102 überwiegend im zivilen (v(C) < 0.50) Bereich. Dabei wechselte die erste Gruppe durchschnittlich weniger häufig ihre Arbeitsposition (v(D) 3,242), während mit stärkerer Bindung an zivil ausgerichtete Unternehmen die durchschnittlichen Jobwechsel pro Person stiegen (v(DC) 4,019, v(C) 4,608).
Abbildung: Anzahl der Beschäftigten nach Arbeitsaktivitäten im militärischen (D),
überwiegend militärischen (DC) und zivilen (C) Bereich (Ntotal = 513, MDC and C = 0.49, SDDC and C = 0.17).
Dies scheint die Annahme zu stützen, dass der »Spillover« von Wissen aus der Verteidigungsindustrie nur gering ist und unterstützt damit die These, dass dies auch an den äußerst spezifischen Merkmalen der nationalen Verteidigungsindustrien liegen könnte. Aus den detaillierten Projektbeschreibungen zu den jeweiligen Profilen der Mitarbeiter*innen lässt sich außerdem der wissensbasierte Charakter der Arbeitsplätze ablesen. Unternehmen tragen daher indirekt durch den Wechsel von Mitarbeiter*innen dazu bei, dass sich neue Technologien weiterentwickeln und an neue Kontexte angepasst werden können. Der Wissens-»Austausch« zwischen den Mitarbeiter*innen, auch wenn er quantitativ wenig stattfindet, kann somit qualitativ zur Verbreitung einer neuen Technologie beitragen. Dies gilt es durch weitere Studien zu untersuchen.
Die Soziale Netzwerkanalyse direkter Beziehungen (vgl. Leistner 2012) führt jedoch im Gegensatz zur Untersuchung von Verbindungen der Unternehmen zu forschungsethischen Herausforderungen, da hierzu die Analyse von Daten erforderlich ist, die aus dem Kontext der Zustimmung durch die Nutzer*innen herausgelöst werden oder gar deren Privatsphäre verletzen könnten (vgl. Hoser und Nitschke 2010). In dieser Hinsicht erweist sich die Patentanalyse als forschungsethisch weniger problematisch, da die öffentlich zugänglichen Datenbanken bekannt sind und es weniger Beschränkungen bezüglich des Schutzes der individuellen Privatsphäre gibt. So kann man Patentinformationen einschließlich ihres Inhalts analysieren, um einen tieferen Einblick in die Merkmale des übertragenen Wissens zu erhalten, ohne dabei den Fokus durch die Analyse ihrer charakteristischen Fähigkeiten oder Biografien auf Einzelpersonen zu legen. Die Dokumentation und Diskussion ethischer Fragen in Abwägung mit dem tatsächlichen Forschungsnutzen ist daher auch bei der Durchführung von Social Media-Forschung von entscheidender Bedeutung. In Einschränkung unserer eigenen Ergebnisse muss daher festgehalten werden: In weiteren Studien sollte der Fokus auf Netzwerkdaten gelegt werden, die nicht oder weniger personenbezogen sind, und sich stärker an spezifischen Technologien, Firmen oder Projekten orientieren.
Unsere Studie zeigt, wie »Spillover«-Effekte zwischen dem Verteidigungs- und dem zivilen Sektor mithilfe von sozialen Karrierenetzwerken wie »LinkedIn« gemessen werden können. Dieser Ansatz kann damit zum einen Patentnetzwerkanalysen ergänzen, die sich der Diffusion von Technologien in zivilen und militärischen Bereichen widmen, indem der Fokus auf hierfür relevante (personale) Prozesse der Wissensproduktion in Firmen gelegt wird. Zum anderen könnten Zitationsnetzwerkanalysen, die sich auf Wissenstransfers zwischen Publikationen im akademischen Diskurs fokussieren, von der Konzentration der SMA auf den Anwendungsbereich, also wirtschaftliche Aktivitäten in militärischen oder zivilen Industrien, profitieren.
Dies erlaubt eine richtungsweisende Auseinandersetzung mit neuen (militärischen) Technologien mit Blick auf verantwortungsvolle F&E, welche zu einer besseren Beurteilung neuer Technologien beitragen kann. Besonders wenn sie viele mögliche Anwendungsfelder haben, stellen diese Technologien eine Herausforderung für die Einschätzung der Risiken und potentieller Folgen für die internationale Sicherheit und den Frieden dar (vgl. Riebe und Reuter 2019). Um diese Effekte zu untersuchen, und die Verbreitung von Technologien zwischen Wirtschaftssektoren zu analysieren, kann die technisch-naturwissenschaftliche Friedensforschung sich in Zukunft auch der Methoden der »Spillover«-Forschung bedienen.
Dieser Beitrag ist die gekürzte Version von »Riebe et al. (2020): Measuring Spillover Effects from Defense to Civilian Sectors – A Quantitative Approach Using LinkedIn. In: Defence and Peace Economics« (doi.org/10.1080/10242694.2020.1755787).
Anmerkung
1) Anzumerken ist hier allerdings, dass nicht bekannt ist, wie viele Mitarbeiter*innen der untersuchten Unternehmen tatsächlich bei LinkedIn angemeldet sind.
Literatur
Acosta, M.; Coronado, D.; Marín, R. (2011): Potential dual-use of military technology: Does citing patents shed light on this process? In: Defence and Peace Economics 22(3), S. 335-349.
Aghion, P.; Jaravel, X. (2015): Knowledge spillovers, innovation and growth. In: Economic Journal 125(583), S. 533-573.
Audretsch, D. B.; Keilbach, M. (2005): The mobility of economic agents as conduits of knowledge spillovers. In: Fornahl, D.; Zellner, C.; Audretsch, D. B. (Hrsg.): The role of labour mobility and informal networks for knowledge transfer. Boston: Springer Science, S. 8-25.
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Hoser, B.; Nitschke, T. (2010): Questions on ethics for research in the virtually connected world. In: Social Networks 32(3), S. 180-186.
Leistner, F. (2012): Connecting organizational silos. Taking knowledge flow management to the next level with social media. Hoboken: Wiley.
Reuter, C. (2019): Information technology for peace and security. IT-applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg.
Riebe, T.; Reuter, C. (2019): Dual-use and dilemmas for cybersecurity, peace and technology assessment. In: Reuter, C. (Hrsg.): Information technology for peace and security. IT-applications and infrastructures in conflicts, crises, war, and peace. Wiesbaden: Springer Vieweg, S. 165-183.
Robertson, P. L.; Jacobson, D. (2011): Knowledge transfer and technology diffusion: An introduction. In: Dies. (Hrsg.): Knowledge transfer and technology diffusion. Cheltenham: Edward Elgar, S. 1-34.
Rotolo, D.; Hicks, D.; Martin, B. R. (2015): What is an emerging technology? In: Research Policy 44(10), S. 1827-1843.
Schmid, J. (2017): The diffusion of military technology. In: Defence and Peace Economics 29(6), S. 1-19.
Sechser, T. S.; Narang, N.; Talmadge, C. (2019): Emerging technologies and strategic stability in peacetime, crisis, and war. In: Journal of Strategic Studies 42(6), S. 727-735.
Stieglitz, S.; Mirbabaie, M.; Ross, B.; Neuberger, C. (2018): Social media analytics. Challenges in topic discovery, data collection, and data preparation. In: International Journal of Information Management 39, S. 156-168.
Thea Riebe ist Doktorandin am Lehrstuhl Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der TU Darmstadt und erforscht Dual-use-Risiken und deren Bewertung in der Informatik.
Stefka Schmid erforscht als Doktorandin am Lehrstuhl Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) Innovationsdiffusion von AI und verantwortungsvolle Digitalisierung.
Christian Reuter verbindet als Inhaber des Lehrstuhls Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit (PEASEC) an der TU Darmstadt Fragen der Informatik mit der Friedens- und Sicherheitsforschung.