W&F 1999/2

Macht oder Moral

Welche Rolle spielen ethische Prinzipien in den internationalen Beziehungen?

von Martin Kahl

Die Beantwortung der Frage zwischen Macht und Moral, die Antwort auf das Problem, ob allein materiale Interessen von Staaten oder nicht auch ethische Erwägungen in der internationalen Politik zur Geltung gebracht werden können, mithin die Feststellung von Handlungsspielräumen bei politischen Entscheidungen, hängt davon ab, welcher Schule oder »Großtheorie« in den internationalen Beziehungen man anhängt. Diese Aussage trifft nicht nur auf PolitikwissenschaftlerInnen zu, sondern auch auf politische EntscheidungsträgerInnen.

Im Haifischbecken gibt es keine Moral – genauer: In einem feindlichen Umfeld kann man sich um des Überlebens des eigenen politischen Gemeinwesens willen keine moralischen Skrupel und Sentimentalitäten leisten. Es kommt vielmehr allein auf die eigene Macht an, die es ermöglicht, sich potenzielle Gegner vom Leibe zu halten. Dies ist die Grundauffassung der zumindest bis zum Ende des Ost-West-Konflikts dominanten Theorie der internationalen Beziehungen, der des »Realismus«.

Der Realismus in seiner heutigen Form sieht die Grundstruktur des internationalen Systems durch die zwischenstaatliche Machtverteilung und durch das anarchische Ordnungsprinzip definiert. Der Begriff »Anarchie« bezeichnet ein Modell des internationalen Systems, das geprägt ist durch die Abwesenheit eines »Souveräns«, einer »zentralen Sanktionsgewalt«, eines faktischen Monopols legitimer physischer Gewaltanwendung. Dies unterscheidet die internationale Welt prinzipiell von der staatlich verfassten Ordnung und jegliches internationale Denken in Analogie zu innerstaatlichen Ordnungen erscheint daher unangemessen. Aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems ergeben sich für die staatlichen Akteure gleichsam zwangsläufig existenzielle Unsicherheiten. In einer anarchisch strukturierten internationalen Welt ist in letzter Instanz jeder Staat sich selbst der Nächste und sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, im Rahmen einer »Selbsthilfe« die eigene Sicherheit bzw. die eigene Existenz gegenüber den Anfechtungen (oder auch nur vermuteten Anfechtungen) anderer zu verteidigen. Die anarchische Struktur des internationalen Systems zwingt alle Staaten, sich – unabhängig davon, wie sie im inneren strukturiert sind und sich gegenüber ihren eigenen BürgerInnen verhalten – um den Preis ihrer Selbsterhaltung machtmaximierend zu gerieren und gegenüber allen anderen Staaten misstrauisch zu bleiben: Der Freund von heute kann stets der Feind von morgen sein. Kennzeichnend für die internationale Politik sind mithin nicht in erster Linie Kooperation und Frieden, sondern Misstrauen, Konflikt und Krieg.

In einem solchen Selbsthilfesystem, in dem allein der Stärkere die Chance hat sich durchzusetzen, bleibt kaum Platz für ethische Prinzipien. Da alle Staaten gezwungen sind, sich den beschriebenen strukturellen Zwängen gemäß zu verhalten, käme als einziges »ethisch« zu nennendes Prinzip in Frage, Vorsorge gegen die Vernichtung oder Okkupation des eigenen Staates zu treffen – eben durch Machtanhäufung. Weniger eine Moral als eine politische Klugheitslehre ist somit angemessen. In der Regel verbietet diese politische »Klugheit«, d.h. das Agieren nach den Strukturgesetzen des internationalen Systems, jede noch so gut gemeinte »gesinnungsethische« Entscheidung. Ethische Rechtfertigungen geraten bei RealistInnen schnell in den Verdacht, post hoc Rationalisierungen machtpolitischer Interessen zu sein. Was zählt ist das Außenverhalten, die Frage, welche Bedrohung von einem Staat für andere Staaten aufgrund seines Machtpotenzials ausgeht und nicht, wie er mit der eigenen Bevölkerung umgeht. Interventionen, die das Ziel haben, aus rein humanitären Erwägungen heraus die innenpolitischen Bedingungen in einem Staat zu ändern, sind – zumal dann, wenn durch sie prekäre Machtgleichgewichte bedroht werden – »systemwidrig« und von daher zu unterlassen.

Nun stellt sich das heutige internationale System nicht völlig unstrukturiert dar, existieren doch eine ganze Reihe internationaler Organisationen mit vielerlei Verhaltensregeln – unter ihnen die UNO und die partiell hochintegrierte EU – und mannigfaltige ökonomische, gesellschaftliche Interdependenzen, die auf Kooperation hindeuten und nicht einfach Ausdruck eines Strebens von Staaten nach unbedingter Machtsteigerung zu sein scheinen. Kann man also nicht von Staaten als rationalen Nutzenmaximiern ausgehen und trotzdem eine gewisse regelgeleitete Zusammenarbeit im internationalen System annehmen? Genau dies tut der seit den 70er Jahren in Konkurrenz zum Realismus entstandene (neoliberale) Institutionalismus. Er behält die Auffassung von Staaten als rationalen Akteuren bei, andererseits betont er, dass aufgrund zunehmender internationaler Interdependenzen gemeinsame Problemlagen zugenommen haben, die eine Kooperation unter Staaten ratsam erscheinen lassen. Verstetigen sich solche Kooperationen, kann von »Regimen« gesprochen werden, die normativ Standards von Verhalten festlegen, basierend auf gegenseitigen Rechten und Pflichten. Von der so gewonnenen Verhaltenssicherkeit können alle Akteure profitieren. Institutionen spielen in der internationalen Politik dieser Auffassung gemäß die entscheidende regulative Rolle. Sie können durchaus prägenden Einfluss auf das Verhalten von Staaten ausüben, möglicherweise sogar selbst die Interessen von Staaten ändern. Institutionen spiegeln also nicht einfach gegebene zwischenstaatliche Machtstrukturen wider: Staaten, obwohl selbstsüchtig, können sich durchaus an gemeinsamen Normen orientieren und sich dauerhaft nach ihnen richten – auch dann, wenn keine übergeordnete Gewalt sie sanktionieren könnte. Die praktisch-politische Konsequenz aus dieser Erkenntnis wäre mithin die Schaffung eines dichten Netzes von Institutionen, durch die die anfallenden Probleme kooperativ gelöst und Konflikte vermieden werden können. Der Institutionalismus hat so den Weg zu der Erkenntnis bereitet, dass normative Standards auch in Abwesenheit eines Gewaltmonopols befolgt werden können und zwar auch dann, wenn sie kurzfristigen machtpolitischen oder ökonomischen Interessen widersprechen.

Noch deutlicher wird die verhaltensbestimmende Rolle von Normen beim Liberalismus. Die äußeren oder »strukturellen« Zwänge, auf die der Realismus abstellt, kennt die liberale Schule nicht. Ohne eine vergleichbar vollständige Theorie der internationalen Beziehungen ausgearbeitet zu haben, erklärt sie das außenpolitische Verhalten von Staaten durch die spezifischen Interessen und Wertvorstellungen innerstaatlicher Akteure. Da diese sich deutlich bei Demokratien und Diktaturen unterscheiden, legen ihre Repräsentanten in der internationalen Politik auch unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag. Die grundlegenden Strukturen des internationalen Systems sind aus dieser Sicht also subsystemisch. Internationale Faktoren können zwar eine Wirkung auf die außenpolitischen Entscheidungen von Staaten haben, wirken aber nicht deterministisch.

Als Herzstück liberaler internationaler Theorie kann die Erkenntnis gewertet werden, dass demokratische (liberale) Staaten keine Kriege gegeneinander führen. Hierfür sind unterschiedliche Erklärungen angeführt worden, es gibt unter ihnen auch einen normativen Erklärungsstrang welcher besagt, dass ein demokratisches System bestimmte Normen und Erwartungen hinsichtlich der friedlichen Lösung von Konflikten mit anderen Demokratien sowohl in der Bevölkerung als auch unter den politischen EntscheidungsträgerInnen fördere. Da ein demokratisches System Mittel des staatlichen Zwangs nur in sehr zurückhaltender Weise einsetzen kann, wird es auf Dauer nur dann funktionsfähig sein, wenn es auf ein verbreitetes demokratisches Ethos bauen kann, wenn sowohl EntscheidungsträgerInnen als auch BürgerInnen die auf friedlichem Wettbewerb, Kompromiss und Toleranz gründenden demokratischen Verfahrensweisen innerlich akzeptieren. Nach Auffassung der VertreterInnen des Liberalismus gebärden sich liberale Staaten außenpolitisch gegenüber anderen also genauso liberal wie sie sich selbst nach innen gegenüber ihren BürgerInnen verhalten, d.h. sie externalisieren die inneren Werte und Normen auf die internationale Politik. Als außenpolitische Akteure wollen sie die Ordnung des internationalen Systems und die internationale Politik den Werten und Prinzipien ihrer innerstaatlichen Präferenzen und Praktiken entsprechend gestalten.

Demokratische Gesellschaften (bzw. deren Entscheidungseliten) schließen gewissermaßen von sich auf andere Demokratien, neigen also zu der Annahme, dass andere Demokratien sich nicht nur innerstaatlich, sondern auch in ihren auswärtigen Beziehungen friedlicher Mittel der Konfliktlösung bedienen werden. Diese wechselseitigen Erwartungshaltungen werden in aller Regel durch das konkrete Konfliktverhalten der anderen Seite bestätigt. Krieg ist somit im Verhältnis von Demokratien untereinander offenbar kein legitimes Mittel der Politik. Man kann also von einer friedlichen Wertegemeinschaft und aus sicherheitspolitischem Blickwinkel von einer Sicherheitsgemeinschaft unter Demokratien sprechen.

Wenn diese Annahmen zutreffen, ist es unter friedenspolitischen Gesichtspunkten folgerichtig, den demokratischen Gedanken über die Grenzen hinaus zu verbreiten und die Herausbildung demokratischer Regierungsformen in allen Staaten zu unterstützen oder aktiv voranzutreiben. Die Ausbreitung der Demokratie wäre dann moralisch geradezu geboten, denn sie bedeutet Menschenrechtsschutz und Frieden.

Kennt also der Realismus in der Hauptsache nur Feinde und lediglich vorübergehende Verbündete, die der eigenen Sache nutzen, und verhält sich der Institutionalismus weltanschaulich neutral, indem er auf das Kooperationsinteresse rationaler Staaten im Zeitalter der Interdependenz abhebt sowie lediglich die Bedingungen zur Kooperationserleichterung aufzeigt, so trennt der Liberalismus sehr deutlich zwischen dem »Wir« demokratischer Staaten, die liberale Werte repräsentieren, und den »anderen«, potenziell feindlichen Nichtdemokratien.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Skizze dürfte nun die »neue Ethik« in den internationalen Beziehungen verständlicher werden. Außerhalb der Wertegemeinschaft liberaler Staaten finden sich »unzuverlässige« Regime, die man für die eigene Gemeinschaft aufgrund divergierender Werte nicht für tauglich – wenn auch nicht direkt feindlich – hält (etwa die Türkei mit Hinblick auf eine EU-Migliedschaft), und autoritäre Regime, von den USA als »rogues« bezeichnet, die sich »grundsätzlich« nicht an den Wertekanon liberaler Staaten halten. Die meist katastrophale Menschenrechtssituation in diesen Staaten stellt dabei nur einen, wertemäßig aber sicher den aufgeladensten Aspekt dar. Diese »Paria-Staaten« werden in Verbindung gebracht mit dem Besitz von Massenvernichtungswaffen und ihrer Proliferation, mit der Unterstützung von Terrorismus und der Destabilisierung regionaler Gleichgewichte.

Der Ost-West-Konflikt, zwar auch Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über gesellschaftliche Ordnungsmodelle, stellte eine Konfrontation zwischen zwei militärisch starken Blöcken dar, die sich machtpolitisch zu balancieren versuchten und keine Intervention in die Angelegenheiten eines Staates des gegnerischen Blocks ohne Eskalationsrisiko zuließen. Wenn innerhalb des eigenen Blocks interveniert wurde, dann nicht aus menschenrechtlichen Motiven, sondern um ein vermeintliches »Abgleiten« zum Gesellschaftssystem des Gegners zu verhindern. In diesem konfrontativen System musste permanent nach Verbündeten gesucht und es konnte nicht immer Rücksicht darauf genommen werden, ob diese Verbündeten sich gegenüber ihren eigenen Bevölkerungen so verhielten wie man es sich – zumindest im Westen – gewünscht hätte. Autoritäre Regime im eigenen Block mussten gegen die »kommunistische« Bedrohung unterstützt werden, ihre Menschenrechtsverletzungen wurden um der großen und ganzen Sache willen häufig übersehen. Sicherheitsdilemma, Machtbalance und Nullsummenspiele (ein Gewinn auf der eigenen Seite stellt immer einen Verlust auf der des Gegners dar) waren die vorherrschenden Kategorien, in denen in der Hochphase des Kalten Krieges gedacht und gehandelt wurde – nicht zufällig war dies auch die Zeit des größten Einflusses des Realismus. Mit der Entspannungspolitik und zunehmenden – auch transnationalen – Interdependenzen gewann der die Aussagen des Realismus abschwächende Institutionalismus an Einfluss, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist nun der Realismus in erhebliche Erklärungsnöte geraten und muss den Weg freigeben für andere – liberale – Weltdeutungen.

Es kann keinesfalls davon gesprochen werden, dass es seit 1989 eine »neue Grausamkeit« autoritärer Staaten gäbe, die humanitäre Interventionen heute besonders dringlich erscheinen ließe; Grausamkeiten von Staaten – auch an der eigenen Bevölkerung – sind seit 1945 zur Genüge vorgekommen. Es gibt auch nicht mehr Bürgerkriege – die heute dominante Form des Einsatzes militärischer Gewalt – als vor 1989. Auch vor dem Ende des Ost-West-Konflikts hat es also viele Situationen gegeben in denen Interventionen genau so begründet gewesen wären wie heute. Es dürfte aber einleuchten, dass die gewandelte Struktur des internationalen Systems – das Fortfallen der Blockkonfrontation und die Vormacht der westlichen liberalen Staaten, allen voran der USA – nun andere Handlungsmöglichkeiten bietet als zur Zeit des Ost-West-Konflikts. Heute kann ohne ernstes Eskalationsrisiko und aufgrund überlegener Militärtechnologie ohne die Gefahr größerer eigener Verluste in die »inneren Angelegenheiten« fremder Staaten interveniert werden. Waren westliche Staaten schon immer am »Export« ihrer Werte und Regierungsform interessiert, so haben sie heute die Möglichkeit, diese im Notfall auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Solange dies Legitimität und Haushaltsmittel beschafft, hat auch das Militär, traditionell der »realistischen« Sichtweise zugetan, nichts gegen Interventionen aus humanitären Gründen einzuwenden. Menschenrechtsdurchsetzung hat seit 1989 explizit auch zur Rechtfertigung für Budgetforderungen der Militärs gedient, allerdings nur als ein Aspekt unter anderen »neuen Bedrohungen«.

Davon einmal abgesehen zeigt dies alles, dass die »neue Ethik« in den internationalen Beziehungen, die Zunahme der Bedeutung von Menschrechtsschutz und Demokratisierung, die Verbreitung liberaler Werte zunächst sehr viel mit den geänderten Strukturbedingungen des internationalen Systems zu tun haben. Aus den Beschränkungen des Ost-West-Konflikts entlassen, bieten sich nun viel mehr Handlungsmöglichkeiten für den Westen – unter ihnen auch ethisch orientierte. Man kann sich, salopp formuliert, jetzt mehr Moral leisten und auf ethische Probleme sensibler reagieren. Während die Maßeinheit für eine sicherheitspolitische Katastrophe während des Ost-West-Konflikts Millionen von Tote in einem nuklearen Schlagabtausch oder einen großen konventionellen Krieg in Europa waren – und um dies zu vermeiden, mussten bisweilen kleinere »Opfer« gebracht werden – bedeuten die 1.800 Toten (einschließlich der Kämpfer der UCK und der serbischen Sicherheitskräfte), die 1998 im Kosovo zu beklagen waren, eine für den Westen über das erträgliche Maß hinausgehende menschliche und menschenrechtliche Tragödie. Zum Vergleich: Die Tötung von 300 ZivilistInnen in einer einzigen »Aktion« durch von den USA unterstützte Sicherheitskräfte eines mittelamerikanischen Staates galten der US-Regierung Mitte der 80er Jahre als »non-event«. Im Blick waren, wie gesagt, weniger die Menschen und ihre Leiden als vielmehr die Frage, was dem Systemgegner nutzt oder schadet. Man hat in anderen Gewaltdimensionen gedacht, Kriege waren blutig und verlustreich und fanden vor dem Hintergrund eines totalen Nuklearkrieges statt. Erst mit dem Golfkrieg ist zudem ein Element hinzugetreten, das humanitäre Interventionen wie die im Kosovo erst hat machbar erscheinen lassen: high-tech Kriege ohne große eigene Verluste (und ohne größere Verluste unter der Zivilbevölkerung des Feind-Staates). Seitdem erst scheinen »humane Kriege« zu »ethischen« Zwecken führbar.

Dass bei militärischen Interventionen allein ethische Motive auschlaggebend sein können, ist für viele PolitikerInnen und professionelle BeobachterInnen (aber auch für Teile der Friedensbewegung) offenkundig noch immer schwer nachvollziehbar – zumal dann, wenn sie mit der damit verbundenen Gewaltanwendung nicht einverstanden sind. Sie versuchen in der Regel deshalb hinter solchen Interventionen die »wirklichen« Interessen der intervenierenden Staaten auszumachen, beispielsweise die »strategischen Absichten« der USA hinter der Intervention im Kosovo. Ein rein von ethisch-moralischen Motiven gespeistes Verhalten jedenfalls vermögen sich diese KritikerInnen nicht vorzustellen. Man mag die einzelnen Beweggründe hinter dem Kosovo-Einsatz sehen wie man will, die Lehre von den internationalen Beziehungen, insoweit sie auf die liberale Schule bezug nimmt, schließt solche Motivationen nicht aus und eine wachsende Zahl von ForscherInnen hat in den letzten Jahren in verschiedenen Studien nachzuweisen versucht, dass Staaten sich tatsächlich von moralischen Erwägungen – bisweilen sogar im Widerspruch zu ihren vermeintlichen Interessen – leiten lassen können.

Die Problematisierung von Interessen als ausschließlicher Handlungsorientierung ist weit fortgeschritten in den sogenannten »reflexiven« Ansätzen, die die Rolle von Ideen und Wissen in der Politik beleuchten: Akteure handeln nicht gemäß exogen vorgegebenen Interessen und Präferenzen, sondern sind stets eingebunden in ein Netz intersubjektiver Bedeutungsinhalte, sie agieren normengeleitet und kulturabhängig auf Basis eines sich ständig änderenden Vorrats an »Wissen«. Auch die internationale Gesellschaft wird entsprechend als norm- und regelgeleitet beschrieben, Kooperation entspringt mithin nicht ausschließlich Zweck-Mittel-Kalkülen und ist auch nicht, wie rationalistische Ansätze dies behaupten, aus den Zwängen der anarchischen Struktur des internationalen Systems ableitbar, sondern basiert auf der Grundlage gemeinsamer Werte und des mit diesen Werten verbundenen Verpflichtungsgehalts. Normen dienen auch zur Definition der eigenen Interessen, Veränderungen im moralischen Bewusstsein und im Verständnis über moralische Verpflichtungen können Interessen grundlegend ändern.

Natürlich sind nicht alle Entscheidungen in der Weltpolitik ethisch motiviert und in den meisten Fällen wird es darum gehen, die Balance zwischen Interessen und Werten zu bestimmen, darum, die Bedingungen und die Reichweite herauszuarbeiten, unter denen Normen eine politikgestaltende Kraft gegenüber Machtkalkülen und ökonomischen Zwängen entwickeln können. Bleiben wir beim Beispiel Kosovo: In einigen an der Intervention beteiligten Staaten ist zweifellos eine starke humanitäre Motivation feststellbar, andererseits spielt bei manchen EntscheidungsträgerInnen aber auch das (nachgeordnete) machtpolitische Interesse eine Rolle, mit diesem Konflikt die Legitimität und Alleinzuständigkeit der NATO festzuschreiben. Humanitäre Erwägungen können auch durch die Angst vor einer »schlechten Presse« (wie nach den Morden von Srebrenica) noch verstärkt werden.

Wie dem auch sei: Die humanitären Interventionen der letzten Jahre haben gezeigt, dass unter Führung der liberalen Staaten allmählich die Norm durchgesetzt wird, dass Menschenrechte über staatliche Souveränität zu stellen seien und gegebenenfalls humanitäre Interventionen rechtfertigten. Diese widerspricht vorderhand zwar dem Grundgedanken der UN-Charta, die von souveränen Staaten ausgeht und jegliche Einmischung in die »inneren Angelegenheiten« von Staaten verbietet. Der UNO ging es seit 1945 lediglich um das Verhalten von Staaten untereinander, nicht um ihre innere Verfassung. So hat sie sich lange Zeit für die Durchsetzung von Menschenrechten nicht zuständig erklärt, erst später den verschiedenen Menschenrechtsdeklarationen Foren geschaffen, jedoch immer nicht-interventionistische Einflussformen (Berichtspflicht, Staaten- und Individualbeschwerde) gewählt, durch die Staaten zwar öffentlich angeklagt, keinesfalls aber militärisch sanktioniert werden konnten. Die Haltung der UNO zu humanitären Interventionen hat sich allerdings mit dem Ende des Ost-West-Konflikts geändert, wiederum unter Führung der westlichen Staaten.

Die Diskussion ist nun bereits über die UNO hinweggegangen – wurde bis vor kurzem noch darüber debattiert, ob humanitäre Interventionen überhaupt (also auch mit einem Sicherheitsrats-Beschluss) legitim sein können, dreht sich die Diskussion heute um die Frage, wie humanitäre Interventionen auch ohne SR-Beschluss gerechtfertigt werden können. Diese Entwicklung speist sich aus der großen Bedeutung, die die Menschenrechte für die Identität der westlichen Staatengemeinschaft gewonnen haben. Und sie wirft einige Fragen auf. Die »Entdeckung« der Ethik in den internationalen Beziehungen geht mit einem Bedeutungszuwachs US-amerikanischer Perspektiven einher, dem Siegeszug US-amerikanischer (westlicher) Werte und Handlungsorientierungen. Die Weltpolitik soll von der Willkür autoritärer Staaten weggeführt werden und zu einer Normorientierung nach Maßgabe westlich liberaler Werte hinfinden. Dabei ist gewiss einleuchtend, dass diejenigen Normen, die den Vorstellungen der mächtigsten Staaten entsprechen, sich einfacher etablieren können. Der gegenwärtige »NATO-Humanismus« (Ulrich Beck) setzt eine militärisch-politische Hegemonie der USA voraus, nur sie ist in der Lage, gefahrlos die Souveränitätsrechte fremder Staaten aufzuheben. Dennoch: Atomwaffenbesitzende Staaten haben weiterhin keine militärischen Interventionen zu befürchten und so bleibt die militärische Menschenrechtsdurchsetzung notwendigerweise selektiv. Die Selbstermächtigung, aus moralischen Gründen in die inneren Angelegenheiten von Staaten einzugreifen, läuft zudem stets Gefahr, Kreuzzügen gegen missliebige Staaten Vorschub zu leisten.

Als Antwort auf die Frage, wie ein »ethisches« internationales System aussehen könnte, scheint es für eine Vielzahl von PolitikerInnen auszureichen, die Zahl der Demokratien stetig zu mehren und die der »rogues« zu vermindern, um zu einer »neuen Weltordnung« und damit zu einer friedlicheren Welt zu gelangen. Es muss allerdings die Frage gestattet sein, ob eine ethisch zu nennende internationale Politik nicht auch »globale Werte«, also Umweltschutz, eine weltweit gleichere Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen als normative Perspektive einschließen sollte. Die globalen Herausforderungen mahnen eindringlich eine gemeinsame Handlungsbereitschaft und solidarische Verhaltensnormen an. Die Propagierung solcher Normen liegt heute eher bei den transnationalen, nicht-gouvernementalen Organisationen, die die Staaten erst zur Entwicklung und Einhaltung solcher Normen anzuhalten versuchen. Bei der Schaffung einer (militärisch) gestützten »neuen Weltordnung« aus rechtstreuen Staaten trauen sich vor allem die USA viel Gestaltungskraft zu; wenn es um wirkliche »Globalpolitik« geht, verstecken sie sich dagegen gern hinter allen denkbaren »Sachzwängen«.

Aus einer solchen übergeordneten Perspektive greifen auch die gegenwärtig praktizierten humanitären Interventionen zu kurz. Sie zielen auf Symptombekämpfung und gehen der Ursachenanalyse aus dem Weg. Sie setzen auf »rule enforcement« – die Durchsetzung einer bestimmten ordnungspolitischen Konzeption – und zu wenig auf präventive Stabilisierung. Die Verteilung der Haushaltsmittel in den westlichen Staaten für militärische und für Zwecke der stabilisierenden Auslandshilfe sprechen hier eine deutliche Sprache.

Bei einer konsequenten Weiterentwicklung des liberalen Ansatzes müssten die dominierenden westlichen Länder zu der Einsicht gelangen, dass humanitäre Interventionen sich zwar in Einzelfällen rechtfertigen lassen, sie aber nur auf einen Teilaspekt eines an normativen Kriterien orientierten internationalen Systems zielen. Werden solche Interventionen zum gängigen Verhaltensrepertoire der westlichen Staaten, dann weist dies zudem deutlich auf falsche übergeordnete (»globale«) Weichenstellungen hin.

Literatur:

Judith Goldstein/Robert O. Keohane (eds): Ideas and Foreign Policy. Ithaca/London 1993

Marcus Jachtenfuchs: Ideen und internationale Beziehungen; in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Heft 2, 1995, S. 417-442

Beate Jahn: Humanitäre Intervention und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Eine theoretische Diskussion und ihre historischen Hintergründe; in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 4, 1993, S. 567-587

Martin Kahl/Ulrich Teusch: Zur Bedeutung interner Verfasstheit für das auswärtige Verhalten von Staaten; in: Carlo Masala/Ralf Roloff (Hg): Herausforderungen der Realpolitik, Köln 1998, S. 227-268

Peter J. Katzenstein (ed.): The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics. New York 1996

Gregory A. Raymond: Problems and Prospects in the Study of International Norms; in: Mershon International Studies Review, 41, 1997, S. 205-245

Frank Schimmelfennig: Internationale Sozialisation neuer Staaten. Heuristische Überlegungen zu einem Forschungsdesiderat; in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Heft 2, 1994, S. 335-355.

Anmerkung:

Ich danke Dr. Ulrich Teusch, Universität Trier, für Anregungen und Kommentare

Dr. Martin Kahl ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität des Saarlandes.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/2 Wieder im Krieg, Seite