W&F 2018/1

Martin Luther King

Ein Gegner des Vietnamkrieges

von Karlheinz Lipp

Am 4. April 1968, also vor 50 Jahren, wurde Martin Luther King (1929-1968) in Memphis ermordet. Hierzulande wurde King vor allem als schwarzer Bürgerrechtler und Vertreter der Gewaltfreiheit berühmt. Wenig bekannt sind Kings Friedensengagement gegen den Vietnamkrieg sowie sein Einsatz für die (nicht nur schwarzen) Armen und Arbeitslosen in seinem letzten Lebensjahr. Kings Äußerungen sind auch in unserer Gegenwart von einer verblüffenden Aktualität.

Die politische und organisatorische Heimat Kings bildete die Southern Christian Leadership Conference, die 1957 von Schwarzen gegründet worden war. Diese Bürgerrechtsbewegung knüpfte an die erste erfolgreiche Aktion, den Busboykott in Montgomery 1955, an. Durch gewaltfreie Aktivitäten (z.B. Freiheitsfahrten in Überlandbussen) wurde versucht, den Rassismus, besonders in den Südstaaten der USA, zumindest teilweise aufzuheben und der schwarzen Bevölkerung ein aktives, politisches Selbstbewusstsein zu vermitteln. Das berühmteste Beispiel ist der Marsch auf Washington 1963 mit der Abschlussrede »I have a dream«. Ein Jahr später erhielt King den Friedensnobelpreis.

Kings Kritik am Vietnamkrieg begann 1967

In der Öffentlichkeit beschäftigte sich King erstmals am 25. Februar 1967 auf einer Konferenz in Los Angeles ausschließlich mit dem Vietnamkrieg. Er wandte sich gegen die Diffamierung der langsam, aber stetig wachsenden Friedensbewegung in den USA. Ihn beängstigte, dass die Hoffnung auf eine Veränderung der US-amerikanischen Gesellschaft hinfällig werden könnte. Daher sprach sich King für eine Verbindung von Bürgerrechts- und Friedensbewegung aus. Er folgte damit seiner Frau Coretta Scott King (1927-2005), die bereits vor ihm in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg aktiv geworden war. Sie beschreibt auch die zunächst vorherrschenden Zweifel ihres Mannes.

„Zwar hatte sich Martin schon lange mit dem Weltfrieden befaßt, doch erst 1967 engagierte er sich endgültig, indem er sich gegen den Vietnam-Krieg wandte. Davor lag er mit sich im Widerstreit, ob er seine Kraft und Zeit auch noch der Sache des internationalen Friedens widmen und damit Energie von der Bewegung für schwarze Freiheit zum Teil abziehen sollte.“ (C.S. King, S. 249. Die Rechtschreibung folgt dem Original.)

Für die politischen Eliten und das FBI bedeutete diese Entwicklung des schwarzen Bürgerrechtlers eine noch intensivere Beobachtung der Aktivitäten Kings. Das FBI versuchte durch Berichte an Nachrichtenagenturen geschickt, King als Kommunisten darzustellen, eine Maßnahme, die nur allzu sehr an die McCarthy-Ära und die Jagd auf wirkliche und vermeintliche Kommunisten erinnerte. Erneut zeigte sich, wie der Kalte Krieg innenpolitisch genutzt wurde.

Am 4. April 1967 – auf den Tag genau ein Jahr vor seiner Ermordung – entfaltete King in einer berühmten Rede vor 3.000 Menschen in der Riverside Church, einer progressiven Gemeinde in New York, seine grundsätzlichen Bedenken gegenüber dem Vietnamkrieg und verknüpfte diese mit seinem Engagement für die Menschenrechte. Die Schirmherrschaft dieses Abends hatte die Organisation »Clergy and Laymen Concerned About Vietnam«, eine überkonfessionelle Vereinigung von Theologen und Laien gegen den Vietnamkrieg, übernommen.

Wir nahmen die schwarzen jungen Männer, denen unsere Gesellschaft das Lebensrecht versagte, und sandten sie 8000 Meilen weit weg, um die Freiheiten in Südostasien zu sichern, die sie in Südwest-Georgia und East-Harlem nicht gefunden hatten. So wurden wir immer wieder mit der grausamen Ironie konfrontiert, Neger und Weiße beobachten zu müssen, wie sie gemeinsam töten und sterben für eine Nation, die es nicht fertiggebracht hat, sie in den gleichen Schulen nebeneinander sitzen zu lassen. Wir sehen, wie sie miteinander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar, daß sie niemals in dem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden. […]

Ab 1945 versagten wir neun Jahre lang dem Volk von Vietnam das Recht auf Unabhängigkeit. Neun Jahre lang unterstützten wir tatkräftig die Franzosen bei ihrem verhängnisvollen Versuch, Vietnam wieder zur Kolonie zu machen. […] Nachdem die Franzosen geschlagen waren, sah es so aus, als ob es durch das Genfer Abkommen nun doch zur Unabhängigkeit und zur Landreform kommen werde. Aber stattdessen kamen die Vereinigten Staaten mit der Absicht, die von Ho Chi Minh angestrebte Wiedervereinigung der für eine gewisse Zeit geteilten Nation zu verhindern. Die Bauern mussten erneut beobachten, wie wir einen der übelsten modernen Diktatoren unterstützten – den von uns erwählten Premierminister [Ngo Dinh] Diem.

Die Bauern sahen zu und duckten sich, als Diem rücksichtslos jede Opposition ausrottete, die wucherischen Großgrundbesitzer unterstützte und es sogar ablehnte, über die Wiedervereinigung mit dem Norden auch nur in eine Diskussion zu treten. Die Bauern sahen, wie all dies unter dem Schutz amerikanischen Einflusses geschah und dann unter dem Schutz einer immer größeren Anzahl amerikanischer Soldaten, die kamen, um die durch Diems Methoden hervorgerufene Erhebung niederschlagen zu helfen. Vielleicht waren sie froh über Diems Sturz [2. November 1963], aber die dann folgende lange Liste der Militärdiktaturen bedeutete offensichtlich keine wirkliche Veränderung – schon gar nicht, was ihr Verlangen nach Landbesitz und Frieden anging.“ (M.L. King, S. 77 und 80f.)

Verständnis für den Vietkong

Empathie mit der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams bewies King mit den folgenden Worten: „Was hat es mit der Nationalen Befreiungsfront auf sich, jener seltsam anonymen Gruppe, die wir Vietkong oder Kommunisten nennen? Was müssen sie von uns Amerikanern denken, wenn ihnen klar wird, daß wir Unterdrückungsmethoden eines Diem zuließen, die ja erst der Grund für ihren Zusammenschluß als Widerstandsgruppe im Süden wurde? Was denken sie über unsere Zustimmung zu den Gewalttaten, die sie zu den Waffen greifen ließ? […]

Wie können sie uns vertrauen, wenn wir sie jetzt nach der langen Zeit des mörderischen Diem-Regimes wegen ihrer Gewalttaten anklagen, und das, während wir zur Zeit alle möglichen neuen todbringenden Waffen über ihr Land bringen? Wir müssen endlich begreifen, was sie bewegt, selbst wenn wir mit ihrem Handeln nicht einverstanden sind. Wir müssen endlich begreifen, daß die Leute, die wir unterstützen, sie zur Gewaltanwendung trieben. Sehen wir denn nicht, daß unsere sorgsam mit Computern errechneten Vernichtungspläne ihre größten Gewalttaten vergleichsweise unerheblich erscheinen lassen?“ (M.L. King, S. 82f.)

Kings Fazit lautete: „Auf welche Weise auch immer: Dieser Wahnsinn muss aufhören. Wir müssen zu einem Ende kommen, und zwar jetzt. Ich spreche als ein Kind Gottes und als Bruder jener notleidenden, armen Menschen von Vietnam. Ich spreche für die, deren Land verwüstet, deren Häuser zerstört und deren Kultur vernichtet wird. Ich spreche für die Armen in Amerika, die einen zweifachen Preis zahlen: den der zerbrochenen Hoffnung daheim und den des Todes und der Korruption in Vietnam. Ich spreche als ein Bürger der Welt, jener Welt, die entsetzt auf den Weg schaut, den wir genommen haben. Ich spreche als Amerikaner zu den Führern meines Volkes. Denn wir haben die entscheidenden Schritte in diesem Krieg unternommen, deshalb muss er jetzt durch unsere Initiative beendet werden.“ (M.L. King, S. 85)

Vorschläge für eine Beendigung des Krieges

Ein Ende des Vietnamkrieges durch deeskalierende Schritte präzisierte King in seiner Ansprache sehr genau, und er schaute auch auf die Zeit nach dem Krieg:

„Ich möchte fünf konkrete Vorschläge machen, die unsere Regierung sofort befolgen sollte, um den langen und schwierigen Prozess einzuleiten, der uns aus diesem Konflikt herausführt, der immer mehr einem Alptraum gleicht:

1. Alle Bombardierungen in Nord- und Südvietnam sind sofort zu beenden.

2. Einseitige Einstellung aller Kampfhandlungen in der Hoffnung, daß dadurch eine günstige Atmosphäre für Verhandlungen entsteht.

3. Sofort Schritte unternehmen, um das Entstehen neuer Schlachtfelder in Südostasien zu verhindern, indem wir unseren militärischen Aufmarsch in Thailand einschränken und die Einmischung in Laos beenden.

4. Realistisch das Faktum akzeptieren, daß die Nationale Befreiungsfront in Südvietnam erhebliche Unterstützung findet und daß sie deshalb bei allen sinnvollen Verhandlungen und in jeder kommenden vietnamesischen Regierung eine Rolle spielen muß.

5. In Übereinstimmung mit dem Genfer Abkommen von 1954 einen Zeitpunkt festsetzen, zu dem alle fremden Truppen aus Vietnam abgezogen werden.

Eine weitergehende Verpflichtung könnte für uns darin bestehen, daß wir jedem Vietnamesen, der unter einer neuen Regierung, an der die Nationale Befreiungsfront beteiligt ist, um sein Leben fürchtet, Asyl gewähren. Sodann müssen wir so umfassend wie möglich für die Schäden aufkommen, die wir angerichtet haben. Wir müssen die ärztliche Hilfe leisten, die so dringend nötig ist, und das, falls nötig, sogar in unsrem eigenen Land.“ (M.L. King, S. 86)

Der Vietnamkrieg in globaler Perspektive

King geht ebenso auf die internationalen Interessen der »Ersten Welt« ein, jenseits von Vietnam.

„Wahre Solidarität ist mehr als die Münze, die man dem Bettler hinwirft; sie ist nicht so zufällig und gedankenlos. Sie kommt zu der Einsicht, daß ein Haus, das Bettler hervorbringt, umgebaut werden muss. Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum sehr bald mit großer Unruhe betrachten. Sie wird nach Übersee blicken und mit gerechter Empörung darauf hinweisen, daß einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldbeträge in Asien, Afrika und Lateinamerika investieren, nur um zu verdienen und ohne Interesse an sozialen Fortschritten in jenen Ländern, und sie wird ausrufen: ‚Das ist ungerecht.‘

Eine Revolution der Werte wird unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern in Lateinamerika durchschauen und feststellen: ‚Das ist ungerecht.‘ Ungerecht ist auch die westliche Überheblichkeit, die meint, daß sie den anderen alles beibringen kann und von ihnen nichts zu lernen hat. Eine wirkliche Revolution der Werte wird den Status quo selbst beseitigen und vom Kriege sagen: ‚Dieser Weg zur Lösung von Spannungen ist nicht recht.‘“ (M.L. King, S. 88f.)

Im April 1967 stand die amerikanische Antikriegsbewegung noch auf schwachen Füßen, so dass die Reaktionen der Presse überwiegend negativ ausfielen. Dem Bürgerrechtler wurde vorgeworfen, kommunistische Positionen zu vertreten und damit Hanoi und Peking zu unterstützen. Der Vergleich zwischen dem Krieg in Vietnam und der Unterdrückung der Schwarzen in den USA wurde zurückgewiesen.

Am 15. April kam es im Rahmen der Frühjahrsaktivierung gegen den Vietnamkrieg zu zwei Großveranstaltungen. In San Francisco sprach Coretta Scott King vor 50.000 Menschen im Kezar-Stadion und in New York demonstrierten zwischen 100.000 (Polizeiangabe) und 250.000 (Angabe der Organisatoren) Menschen auf einem Marsch durch Manhattan zum Gebäude der Vereinten Nationen. Hier hielt King eine kurze Rede. Präsident Lyndon B. Johnson ließ von seiner texanischen Ranch verlauten, dass das FBI diese Aktionen observiert.

Inzwischen avancierte King zum prominentesten Vertreter der Antikriegsbewegung, die sich an den Universitäten ausweitete. Im Mai und Juni reiste King ca. 3.000 Meilen, um in zahlreichen Pressekonferenzen, Reden und Versammlungen seine Auffassung zu vertreten. Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg weiter eskalieren. Jetzt kämpften etwa 500.000 US-Soldaten in Südostasien, und die Bombardierung Nordvietnams wurde intensiviert. Die Kosten für den Krieg stiegen weiter deutlich an.

Krieg in Vietnam und Bürgerkrieg in den USA

Im Sommer 1967 nahmen die innenpolitischen Spannungen in den USA dramatisch zu. In über 100 Städten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Den traurigen Höhepunkt erlebte die Stadt Detroit mit 43 Toten. Johnson befahl den Einsatz von Panzern und Bundestruppen und ignorierte die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser Unruhen völlig. In einem Telegramm an Johnson kritisierte King die Ablehnung eines Mietzuschussgesetzes durch den Kongress und verlangte Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.

Etwa 20.000 junge Menschen beteiligten sich an einem Vietnam-Sommer. Tausende protestierten gegen die Wehrpflicht (die 1973 als eine Folge des Vietnamkrieges abgeschafft werden sollte) und im Oktober etwa 50.000 vor dem Pentagon in der Hauptstadt Washington. King unterstützte die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen.

In einer Ansprache vor Mitgliedern von Gewerkschaften an der Universität Chicago am 11. November 1967 behandelte King die innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges.

„Der Krieg hat zu dem bizarren Schauspiel geführt, daß Streitkräfte der USA gleichzeitig in den Gettos der USA und in den Dschungeln Asiens kämpfen. Der Krieg hat die Verbitterung und die Verzweiflung der Neger so gesteigert, daß Rassenunruhen in den Städten nun ein hässlicher Bestandteil der amerikanischen Szene sind. Wie kann die Administration, gleichsam vor Empörung bebend, die Gewalttaten schwarzer Gettobewohner verurteilen, während sie in Asien ein Beispiel für Gewalt gegeben hat, das die Welt schockiert? Diejenigen, die Schiffskanonen, Millionen Tonnen an Bomben und scheußliches Napalm benutzen, können nicht vor Negern über Gewalt sprechen. Nur diejenigen, die für den Frieden kämpfen, haben die moralische Autorität, andere über Gewaltlosigkeit zu belehren. Ich möchte nicht mißverstanden werden: ich setzte die sogenannte Gewalt der Neger nicht mit dem Krieg gleich. […]

Die Prioritäten der Administration und des Kongresses werden in dramatischer Weise illustriert durch die Leichtigkeit, mit der 70 Milliarden Dollar für den Krieg bereitgestellt werden, während man den unwilligen Kongreßabgeordneten kaum zwei Milliarden Dollar für Programme zur Bekämpfung der Armut abringen kann.

In den vergangenen zwei Monaten ist die Arbeitslosigkeit ungefähr um 15 Prozent gestiegen. Zur Zeit werden Zehntausende von Mitarbeitern in Programmen gegen die Armut abrupt aus ihren Arbeitsstellen und Trainingsprogrammen entlassen, so daß sie auf dem kleiner werdenden Arbeitsmarkt um Arbeitsplätze und um ihr Überleben kämpfen müssen. Die kriegsbedingte Inflation verkleinert das Gehalt der Arbeitenden, die Pension der Ruheständler und die Ersparnisse fast aller. […] Die Mehrheit im Kongreß und in der Administration hat sich – im Unterschied zur Mehrheit der Bevölkerung – ausschließlich der Durchführung des Krieges verschrieben. Man hat geschätzt, daß wir ca. 500 000 Dollar aufwenden, um einen einzigen feindlichen Soldaten in Vietnam zu töten, dennoch geben wir für jeden armen Amerikaner im Rahmen der Programme zur Bekämpfung der Armut nur ca. 53 Dollar aus.“ (M.L. King, S. 93-95)

Angesichts der zunehmenden weltweiten Proteste sah King die USA in einem Zustand der Isolierung. Auch die psychischen Folgen des Vietnamkrieges, besonders für die vielen jungen US-Soldaten, erfasste King früh: Drogenkonsum, Kriegstraumata, Probleme der Reintegration in die Gesellschaft nach der Rückkehr aus dem Dschungelkrieg in Asien.

Eine innenpolitische Dimension des Vietnamkrieges erkannte King in der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes sowie der reaktionären Kräfte.

Bei seinen kritischen Äußerungen zur Kriegspolitik der US-Regierung berief sich King auf Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte.

„Wir tun gut, uns daran zu erinnern, daß die amerikanische Tradition ein starkes Element des Widerspruchs selbst in Kriegszeiten enthält. Während des Mexikanischen Krieges [1846/47] übte die intellektuelle Elite der Nation, [Ralph Waldo] Emerson, [Henry David] Thoreau und viele andere, vernichtende Kritik an der Politik der Regierung. Im Kongreß hielt ein relativ unbekannter, neugewählter Abgeordneter eine scharfe Ansprache, in der er den Krieg verurteilte. Der junge Abgeordnete war Abraham Lincoln aus Illinois.“ (M.L. King, S. 98)

Der Vietnamkrieg verschärfte die sozialen Probleme in den USA

Die sozialen und wirtschaftlichen Missstände in den USA, beschleunigt durch den Vietnamkrieg, veranlassten King, an einem neuen Projekt zu arbeiten: der Kampagne für die Armen. Diese Aktion sollte auf breiter Basis durchgeführt werden und mehrere Monate dauern, um so einen effektiven Druck auf den US-Kongress auszuüben.

Punktuelle Erfolgserlebnisse mit Boykotten, Sit-ins und Märschen hatte die Bürgerrechtsbewegung schon verzeichnet. Nun sollten in einem ehrgeizigen Projekt der Umverteilung von Macht auf nationaler Ebene radikale gesellschaftliche Veränderungen vorgenommen werden, um den Rassismus, die Armut, die Arbeitslosigkeit sowie den Vietnamkrieg zu beenden. King war sich dieser großen Herausforderung und »Kraftprobe der Gewaltlosigkeit« bewusst, sah aber keine Alternative angesichts der Eskalation zu einem Bürgerkrieg in den Großstädten der USA.

Währenddessen wütete der Vietnamkrieg weiter und erfuhr eine überraschende Entwicklung. Am höchsten religiösen Festtag Vietnams, dem Neujahrsfest Tet am 31. Januar 1968, setzte eine Offensive ein. Die nordvietnamesische Armee und der Vietkong attackierten 36 Provinzhauptstädte, 64 Kreisstädte, zahlreiche Dörfer und zwölf amerikanische Stützpunkte. Die militärischen Befehlshaber der USA wurden völlig überrascht. Auch wenn die Tet-Offensive letztendlich niedergeschlagen wurde, offenbarte sie das Scheitern der Konzepte der US-Regierung und des US-Militärs – eine Schmach, die in diesen Kreisen bis heute nicht überwunden wurde.

Die Kritik an der Regierung Johnson wuchs weltweit, auch innerhalb der eigenen Demokratischen Partei. King kritisierte den Vietnamkrieg weiterhin als einen Ausdruck des weißen Rassismus, wandte sich aber nun seinem neuen Projekt zu. Er kümmerte sich um nicht sesshafte Landarbeiter*innen in Kalifornien, besuchte Reservate der Native Americans, reiste ins Mississippi-Delta zu der verarmten schwarzen Bevölkerung und beschäftigte sich mit den Gettoproblemen in den Großstädten des Nordens der USA.

Mitte Februar 1968, also nur wenige Tage nach der Tet-Offensive, begann der Streik der schwarzen Müllmänner in Memphis. In diesem Streik sah King eine Brücke zu dem, was er plante: einen Marsch der Armen nach Washington, ähnlich dem Marsch des Jahres 1963. King unterstützte die Aktionen der Müllmänner gegen die rassistische Stadtverwaltung. In Memphis hielt Martin Luther King seine letzte Rede – einen Tag vor seiner Ermordung.

Literatur

DeBenedetti, D.; Chatfield, C (1990): An American Ordeal – The Antiwar Movement of the Vietnam Era. Syracuse: Syracuse University Press.

Carson, C.(2008): The Martin Luther King, Jr. Encyclopedia. Westport: ABC Clio.

Frey, M. (2004, 7. Aufl.): Geschichte des Vietnamkriegs – Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München: C.H. Beck.

Hall, S. (2005): Peace and Freedom – The Civil Rights and Antiwar Movements in the 1960s. Philadelphia: Penn Press.

King, M.L. (1983, 5. Aufl): Testament der Hoffnung – Letzte Reden, Aufsätze und Predigten. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

King, C.S. (1977): Mein Leben mit Martin Luther King. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

Lucks, D.S. (2014): Selma to Saigon – The Civil Rights Movement and the Vietnam War. Lexington: University Press of Kentucky.

Oates, S.B. (1986): Martin Luther King – Kämpfer für Gewaltlosigkeit. München: Wilhelm Heyne Verlag.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker mit dem Schwerpunkt Historische Friedensforschung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/1 USA – eine Inventur, Seite 50–53