W&F 2000/1

Marie Curie – Die Verantwortung der Wissenschaft

von Ulrike Kronfeld-Goharani

Die Geschichte von Marie Curie ist nicht nur die Geschichte einer der herausragenden Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts, es ist auch die Geschichte einer Frau die sich ein Leben lang für die Verantwortung der Wissenschaft, unabhängig von ökonomischen Verwertungsinteressen, eingesetzt hat. Mit ihrem unermüdlichen Forschungsdrang, der ein Leben lang andauerte, leistete sie durch ihre Entdeckungen nicht nur Bedeutendes für die Wissenschaft, sondern legte aus einem humanen Verantwortungsgefühl heraus auch den Grundstein für die Entwicklung der modernen Radiotherapie in der Medizin.

Jeder Physikerin und jedem Physiker ist der Name Curie ein Begriff: das Curie (Ci) als Einheit für die Aktivität einer radioaktiven Substanz, das Curiesche Gesetz, die Curie-Temperatur oder die Curie-Konstante. Andere mögen sich an den Namen Curie in Zusammenhang mit NobelpreisträgerInnen erinnern. Weniger bekannt dagegen ist die Geschichte des Ehepaares Curie, einer Verbindung von zwei IdealistInnen, die ihr Leben der wissenschaftlichen Arbeit widmen und größte Erfolge erzielen. Marie Curie ist eine der bedeutendsten Wissenschaftlerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie ist die erste Frau, die den Nobelpreis für Physik (1903) und den für Chemie (1911) erhält und deren Tochter ebenfalls Nobelpreisträgerin wird. Ihre Geschichte ist die einer Frau, die trotz schwieriger Lebensumstände und schwerer Schicksalsschläge als Alleinerziehende mit zwei kleinen Töchtern ihre wissenschaftliche Forschung unbeirrt weiterführt. Und es ist die Geschichte einer Wissenschaftlerin, die durch ihre mühevolle und aufopfernde Arbeit – die ihre Gesundheit nachhaltig schädigt und sie schließlich das Leben kostet – nicht nur die Grundlage für die Entwicklung der modernen Physik schafft, sondern sich auch um den Nutzen ihrer Entdeckungen für gesellschaftlich-humane Ziele bemüht.

Maries Jugend:
Ein Traum wird wahr

Marya Sklodowska,1 wie Marie Curie vor ihrer Heirat heißt, wird am 7. November 1867 als fünftes und jüngstes Kind einer Lehrerfamilie in Warschau geboren. Schon früh fällt Marie durch ihr außergewöhnlich gutes Gedächtnis auf. Mit 16 gewinnt sie eine Medaille wegen ihres hervorragenden Abschlusses an der Mittelschule. Ihr sehnlichster Wunsch, ein naturwissenschaftliches Studium zu beginnen, scheitert zunächst. Zu dieser Zeit ist der Zugang zu einem weiterführenden Studium Frauen in Polen verwehrt.2 Hinzu kommt, dass ihr Vater, ein Physik- und Mathematiklehrer, durch Fehlinvestitionen sein Geld verloren hat und Marie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen muss. Im Alter von 18 Jahren nimmt sie eine Stelle als Erzieherin an. Um ihren Traum nicht ganz aufgeben zu müssen, trifft sie mit ihrer Schwester Bronya ein für heutige Verhältnisse eher ungewöhnliches Abkommen: Sie will zunächst Bronyas Medizinstudium an der Sorbonne in Paris mitfinanzieren, dafür soll Bronya später ihr beim Studium helfen. Hier zeigt sich Maries tiefes Vertrauen in die Ehrlichkeit ihrer Schwester, dass diese sie trotz ungewissen Ausgangs irgendwann unterstützen wird. Sechs Jahre später löst Bronya ihr Versprechen tatsächlich ein und Marie kann 1891 nach Paris folgen. Obwohl sie ihre naturwissenschaftlichen Studien 6 Jahre unterbrechen musste und kaum französisch spricht, nimmt sie voller Elan und Mut ihre Studien an der Sorbonne auf, glücklich, ihren großen Wunsch realisiert zu haben. Trotz der Entbehrungen, die sie wegen ihres schmalen Budgets hinnehmen muss, macht sie 1893 als Klassenbeste ihren Physik- und ein Jahr später als Zweitbeste ihres Kurses ihren Mathematikabschluss. Ihr Ziel ist das Lehrerinnenexamen und dann die Rückkehr nach Polen, als sie dem Physiker Pierre Curie3 begegnet. Beide verbindet eine intellektuelle Wesensverwandschaft, die sich schnell zu einer tieferen Beziehung entwickelt. 1895 heiraten sie.

Die Curies: ein Beispiel für eine erfolgreiche eheliche Zusammenarbeit

Marie beendet 1896 ihre Lehrerinnenausbildung als Beste unter den ExamenskandidatInnen. Ein Jahr später wird ihre erste Tochter Irène geboren. Das hindert Marie nicht daran, nach einem geeigneten Thema für eine Doktorarbeit zu suchen. Sie entschließt sich, die mysteriöse »Uranstrahlung« genauer zu untersuchen, die Henri Becquerel4 1896 entdeckt und erstmals als radioaktive Strahlung bezeichnet hatte. Schon kurze Zeit später macht Marie die Entdeckung, dass Thorium die gleiche Strahlung wie Uran aussendet. Nach systematischer Untersuchung verschiedener chemischer Verbindungen kommt sie zu dem Schluss, dass die Fähigkeit Strahlung auszusenden nicht von der Anordnung der Atome in einem Molekül, sondern von der inneren Struktur des Atoms selbst abhängen muss. Sie untersucht das gesamte Periodensystem der Elemente und stellt fest, dass diese neue Art von Strahlung nur von den Elementen Uran und Thorium abgegeben wird. Daraufhin nimmt sie sich vor, natürlich vorkommende Erze, die Thorium und Uran enthalten, zu erforschen. Sie fordert Proben aus Museen und geologischen Instituten an und findet heraus, dass Pechblende (ein Uranhaltiges Mineral) vier- bis fünfmal stärker strahlt als die gleiche Menge Uran. Daraus folgert sie, dass in der Pechblende ein anderes Element als Uran vorhanden sein muss.

Pierre ist von Maries Entdeckungen fasziniert und beschließt, seine eigenen Forschungen aufzugeben um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Ende Juni 1898 isolieren sie aus der Pechblende eine Substanz, die 300-mal stärker aktiv ist als Uran. In der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse schreiben sie, dass sie aus der Pechblende ein bisher unbekanntes Metall extrahiert haben, das in Bezug auf seine analytischen Eigenschaften mit Wismut verwandt sei. Sie schlagen vor, das neue Metall nach Maries Heimatland Polonium zu nennen wenn dessen Existenz wissenschaftlich bestätigt sei. Wenige Monate später informiert das Paar die französische Akademie der Wissenschaften, dass sie eine weitere hoch aktive Substanz gefunden haben, die in ihren chemischen Eigenschaften Barium ähnlich sei und schlagen als neuen Namen für diese Substanz Radium vor.

Um die Existenz dieser neuen Elemente zu beweisen, müssen die Curies sie in demonstrierbaren Mengen herstellen, ihre Atomgewichte bestimmen und vor allem die Substanzen isolieren. Dazu müssen mehrere Tonnen der teuren Pechblende beschafft werden. Dank guter Verbindungen zur österreichischen Akademie der Wissenschaften gelingt es ihnen, große Mengen erzhaltiger Schlackehaufen aus einer Uranmine im böhmischem Joachimsthal nach Paris zu schaffen.

Nun fängt eine der härtesten Arbeitsphasen für die Curies an. Unter äußerst primitiven Laborbedingungen in einem alten, zugigen und Regenwasser durchlässigen Schuppen beginnen sie, große Mengen des Rohstoffes zu verarbeiten. Marie rührt wochenlang von morgens bis abends täglich bis zu 20 Kilogramm einer kochenden Masse. Endlich gelingt es ihr nach Prozessierung mehrerer Tonnen Rohstoff, ein Dezigramm reines Radiumchlorid zu isolieren und das Atomgewicht des Radiums zu bestimmen. Ihre Ergebnisse präsentiert sie in ihrer Doktorarbeit am 25. Juni 1903.

Die harte Arbeit hat ihre Spuren hinterlassen. Sowohl Pierre als auch Marie haben mit ernsthaften Gesundheitsstörungen zu kämpfen. Sie vermuten, dass die Ursache Übermüdung und die schlechten Bedingungen in dem zugigen und feuchten Labor sind. Zu dieser Zeit hegen sie noch keinen Verdacht, dass die radioaktive Strahlung insgesamt eine schädigende Wirkung auf ihre Gesundheit hat.

Während Marie die Substanzen isoliert, untersucht Pierre die Strahlungseigenschaften. Er unternimmt Selbstversuche, indem er eine Probe Radiumsalz zehn Stunden lang um seinen Arm bindet. Er beobachtet eine einer Verbrennung ähnlich sehende Wunde, von der nach 52 Tagen eine graue Narbe zurückbleibt. Damit steht für Pierre fest, dass Radium eine biologische Wirkung hat. Er äußert die Vermutung, dass die neue Substanz möglicherweise in der Behandlung von Hautkrankheiten und Krebs eingesetzt werden könne. Auch die Hände von Marie weisen inzwischen viele Wunden und Narben als Folge ihres ungeschützten Umgangs mit den radioaktiven Substanzen auf.

Als klar wird, dass Radium möglicherweise in der Medizin eingesetzt werden kann, werden in den USA Fabriken errichtet, um das Element in großen Mengen industriell herzustellen. Zu dieser Zeit bestehen freundschaftliche Beziehungen zwischen den Curies und Ernest Rutherford,5 der in Canada arbeitet und gelegentlich Paris besucht. Ihm haben die Curies großzügig ein stark radioaktives Präparat für seine Untersuchung der Ablenkung von Strahlung im Magnetfeld zur Verfügung gestellt, ungeachtet der Mühe die sie aufwenden mussten um kleinste Mengen der Substanzen zu isolieren. Die Curies gelten unter ihren KollegInnen als hilfsbereit. Sie scheuen keine Mühe oder Anstrengung wenn diese der Wissenschaft förderlich ist. Als die Frage aufkommt, ob Marie und Pierre für den Produktionsprozess von Radium ein Patent anmelden wollen, lehnen beide ab. Sie vertreten die Auffassung, dass reine Wissenschaft um ihrer selbst willen zu betreiben sei und nicht von industriellem Profitdenken geprägt sein sollte. WissenschaftlerInnen sollten sich davon freihalten und ihre Entdeckungen allen Menschen verfügbar machen und verfügbar halten. Die Curies versorgen die Industrie daher mit Informationen zum Produktionsprozess von Radium. Der Gedanke, ihre Entdeckungen ökonomisch zu verwerten, liegt ihnen trotz der Schwierigkeiten, finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit einzuwerben, völlig fern.

1903 wird ihnen zusammen mit Henri Becquerel der Nobelpreis für Physik verliehen – in Anerkennung der hervorragenden Leistungen bei ihren gemeinsamen Untersuchungen der Strahlungsphänomene, die von Henri Becquerel entdeckt wurden. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes können sie erst im Juni 1905 nach Stockholm zur Preisentgegennahme reisen. Durch die Verleihung des Nobelpreises rückt das Paar zum ersten Mal ins Interesse von Öffentlichkeit und Presse. Die Zeitungen berichten in abenteuerlich und romantisch anmutenden Berichten über dieses bisher kaum bekannte Forscherehepaar, das in einem feuchten Schuppen irgendwo in Paris durch nächtelange Arbeit eine der bedeutendsten Entdeckungen der Physik gemacht hat. Fast über Nacht werden Marie und Pierre berühmt. Dem Andrang der MedienvertreterInnen in den folgenden Wochen fühlen sich diese beiden eher zurückhaltenden Menschen nicht gewachsen. Pierre gilt in der französischen »scientific community« bis dahin als Außenseiter. Es ist kein Zufall, dass die Curies sich gerade dem Thema Radioaktivität zugewendet haben. Denn die von Becquerel 1896 vorgetragene Entdeckung der Radioaktivität findet unter seinen KollegInnen nur wenig Beachtung. Das Interesse gilt der von Wilhelm Röntgen6 1895 in Würzburg entdeckten Röntgenstrahlung und ihrer möglichen ökonomischen Verwertbarkeit, etwa für Anwendungen in der Medizin.7

Schicksalsschläge

Am 19. April 1906 wird Pierre, gesundheitlich stark angeschlagen, von einer Pferdedroschke in der Nähe des Pont Neuf in Paris überfahren und getötet. Marie, 38 Jahre alt, wird zur Witwe und ist jetzt allein verantwortlich für ihre neun (Irène) und zwei (Ève) Jahre alten Töchter. Obwohl der Schicksalsschlag sie sehr hart trifft, weist sie eine ihr angebotene Pension mit der Begründung zurück, sie sei 38 Jahre alt und in der Lage, sich selbst zu versorgen. Hier machen sich die ihr eigene Zähigkeit und ihr Mut wieder bemerkbar. Trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse und verantwortlich für zwei Kinder gibt sie ihre Forschungen nicht auf. Als ihr angeboten wird, die Nachfolge Pierres als Laborleiterin anzutreten und seine Lehrverpflichtungen zu übernehmen, willigt sie ein und wird damit die erste Frau, der an der Sorbonne die Lehrerlaubnis erteilt wird. Privat steht sie vor der Aufgabe, als vollbeschäftigte Alleinerziehende die Betreuung und Erziehung ihrer Töchter zu organisieren. Sie gründet in ihrem Freundeskreis, der aus einer Reihe von Professorenfamilien mit Kindern im schulfähigen Alter besteht, eine kleine Privatschule. Eine Gruppe von zehn Kindern wird zwei Jahre lang von vorwiegend berühmten Professorenvätern unterrichtet.

1908 wird Marie als erste Frau zur Professorin an der Sorbonne ernannt. In ihrem Labor produziert sie weiterhin geringe Mengen reines Radiumchlorid, bis es ihr gelingt, Radium in metallischer Form zu isolieren. Diese Leistung wird 1911 zum zweiten Mal mit einem Nobelpreis geehrt. Als erste Frau erhält Marie den Nobelpreis für Chemie.

Das Jahr 1911 ist dennoch kein glückliches für sie: Als 1910 bekannt wird, dass sie als Kandidatin für die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen ist, starten einige Zeitungen eine Schmutzkampagne gegen sie. Plötzlich schwappt ihr, der nur wenige Jahre zuvor von der selben Presse so gefeierten Nobelpreisträgerin, eine Welle von Ablehnung entgegen, geprägt von Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sexismus und einer allgemein anti-wissenschaftlichen Haltung, die in Teilen der französischen Gesellschaft dieser Zeit verbreitet ist. Die Kampagne verhindert Maries Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften. Doch damit nicht genug: Marie, der Witwe und allein lebenden Frau, wird eine Affäre mit ihrem Kollegen Paul Langevin nachgesagt. Langevin soll seit Jahren Eheprobleme und sich von seiner Frau getrennt haben. Als Grund wird Marie vermutet. Der Langevin-Skandal weitet sich aus und erschüttert die gesamte universitäre Welt. Für Marie beginnt ein Spießrutenlaufen: Sie, die Fremde aus Polen, unterstützt von französischen Wissenschaftlern, ist gekommen, um einer angesehenen französischen Ehefrau den Mann zu stehlen. Der Skandal erreicht seinen Höhepunkt als die Frage gestellt wird, ob Marie Curie noch länger Professorin an der Sorbonne bleiben könne.

Als die Nachricht von dem Skandal bis nach Stockholm dringt, erhält Marie von Svante Arrhenius8, einem Mitglied der schwedischen Akademie der Wissenschaften, einen Brief in dem ihr nahegelegt wird, den Preis nicht entgegenzunehmen, bis die Anschuldigungen gegen sie in der Langevin-Affäre restlos geklärt sind. Doch da zeigt sich erneut die Marie Curie eigene Stärke. Sie schreibt Arrhenius einen höflich formulierten Brief in dem sie hervor hebt, dass ihr der Preis für ihre Entdeckungen von Radium und Polonium verliehen werden solle und sie nicht akzeptieren könne, dass die Anerkennung für den Wert einer wissenschaftlichen Arbeit von der üblen Nachrede über das Privatleben einer Wissenschaftlerin abhängig gemacht werde. Daraufhin und nachdem Paul Langevin dem ihm persönlich bekannten Arrhenius einen Brief geschrieben und erläutert hat, welche Kreise innerhalb der französischen Gesellschaft für die Schmutzkampagne gegen Marie verantwortlich sind, darf Marie nach Stockholm reisen. Am 11. Dezember 1911 hält sie vor dem Nobelpreiskomitee ihren Vortrag.

Trotz des nachträglich erlangten Ruhmes ist Marie, diese bis dahin so starke und mutige Frau, am Ende ihrer Kräfte. Mit ihren beiden Töchtern zieht sie sich nach Sceaux, Pierres Heimatort, zurück. Als FreundInnen von ihr, Margerite und André Debierne, nach Sceaux kommen um Marie nach Paris zurückzuholen und sie und ihre Kinder in ihrer Pariser Wohnung aufzunehmen, treffen sie eine aufgebrachte Menge an, die begleitet von den Rufen »Geh heim nach Polen!« Steine auf Maries Heim werfen.

Maries Gesundheit ist nicht zuletzt auch durch diese Affäre schwer angeschlagen. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt reist sie zu Freunden nach England. Es dauert ein Jahr, bis sie mit gewohnter Kraft und Energie weiter arbeiten kann.

Humanitäres Engagement

Als 1914 der I. Weltkrieg ausbricht, bringt Marie ihre Töchter Irène und Ève zu Freunden nach England in Sicherheit. Sie selbst, zu dieser Zeit gerade Leiterin des neuen Radiuminstitutes9, reist in den Wirren des Kriegsbeginns allein mit einem 20 Kilogramm schweren Bleicontainer, der ihr kostbares Radium enthält, nach Bordeaux und deponiert ihren »Schatz« in einem Banktresor. Danach kehrt sie nach Paris zurück. Sie unterbricht ihre Forschungsarbeitum den Kriegsverwundeten zu helfen und beginnt, achtzehn mobile Feldlazarette, »Petites Curies« genannt, mit Röntgenapparaturen auszurüsten und junge Frauen in deren Bedienung zu unterweisen.10 Sie selbst fährt einen Lazarettwagen und wird mit Hilfe der neuen Röntgenmethode Spezialistin in der Detektion von Gewehrkugeln und Metallsplittern in den Körpern Kriegsverletzter. Später wird sie von ihrer Tochter Irène begleitet, die inzwischen 18 und nach Paris zurückgekehrt ist. Beide Frauen sind während ihrer Arbeit fortwährend hohen Strahlungsbelastungen ausgesetzt.

Nach dem Krieg kann sich Marie endlich wieder ihren Forschungsarbeiten in ihrem Radiuminstitut zuwenden, das sich in den Nachkriegszeiten zu Frankreichs international berühmtesten Institut entwickelt, obwohl Marie vom französischen Staat nur wenig Unterstützung erfährt. Anders als in Frankreich wird Radium in den USA zu dieser Zeit bereits industriell erzeugt – allerdings zu einem Preis den Marie nicht aufbringen kann. Einen Großteil ihrer Zeit muss sie sich um Geldmittel bemühen.

Hilfe durch die
»Frauen von Amerika«

Eine Wendung tritt ein, als Marie der US-amerikanischen Journalistin W.B. Maloney ein Interview gibt und erfährt, dass den WissenschaftlerInnen in den USA bereits einige 50 Gramm Radium zur Verfügung stehen. Marie erklärt, ihr Institut schaffe wegen der begrenzten Mittel nur ein Gramm. Die Journalistin beschließt Marie zu helfen. Sie will die »Frauen von Amerika« mobilisieren. Dennoch gelingt es ihr nur mit großer Überredungskunst, Marie zu einer Reise in die Staaten zu bewegen, die sie im Mai 1921 in Begleitung ihrer beiden Töchter antritt. In den USA wird sie als berühmte Physikerin gefeiert. Sie startet eine Rundreise durch das Land, hält Vorträge an zahlreichen Universitäten und wird mit einer Reihe von Ehrendoktortiteln, Medaillen und Mitgliedschaften in Akademien geehrt. Auf öffentlichen Veranstaltungen wirkt sie nach wie vor eher schüchtern und zurückhaltend, ist in ihren wissenschaftlichen Ausführungen aber äußerst präzise. Der Höhepunkt ihrer Reise ist die Überreichung eines Gramms reinen Radiums als Geschenk des damaligen US Präsidenten Warren Harding11.

Endlich reagiert man auch in Frankreich: Curie zu Ehren wird ein Galaempfang in der Pariser Oper gegeben, auf der der französische Außenminister Aristide Briand12 eine Rede über ihre Entdeckungen und deren Bedeutung für die Zukunft der Physik und der Medizin hält. Zehn Jahre nach dem Langevin-Skandal, den Marie nie ganz verwunden hat, wird sie in Frankreich plötzlich zu einer modernen Jeanne d'Arc.

Zwischen Marie und W.B. Maloney entwickelt sich eine enge Freundschaft. 1929 reist Marie ein zweites Mal nach Amerika und erhält ein weiteres Gramm Radium, das sie der Universität von Warschau zur Verfügung stellt um die Wissenschaft in ihrem Heimatland Polen zu fördern.

In den folgenden Jahren wird Marie Zeugin der erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit ihrer Tochter Irène und ihres Schwiegersohnes Frédéric Joliot.13 Sie erlebt noch wie die beiden künstliche Radioaktivität entdecken, aber nicht mehr, dass sie 1935 dafür mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt werden. Marie stirbt am 4. Juli 1934 an Leukämie infolge ihrer jahrelangen weitgehend ungeschützten Arbeit mit radioaktiven Materialien.

Schlussbemerkung

Seit Marie und Pierre Curie durch ihre Entdeckungen den Grundstein für die moderne Physik gelegt haben, hat sich vieles in der Wissenschaft verändert. Besonders die Naturwissenschaften stehen heute unter dem Druck, möglichst ökonomisch verwertbare Ergebnisse schaffen zu müssen: Wissen wird nicht mehr nur als Macht- sondern auch als Marktfaktor eingesetzt. Auch die Rolle de WissenschaftlerInnen hat sich verändert. Mag die eine oder der andere noch stolz darauf sein, der Zunft der WissenschaftlerInnen anzugehören, so klingt es eher verschroben wenn eine/r behauptet, ihr/sein Leben der Wissenschaft widmen zu wollen. Wissenschaft scheint eher ein Beruf wie jeder andere zu sein. Heute ist es kaum vorstellbar, dass ein/e Wissenschaftler/in trotz schwieriger materieller Lebensumstände auf ein Patentangebot verzichtet, um allen den freien Zugang zu Entdeckungen zu ermöglichen.

Trotz dieser Entwicklung werden heute zunehmend Stimmen laut die fordern, WissenschaftlerInnen mit ihrem höheren Bildungsstand müssten wieder stärker bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und Problembewusstsein dafür zu entwickeln, welche Bedeutung ihrer Position und ihrer Arbeit im gesellschaftlichen und globalen Kontext zukommt. Das ist eine Entwicklung, die sicherlich Marie Curies Unterstützung fände.

Anmerkungen

1)  Die biographischen Angaben stützen sich im wesentlichen auf Informationen des Musée Curie (http://musee.curie.fr/), sowie auf einen Text von Nanny Fröman: »Marie and Pierre Curie and the Discovery of Polonium and Radium«, Lecture at the Royal Academy of Sciences in Stockholm, Schweden, 28. 02.1996, zu finden unter http://www.nobel.se/essays/curie/index.html.

2) Zum Vergleich: Frauen wurden zum Universitätsstudium in Russland und den Vereinigten Staaten ab 1860, in Frankreich ab 1863, in der Schweiz ab 1864, in Spanien ab 1868 und in England und Schweden ab 1870 zugelassen.

3) Curie, Pierre (1859-1905).

4) Becquerel, Antoine-Henri (1852-1908).

5) Rutherford, Ernest (1871-1956), Nobelpreis in Chemie 1908.

6) Röntgen, Wilhelm Conrad (1845-1923), Nobelpreis in Physik 1901.

7) The Curies: The Very Model of Modern Spousal Collaboration, http://nobelprizes.com/nobel/physics/The_Curies.html.

8) Arrhenius, Svante (1859-1927), Nobelpreis in Chemie 1903.

9) 1909 beschlossen die Pariser Universität und das Pasteur-Institut ein gemeinsames Institut mit zwei Abteilungen zu gründen: das Curie-Institut unter Leitung von Marie Curie und das Pasteur-Institut unter Leitung von Claudius Regaud (1870-1940). Regaud war Mediziner und untersuchte die biologische Wirkung von Röntgenstrahlung.

10) Les rayons de la vie: Les grandes etappes. Beschreibung der Entwicklung der Radiotherapie. Zu finden unter: http://musee.curie.fr/rayons/etapes.

11) Harding, Warren Gamaliel (1865-1923), 29. Präsident der USA.

12) Briand, Aristide (1862-1932), Friedensnobelpreisträger von 1926.

13) Frédéric Joliot (1909-1958), Nobelpreis für Physik 1935.

Dr. Ulrike Kronfeld-Goharani ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schleswig-Holsteinischen Institut für Friedenswissenschaften an der Universität Kiel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/1 Der schwierige Weg zum Frieden, Seite