W&F 2016/1

Mainstreaming Decolonialism?

Zum Mehrwert einer dekolonialen FuK

von María Cárdenas

In der deutschen Friedens- und Konfliktforschung (FuK) wächst das Interesse an postkolonialem Arbeiten zögerlich und vor allem seitens der Studierenden (vgl. Engels 2014, S.131). Sie hinterfragen das So-Seiende und fordern auf, die eigene Eurozentrik in Wissenschaft und Praxis zu überprüfen – dies kann verunsichern, aber auch neue Wege offenbaren. Ein »Mainstreaming«, d.h. die Sichtbarmachung und Untersuchung von (post-) kolonialen Machtstrukturen sowohl in den für uns interessanten Themenfeldern als auch innerhalb unseres Arbeitens sowie die Integration post-/dekolonialer Perspektiven in diese Themenfelder, ist für die deutsche FuK unablässig, wenn sie selbst-, herrschafts- und wissenskritisch sein möchte. Vor diesem Hintergrund appelliert die Autorin an eine dekoloniale FuK, die sich als dezidiert wissenspolitisch versteht, und nennt einige Anforderungen an diese.

Postkoloniale Perspektiven gewannen in der internationalen Forschungslandschaft in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Auch in Deutschland existiert eine rege Debatte zu Subalternität,1 zu epistemischer Gewalt,2 zur Eurozentrik des Wissens und zu queer-feministischen Perspektiven auf Postcolonial Studies (u.a. Gutiérrez Rodríguez 2003; Burchardt/Tuider 2014). Die Verankerung post- und dekolonialer Perspektiven in der deutschen Forschung und Wissenschaft (insbesondere in der deutschen FuK) folgt allerdings widersprüchlichen Trends: Zwar wurde z.B. 2008 an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. ein neues Research Center for Postcolonial Studies (FRCPS) gegründet und eine neue Juniorprofessur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Gender/Postkoloniale Studien geschaffen; auch besteht reges Interesse seitens der FuK-Studierenden an postkolonialen Studien. Gleichzeitig gibt es jedoch in der Fläche nur ein geringes Lehrangebot und bis dato nur wenige Fachbeiträge aus der FuK, die postkoloniale Perspektiven dezidiert einbeziehen und integrieren (Engels 2014). Engels (2014, S.138-142) formuliert zudem die Sorge, durch ein Mainstreamen postkolonialer Perspektiven könnte – ähnlich wie bereits durch das Mainstreamen von »Gender« geschehen – die notwendige Macht- und Wissenschaftskritik aus den Augen verloren werden.

Dennoch ist nicht zu verkennen: Das Interesse für postkoloniale Perspektiven wächst auch in der deutschen FuK. Als Keynote-Speaker konnte Tarak Barkawi auf dem letztjährigen Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) auf die Implikationen von eurozentrisch strukturiertem Denken in der FuK und auf die damit einhergehende Universalisierung provinzieller europäischer Deutungsmuster hinweisen (wie z.B. die Idee des souveränen Staates) (siehe Tagungsbericht der AFK von Hawari und Schnellhammer 2015, S.4). Des weiteren ist ein ZeFKo-Sammelband mit Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen mit einer Bestandsaufnahme kritischer post-/dekolonialer Debatten in der deutschen FuK in der Entstehung, und im Marburger M.A. Friedens- und Konfliktforschung wurden in den letzten zwei Jahren sieben Seminare mit dem expliziten Nexus zu Postkolonialen Studien angeboten.3 Postkoloniale Perspektiven werden nicht zuletzt auch von Studierenden selbst in die Lehre und Wissenschaft getragen, indem sie Episteme in Frage stellen und etablierte Perspektiven und Paradigmen herausfordern.4 Zögerlich aber kontinuierlich kommen postkoloniale Perspektiven also in der deutschen FuK an.

Post- und dekoloniale Studien

Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses so genannter Postkolonialer Studien bzw. Theorien steht die „Wirkmächtigkeit des Kolonialismus bis in die Gegenwart […] in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft in den ehemaligen Kolonien ebenso wie in den ehemaligen Kolonialmächten“ (Engels 2014, S.132). Ausgehend von einer konstruktivistischen Perspektive zeigen sie auf, dass Geschichtsschreibung ebenso wie die Einteilung von Gesellschaften entlang regionaler, ethnischer bzw. rassistischer Kategorien als ein politisches Projekt der Beherrschung der (Post-) Kolonien (und ihrer Subjekte) verstanden werden muss.

Das postkoloniale Herrschaftssystem wird u.a. durch die Entwertung des kolonisierten Subjekts gefestigt und hält sich ungeachtet formaler Dekolonisierungsprozesse bis heute durch die epistemische Gewalt, den Zivilisationsmythos und das Entwicklungsparadigma (vgl. Castro-Gomez 2005; Coronil 2005; Kerner 2012). Vor diesem Hintergrund untersuchen Postkoloniale Studien die Effekte kolonialer Denkweisen, Diskurse und Imaginationen, die noch heute unsere Wahrnehmung, unsere Perspektive und unser Handeln prägen und sich in Politik und Gesellschaft, in Kunst, Kultur, Wissenschaft und den Medien niederschlagen (Kerner 2012, S.9). So liegt auch dem postkolonialen Herrschaftsgefüge die idealtypische Annahme einer dichotomen Beziehung zwischen Kolonisierenden vs. Kolonisierten zugrunde, die Formen militärischer, epistemischer, struktureller und diskursiver Gewalt gegenüber (ehemals) kolonisierten Gesellschaften rechtfertigt und hierdurch Machtasymmetrien aufrechterhält (Quijano 2000, Castro-Gómez 2005, Engels 2014).5

Durch Konzepte wie Positivismus, Universalismus und Linearität werden die eurozentrische Positioniertheit und Perspektive von Wissenschaft und Geschichte sowie die Privilegierung von weißen6/männlichen/westlichen Stimmen einerseits verleugnet, werden andererseits periphere/deviante Perspektiven folklorisiert (und damit diskreditiert). Dies bezeichnet Walter Mignolo als „Geopolitik des Wissens“, einer Dimension der Kolonialität7 (vgl. Mignolo 2000, Quintero/Garbe 2013). Als „kritische Intervention, die interdisziplinär denkt und eine immense Bandbreite an Themen bearbeitet“ (Castro Varela und Dhawan 2005, S.7f.) und eine selbstkritische Positionierung der am wissenschaftlichen Prozess Beteiligten fordert (vgl. Reuter und Karentzos 2012, Macleod und Bhatia 2008, u.a.), haben die Postkolonialen Studien zu einer Diversifizierung der Wissenschaftslandschaft beigetragen, indem sie Simplifizierungen und Generalisierungen entlarven und auf Probleme der Wissensgenerierung durch die Repräsentation und Darstellung von subalternen und devianten, also von der europäischen weißen Heteronorm abweichenden, Subjekten hinweisen.

Jedoch wurden inzwischen auch die Postkolonialen Studien dafür kritisiert, dass selbst sie – häufig aufgrund ihrer akademischen Verwurzelung im Westen – europäische Vordenker und deren »Brillen« gegenüber peripherem Wissen (sowohl aus den Postkolonien als auch innerhalb des Westens) privilegieren und somit häufig eine epistemische Kolonialität reproduzieren, statt sie zu dekonstruieren (vgl. Grosfoguel 2007). Eine dekoloniale Perspektive müsse daher vielmehr 1. über den westlichen Kanon hinausgehen, 2. einer universalen Weltvorstellung ein pluriversales Verständnis entgegensetzen sowie 3. anerkennen, dass Wissen nur dekolonisiert werden kann, wenn peripheres Wissen aus dem Globalen Süden (und Norden) kontinuierlich Einzug in wissenschaftliche Diskurse findet (ebd., S.212).

Dekoloniale Perspektiven als Grundlage für die FuK

Welchen Mehrwert hat eine post-/dekoloniale Perspektive für die FuK bzw. weshalb sollten dekoloniale Perspektiven eine Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens in der FuK sein?

Bislang werden aus dem Globalen Süden formulierte FuK-Themen in den (deutschen) Wissenschaften, in politischen Auseinandersetzungen sowie im Alltag häufig verkleinlicht und Deutungsmuster, Perspektiven und Interpretationen aus dem Globalen Süden seltener wahr- oder ernstgenommen. Vielleicht ist es für Personen wie mich (die im Globalen Norden und im Globalen Süden sozialisiert wurde) einfacher, Eurozentrismus zu erkennen und aufzudecken. Sind die Menschen jedoch selbst davon betroffen, ist es häufig kein einfaches, oft ein unangenehmes Unterfangen. Es sollte auch nicht allein in der Verantwortung von Menschen des Globalen Südens liegen, den Abbau von epistemischer Gewalt gegenüber Perspektiven des Globalen Südens in der Wissenschaft einzufordern. Möchten wir (post-) koloniale Wissenshierarchien in der FuK abbauen, ist ein Mainstreaming dekolonialer Perspektiven unbedingt notwendig.8

Welche Kriterien muss also ein Mainstreaming erfüllen, damit das herrschafts- und wissenskritische Fundament nicht verloren geht? Sollen postkoloniale Perspektiven wirklich Einfluss nehmen oder – vergleichbar dem Gender-Mainstreaming – lediglich der weiteren Legitimierung etablierter eurozentrischer Wissenschaft dienen? Wie kann eine deutsche FuK herrschafts- und wissenskritisch sein ohne, wie Grosfoguel (2007, S.211) an den postkolonialen und subalternen Studien bemängelte, in der patriarchalen, heteronormativen Eurozentrik verhaftet zu bleiben?

Für eine Dekolonisierung der deutschen Friedens- und Konfliktforschung (ebenso wie der deutschen Friedensbewegung!) und für einen Aufbau einer herrschafts- und wissenskritischen deutschen FuK sind u.a. die nachfolgend kurz erläuterten Punkte relevant.9

(Historische) Friedensforschung dekolonisieren

Die historische FuK in Deutschland beschäftigt sich vor allem mit der neueren internationalen Geschichte, insbesondere dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem so genannten Kalten Krieg. Sowohl die Kolonisierung als zentrale Epoche von massiver kriegerischer Gewalt, Kriegsverbrechen und dem Genozid ganzer Gesellschaften als auch Konflikte aus und im Globalen Süden vor dem Ende der formalen Kolonisierung hingegen finden kaum ihr Interesse.10 Selbst im Kontext der ausgiebig untersuchten »Weltkriege« bleibt die Welt jenseits Europas/USA in der deutschen FuK allzu häufig objektiviert; d.h. sie wird nur als Spielball/Werkzeug/Projektionsfläche der so genannten Weltmächte betrachtet und wird damit unsichtbar, handlungs- und stimmlos (Ausnahmen sind Japan und China).

Auch die sozialpsychologische Friedensforschung ist in der Auswahl ihrer Untersuchungsobjekte, -themen und -konzipierung weiterhin stark eurozentrisch geprägt (vgl. Vollhardt und Cohrs 2014), obwohl es zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine post-/dekoloniale Perspektive gibt, etwa in den Forschungsfeldern Rassismus und Diskriminierung. Die Auseinandersetzung z.B. mit der lateinamerikanischen Befreiungspsychologie kann helfen, diese Lücken zu füllen und periphere Perspektiven aus dem Globalen Süden zu integrieren (vgl. ebd.).

Internationale Beziehungen dekolonisieren und Simplifizierungen vermeiden

Chojnacki und Namberger (2014) leisteten jüngst aus postkolonialer Perspektive einen wichtigen Beitrag zur Demystifizierung der so genannten »neuen Kriege« und gegen einen Missbrauch von essentialisierten Subalternen zur Legitimierung von Krieg. Internationale Regelwerke als Instrumente westlicher Intervention rückten in den letzten Jahrzehnten in den Mittelpunkt post- und dekolonialer Kritik und sollten aus dieser Perspektive auch von der deutschen FuK untersucht werden (vgl. u.a. Escobar 2007; Quijano 2000). Hier bietet es sich an, Entwicklungs- und Wirtschaftskooperation, Rüstungsexporte und militärische Unterstützung gedanklich und in der Analyse stärker miteinander zu verknüpfen. Ebenso sollten künstlich geschaffene nationalstaatliche Grenzen in ihrer Relevanz für die Analyse gesellschaftlicher Konflikte kontextualisiert und im Zweifelsfall relativiert werden. Hierzu gehört auch, Begriffe wie »Krieg« zu dekolonisieren und die Hierarchisierung von staatlich-militärischer Gewalt gegenüber formal anders organisierter Gewalt mit ähnlichen oder schlimmeren Folgen für die Gesellschaften in Frage zu stellen. Die Verlagerung der Gewaltausübung zur Absicherung politischer und wirtschaftlicher Interessen (z.B. Europas) von formellen (d.h. militärischen) hin zu anders-formalen Akteuren (z.B. Banden, privaten Sicherheitskräften etc.) und in die Peripherie wird durch diese Hierarchisierung unsichtbar. Folgen wir also der eurozentrischen Logik, so erleichtern wir diese Gewalt und stabilisieren das postkoloniale Herrschaftssystem.

Methoden/empirische Forschung reflektieren

Wenngleich die sozialwissenschaftliche FuK bereits (selbst-) kritisch mit empirischen Forschungsmethoden, insbesondere mit den ihnen inneliegenden Machtasymmetrien, umgeht (vgl. Engels 2014), so sind diese Reflexionen in anderen Bereichen der FuK, etwa der Friedenspsychologie, weniger vertreten.11 Neben der Forschungsreflexivität spielen aus postkolonialer Perspektive auch die »politics of location« eine zentrale Rolle, also die (privilegierte) Positioniertheit der Forschenden und ihre Beziehung zu den zu Erforschenden (Macleod und Bhatia 2008, S.578). Postkoloniale Studien verweigern sich oft experimenteller und quantitativer Forschung, fordern jedoch gleichzeitig, ihren Schlussfolgerungen im globalen und postkolonialen Gefüge Konsequenzen folgen zu lassen (ebd., S.586). Ein kritischer Austausch bzw. eine Debatte hierzu innerhalb der inter- und transdisziplinären FuK wäre sicher auch für post- und dekolonial Arbeitende anderer Schwerpunkte von Interesse.

Abbau von Hierarchien des Wissens

Vermeintliches Alltagswissen und Annahmen über die Welt sind in Deutschland deutsch/eurozentrisch und nicht universell. Dies spiegelt sich auch in den Methoden und Theorien der FuK wider und erschwert den Dialog mit nicht-akademisch und/oder nicht-eurozentrisch Denkenden bzw. schließt sie aus. Dekolonisieren des Denkens bedeutet in diesem Kontext auch, Wissen als Plural zu begreifen, welches erst durch die Integration von unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Formen von Wissen (pl.) seine Textur entfaltet. Dies zu tun und auch sprachlich widerzuspiegeln ist eine Herausforderung, die nur durch den kontinuierlichen Dialog mit bzw. die Integration von Akteur_innen geschafft werden kann, die nicht dem klassischen westlich-weiß-akademischen Kanon entsprechen. Dies würde auch zu einer stärkeren Transdisziplinarität der FuK führen. Erfahrungen des gegenseitigen Ausschlusses und des Nebeneinanderherlebens gibt es allerdings auch innerhalb deutsch-weißer Perspektiven: Friedensforschung und Friedensbewegung sind hierfür ein Beispiel – in diesem Spannungsfeld bewegt sich W&F seit über 30 Jahren.

Abbau von dichotomen und folklorisierenden/romantisierenden Bildern über den/die andere(n)

Mit dem vorherigen Punkt eng verknüpft sind verstetigte Stereotype über den/die andere(n) sowie mitunter ein Positionierungszwang und eine Fremdinterpretation von Nicht-Weißen. Auch die Friedensbewegung (wie auch die deutsche Linke im Allgemeinen) schließt häufig Menschen unreflektiert aus, wenn diese den »Fantasien« der Bewegung über die/den andere(n) (dem/der es zu »helfen« gilt) und über das, was er/sie sagen/denken sollte, nicht entsprechen. Ungeachtet unseres Anspruchs innerhalb der FuK und der Friedensbewegung sind auch wir nicht frei von der (unwillentlichen) Anwendung und Reproduktion von z.B. diskursiver Gewalt, die auf kolonialen Denkmustern beruhen. Auch wohlwollende paternalistische und stereotypisierende Äußerungen und Denkweisen stellen eine Form psychologischer und epistemischer Gewalt dar, die eine Hierarchisierung von Subjekten entlang kolonialer Stereotype reproduziert und die so Etikettierten diskreditiert. Dies steht der Befreiung der deutschen Friedensbewegung und -forschung von kolonialer Gewalt(anwendung) im Wege. Hilfe im Sinne von gut gemeintem Paternalismus (der Linken) einerseits und militärische Disziplinierung (der Rechten) andererseits gehen beide auf die unterstellte Unfähigkeit der anderen zurück, ihre Probleme selbst zu lösen, infantilisieren sie und sind somit zwei Seiten ein- und derselben Medaille.

Europa in der FuK provinzialisieren

Wie soll es von hier nun also weiter gehen? Zwei Vorschläge sollen die diesbezügliche Debatte beleben:

  • Periphere Stimmen integrieren kann auch heißen, mit Bündnissen, Bewegungen etc. aus den Postkolonien und aus der Peripherie des Nordens (Subalterne, Nichtakademiker_innen, Migrant_innen, Sans-papiers etc.) stärker zusammenzuarbeiten, von ihnen zu lernen und ihnen Plattformen zur Äußerung zu bieten.
  • Positionierung sollten nicht gescheut werden. Zunächst können durch Absehen von einer vermeintlichen Neutralität/Objektivität der Wissenschaft (und damit einhergehend eine Positionierung/Sichtbarmachung der Autor_innenschaft) Ungleichverhältnisse und Unsichtbarkeiten sichtbar gemacht werden. Hierbei geht es nicht um eine Verurteilung Privilegierter, sondern darum, Privilegien (ebenso wie Unterdrückung) als mögliche Einflusskategorie auf wissenschaftliche Positionen und Perspektiven offenzulegen. Eine dekoloniale FuK sollte sich nicht scheuen, sich wissenspolitisch zu positionieren. Dazu gehört zum Beispiel auch, aktuelle Diskurse um gute und schlechte Geflüchtete und Obergrenzen aus wissenschaftlicher Perspektive als das zu entlarven, was sie sind: ein Beweis, dass die so genannte Universalität von Menschenrechten auch heute noch im Sinne kolonialer Denkstrukturen nach eurozentrischen Maßstäben verteilt wird und eben nicht für alle gilt.

Anmerkungen

1) Als subaltern werden nach Antonio Gramsci Mitglieder von beherrschten Gesellschaftsgruppen niederen Rangs bezeichnet. (Ashcroft et al. 2007, S.198) Gayatri Chakravorty Spivak macht im Kontext postkolonialer Studien auf die Problematik der Zweckinterpretation und damit die Objektivierung der Subalternen durch die herrschende(n) Klasse(n) aufmerksam (ebd.).

2) Epistemische Gewalt entsteht, wenn durch die Vorherrschaft einzelner Stimmen und die gleichzeitige Unsichtbarmachung alternativer Deutungen (von Geschichte, von Wissenschaft, von einem Sachverhalt) die Idee entsteht/gefestigt wird, es gebe nur eine (bestimmte) Wahrheit (die des/der Privilegierten). Epistemische Gewalt findet statt, wenn durch den Verweis auf das (vermeintlich) So-Seiende Machtansprüche legitimiert werden.

3) Angabe gemäß den Seminarvorstellungen im Vorlesungsverzeichnis.

4) Siehe dazu in diesem Heft: »konferenz von unten« – Ein Streitgespräch.

5) Für eine Analyse der aktuellen Reproduktion kolonialer Denkmuster als Legitimationsfigur für militärische Gewalt in der deutschen Berichterstattung siehe beispielsweise Andrea Nachtigall und Torsten Bewernitz (2011): Von »FrauenundKindern« zu »Embedded Feminism«. Frauen(rechte) als Legitimation für militärische Interventionen in den Medien – Variationen einer Legitimationsfigur zwischen Kosovo-, Afghanistan- und Irakkrieg. In: Bettina Engels und Corinna Gayer (Hrsg.) (2011): Geschlechterverhältnisse, Frieden und Konflikt – Feministische Denkanstöße für die Friedens- und Konfliktforschung. Baden-Baden: Nomos, S.27-46.

6) Unter »weiß« wird hier nicht (allein) die Hautfarbe verstanden, sondern damit sind Zuschreibungen von soziokulturellen und intellektuellen Kompetenzen/Attributen gemeint, die häufig an phänotypische Merkmale/Hautfarbe geknüpft sind bzw. mit Vorstellungen von einem europäischen Erbe im Sinne von Abstammung einhergehen. Hierdurch werden bestimmte Privilegien freigesetzt. Vgl. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (2009): Mythen, Masken und Subjekte – Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast.

7) Für eine deutschsprachige Einführung in das Konzept der Kolonialität siehe Quintero und Garbe (2013).

8) Ich habe diesen Absatz als Reaktion auf die Bitten meiner Redakteurinnen abgewandelt. Mir war zweifach nahe gelegt worden, den Absatz, wie er in seiner Ursprungsform war, zu streichen oder „deutlich [zu] entpersonalisieren“, weil er nicht zu dem sonst wissenschaftlich/akademischen Text passe und/oder sein Mehrwert nicht erkenntlich sei. Ich stimme damit nicht überein, habe jedoch nun versucht, einen Mittelweg zu formulieren, der weniger persönlich ist, aber doch meine Positioniertheit nicht verdeckt. Wissenschaft ist immer auch persönlich und hängt von unserer sozialen Herkunft, unseren Erfahrungen und unseren Perspektiven ab. Dekoloniale Forderungen kritisieren ja gerade, dass das Verschleiern unserer Positioniertheit eine vermeintliche, aber nichtexistente wissenschaftliche Objektivität vorgaukelt, die bislang die Fortschreibung von Euro-/Ethnozentrismus gefördert hat. Wissenschaft ist politisch und Politisches ist emotional.

9) Siehe dazu auch: Decoloniality Europe (2013): Charter of Decolonial Research Ethics. decolonialityeurope.wix.com.

10) Eine Ausnahme ist Sandra Mass (2006): Weiße Helden, schwarze Krieger – Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918-1924. Köln: Böhlau.

11) Für einen Überblick über Forschungsimplikationen für eine postkoloniale Psychologie siehe Macleod und Bhatia (2008).

Literatur

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Catherine Walsh (2007): Shifting the Geopolitics of Critical Knowledge. Cultural Studies 21, Nr. 2-3, S.224-39.

María Cárdenas hat in Marburg FuK studiert und ist für das Zentrum für Konfliktforschung seit 2012 Redaktionsmitglied bei W&F. Im WS 2015/16 bietet sie am ZfK ein Seminar für Masterstudierende zur Verknüpfung von post-/dekolonialen Studien und Sozialpsychologie/Psychoanalyse an (Titel: »Kultur der Gewalt« in Lateinamerika? Dekolonial-sozialpsychologischer Think Tank).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 20–23