W&F 2000/3

Mediengestammel anlässlich eines Geiseldramas

Abu Sayyaf als Subunternehmer staatlichen Terrors

von Rainer Werning

So viel hochdotierte und zelebrierte Konfusion war selten, wie während der bewegten und bewegenden Tage des Geiseldramas auf der südphilippinischen Insel Jolo. Doch kaum ein Vertreter der mit modernstem technischen Gerät ausgestatteten, omnipräsenten und häufig live geschalteten Medienschar fühlte sich bemüßigt, den interessierten ZuschauerInnen das eigentlich nahe Liegende auch nur ansatzweise zu erklären: Wieso gelingt es ein paar geiselnehmenden Desperados immer wieder, mit einem Großaufgebot von bis zu 5.000 philippinischen Militärs Katz und Maus zu spielen und gebetene sowie ungebetene Vermittler mühelos auflaufen zu lassen? Wer und was steckt hinter Abu Sayyaf?

Der Medientross gefiel sich darin, Statements und Infohäppchen zu paraphrasieren, die ihm aus zivilen und militärischen Regierungsstellen in Manila und vom SouthCom, dem in Zamboanga beheimateten und für die Region zuständigen Südkommando, gesteckt wurden. Einige der vor Ort anwesenden JournalistInnen waren zuvor im Kosovo und in Tschetschenien und lechzten offensichtlich nach spektakulären Bildern, zu denen ihnen, so sie diese schließlich von philippinischen KollegInnen zugespielt bekamen, meistens nur Spruchblasen einfielen. Bevor auch nur Genaues über den Tathergang bekannt war, waren bereits die Täter ausgemacht und lief die Feindbildprojektion auf Hochttouren. „Islamistische Terroristen“, „Moro-Sezessionisten“ und „moslemische Rebellen“ seien dafür verantwortlich. Hartmut Idzko sprach am 25. April in der 20-Uhr-Tagesschau vom „Rebellenführer Abu Sayyaf“, was so präzise ist, als begrüßte im Gegenzug ein Moro den guten Korrespondenten mit »Hartmut Tagesschau«. Schließlich ist Abu Sayyaf der Name der Organisation, als ihr Chef gilt Khaddafy Janjalani. Unzählige Male wurde aber in den westlichen Medien der Vorsitzende der Moro Islamischen Befreiungsfront (MILF), Hashim Salamat, als Abu Sayyaf-Chef ausgegeben. Der Geheimdienstgeneral José Calimlim wird sich ob seiner famos geglückten Desinformation mächtig gefreut haben. Salamat, den Vorsitzenden der heute bedeutsamsten und größten Moro-Widerstandsbewegung, in einen Topf mit Abu Sayyaf zu werfen, ist nicht nur gefährlicher Unfug – das hat Methode. Schließlich hat Präsident Joseph Estrada höchstpersönlich mehrfach öffentlich den „Moro-Rebellen den totalen Krieg“ erklärt und ihnen Anfang Mai unterschiedslos mit ihrer „Pulverisierung“ gedroht.

Günter Ederer, von 1985 bis 1990 ZDF-Korrespondent in Ostasien, gelang in einem Beitrag für Die Welt (4. Mai) ein nachgerade müheloser Rückfall hinter Karl May. Darin heißt es u.a.: (…) fasziniert mich am meisten, wie der wilde und unzivilisierte Stamm der Tausugs (…) es geschafft hat, seine Räuberei und Piraterie international als islamischen Aufstand hoffähig zu machen. (…) Die Stunde von Nur Misuari schlug unter Präsident Ramos. Die Pfründe wurden neu verteilt. Seine bewaffneten Krieger übernahmen die Rolle der Ordnungsmacht und seit er im Palast der autonomen Verwaltung in Zamboanga Platz nehmen durfte, sitzt er an den Einnahmequellen. Prompt entstand eine neue »Befreiungsarmee«, die Abu Sayyaf.„ Da verschränken sich rassistische Versatzstücke mit purem Unsinn. Die autonome Verwaltung, die Herr Ederer meint, ist die »Autonomous Region of Moslem Mindanao« (ARMM), deren Gouverneur Misuari ist, die aber ihren Sitz in Cotabato City (Maguindanao) hat. Seinen Frieden schloss Misuari mit Ex-Präsident und Ex-General Fidel V. Ramos am 2. September 1996. Demnach ist laut Ederer das Geburtsdatum der Abu Sayyaf nicht vor September 1996 festzumachen. Da muss er, dessen Beitrag mit einem postkolonialem Charme ausstrahlenden Privatfoto (zusammen mit waschechten Piraten) versehen wurde, fast ein Jahrzehnt dieser trüben Truppe übersehen oder vergessen haben.

Ähnliche »Qualität« im Kölner Stadt-Anzeiger (8.5.), der in völliger Verkehrung der Realität seinen Philippinen-Beitrag mit „Moslems führen gegen Manila Krieg“ betitelte! Sympathischer wirkten da schon zwei Beiträge von Tilmann Bünz und Uwe Kröger. Erstgenannter meldete sich am 8. Mai in der Nachmittagsausgabe der Tagesschau zu Wort, um als Neuigkeit das Ende der Vermittlerrolle des philippinischen Chefunterhändlers Nur Misuaris zu verkünden – was zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht stimmte! Sein Resümee: Die ganze Lage sei verwirrend und chaotisch, man blicke kaum noch durch. Einen Tag später (9. Mai) meldete sich sein ZDF-Kollege Kröger im heute journal mit einem Feature aus Basilan, jener Insel, auf der Abu Sayyaf eine ganze Schulklasse als Geiseln genommen und der Provinzgouverneur Wahab Akbar im Gegenzug Verwandte und Freunde des Abu Sayyaf-Chefs Khaddafy Janjalani gekidnappt hatte. Dort sprach er wenigstens mit Kindern dieser Schulklasse, denen die Flucht geglückt war und ließ sie selbst zu Wort kommen.

Im Zeitalter schneller Bilder und rasanter Globalisierung gerät offensichtlich die seriöse Recherche immer stärker unter den Hammer. Unter dem Zwang, in höchstens drei Minuten Substanzielles zu sagen, wird Plattitüde zum Programm.

Metamorphosen des Terrors

Abu Sayyaf (wörtlich: »Vater des Schwertes« oder »Vater des Scharfrichters«) ist ein komplexes Phänomen, das überdies einige Metamorphosen erlebte. Ihre Ursprünge reichen zurück in die Ära der Marcos-Nachfolgerin Präsidentin Corazon Aquino, mit der der Gründungsvorsitzende der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) und langjährig im libyschen Exil weilende Nur Misuari 1986/87 Friedensgespräche führte. Sie scheiterten auf der ganzen Linie und führten vor allem auf der Insel Basilan – später auch auf Jolo und Tawi-Tawi – zur Desillusionierung einstiger Weggefährten. Misuari war dieser Gruppe von Ex-MNLF-Kämpfern suspekt geworden und hatte seine Führungsrolle verspielt. Als neue Leitbilder galten fortan Ayatollah Khomeini (Riesenposter von ihm prangten in Dschungelcamps, vermittelt von iranischen Missionaren) und die hauptsächlich von Pakistan aus operierenden Widerstandskämpfer gegen das Kabuler Regime und die sowjetischen Besatzertruppen. Einige Abu Sayyaf-Mitglieder erhielten dort ebenso eine militärische Ausbildung wie später unter den Taliban-Milizen.

Zu Beginn der 90er-Jahre kam eine neue Komponente ins Spiel, die für das philippinische Militär und den Geheimdienst des Landes wenig schmeichelhaft ist. Ich beschränke mich hier auf den Fall von Edwin Angeles. Dieser, ein Agent der Sicherheitskräfte, trat zu der Zeit zum Islam über, avancierte alsbald zu einem der Feldkommandeure von Abu Sayyaf und war für mehrere deren Militäroperationen verantwortlich. 1995 kehrte Angeles der Abu Sayyaf den Rücken, tauchte unter, um im Januar 1999 von Sicherheitskräften erschossen aufgefunden zu werden. Einen Monat zuvor hatte es den Gründer von Abu Sayyaf, Abdurajak Abubakar Janjalani erwischt, der während eines Feuergefechts mit Armeeeinheiten ums Leben kam. Seitdem hat sein Bruder Khaddafy Janjalani die Führung der zirka 800 Mann starken, militaristischen Gruppe übernommen, deren Mitglieder überwiegend auf Yakan rekrutiert wurden. Auch er eine schillernde Person: Khaddafy diente einst in der Philippinischen Nationalpolizei (PNP) und stand zeitweilig unter Aufsicht der Streitkräfte (AFP) in Manilas Camp Crame. Bis heute bleibt unklar, ob er auf freien Fuß gesetzt wurde, entfliehen konnte oder in bestimmter Mission tätig ist. Jedenfalls gehörten Kidnapping (zumeist reicher Geschäftsleute), Lösegelderpressungen und Terroranschläge gegen zivile Einrichtungen zum Repertoire dieser Gruppe. Die aus diesem »Business« erzielte Beute, auch das gilt es im Detail zu klären, kam nach Einschätzungen zuverlässiger Quellen vor Ort teilweise lokalen und regionalen Politikern und Militärs direkt oder indirekt zugute. Diese revanchierten sich, indem kaum eine Aufklärung – von einer rechtskräftigen Verurteilung ganz zu schweigen – spektakulärer Abu Sayyaf-Aktionen stattfand. Bei ihrem Angriff auf den Ort Ipil starben 1995 über 50 Menschen und vor Weihnachten 1998 machten sie durch Granatenanschläge gegen Kirchen und ein Einkaufszentrum in Zamboanga City von sich reden, bei denen 60 Personen zum Teil schwer verletzt wurden.

Am 8. Mai hielt Senator Aquilino Pimentel in seinem und im Namen der anderen beiden aus Mindanao stammenden Senatoren Teofisto F. Guingona und Robert Z. Barbers im philippinischen Senat eine bemerkenswerte Rede. Erstens handelte es sich um eine parteiübergreifende Stellungnahme. Zweitens attackierte sie scharf die neuerliche Entfesselung des Krieges in Zentralmindanao, der bis zum 10. Mai bereits 160.000 Menschen zu Vertriebenen machte und Hunderte von Toten forderte. Schließlich enthielt sie Pikantes zur Abu Sayyaf. In dieser mit »Stop Hostilities for the People`s Sake« betitelten Stellungnahme heißt es beispielsweise: „(…) Die MILF und Abu Sayyaf ständig zusammenzuwürfeln, als handele es sich um ein und denselben Hund mit unterschiedlichen Halsbänden, ist unstatthaft. Die MILF hat eine politische Agenda. Die Abu Sayyaf ist eine durch und durch kriminelle Vereinigung. Die MILF kämpft dafür, die eigene Kultur, Religion und Identität zu wahren. Abu Sayyaf kämpft hingegen, um ihre Verbrechen in ein Business zu verwandeln, von dem einzig diese Gruppe profitiert. Abu Sayyaf-Kämpfer wurden ursprünglich als freiwillige Moujahedeen rekrutiert, um im amerikanischen Stellvertreter-Krieg in Afghanistan in den frühen 90er Jahren zu dienen. (…) Finanzielle und logistische Unterstützung erhielt Abu Sayyaf von US-Undercover Agents – mit eventueller Verbindung zur CIA. Osama Bin Laden könnte dabei den Hauptkurier gespielt haben, was entweder die finanzielle Unterstützung oder Waffenlieferung an Abu Sayyaf oder gar beides betrifft.“ Sollte sich dies bewahrheiten, hieße das Fazit: Widerstandskämpfer werden von einflussreichen politischen Kräften zuerst kreiert und politisch instrumentalisiert, um im Bedarfsfall zu Terroristen abgestempelt und in den Orkus verbannt zu werden.

Misuaris zum Scheitern verurteilte Mission

Die Entwicklungen lassen vermuten, dass es »Koordinationsschwierigkeiten« und Kompetenzgerangel zwischen zentralen und regionalen/lokalen Instanzen gibt – sozusagen ein Zentrum-Peripherie-Konflikt auf anderer Ebene. Im Vorfeld der seit 1993 hauptsächlich in Indonesien geführten Gesprächsrunden zwischen der MNLF und der Ramos-Regierung, die am 2. September 1996 zur Unterzeichnung des endgültigen Friedensvertrages führten, war Abu Sayyaf ein wesentliches Destabilisierungselement, von sämtlichen reaktionären Kräften als eine Art Subunternehmen instrumentalisiert, um Chaos und interreligiöse Konflikte gezielt zu schüren und Misuaris »Kapitulation« (Hashim Salamat) zu beschleunigen. Ein halbes Jahr vor Unterzeichnung des Friedensabkommens, im März 1996, hatte Misuari in einem langen Gespräch mit dem Autoren in Jolo noch die Hoffnung gehegt, ein »Arafat der Moros« zu werden. Ein fataler Trugschluss: Sein Schulterschluss mit dem Korea- und Vietnamkriegsveteranen und an US-amerikanischen Militärakademien in PsyOp (psychologische Kriegsführung) geschulten Ramos ließ ihn schrittweise und unaufhaltsam zur Fußnote (einige seiner Weggefährten setzen das Adjektiv »lächerlich« hinzu) des Moro-Widerstandes herabsinken. Der Friede blieb brüchig und die Performance des als ARMM-Gouverneur vollständig ins System integrierten Misuari grotesk. Kein Wunder, dass Manila nunmehr alles daran setzt, die bereits 1978 von der MNLF abgespaltene MILF als Pfahl im Fleisch zu betrachten und sie, die nach wie vor für Unabhängigkeit einsteht, zu »befrieden«. Und gleichsam ist es nicht erstaunlich, dass Misuari als Vermittler im Geiseldrama von Anfang an strikt abgelehnt und selbst unter seinen Tausug-Gefolgsleuten als »parenta« eingestuft wurde. Was frei übersetzt so viel bedeutet wie »Der hat denselben Stallgeruch wie die Regierung«. Die allererste Forderung der Geiselnehmer war denn auch die sofortige Absetzung Misuaris als Chefunterhändler – ein Zeichen dafür, dass zentralen Vermittlungsinstanzen weniger Gewicht als regionalen/lokalen zukommt.

Es sind zu Misuari auf Distanz gegangene Ex-MNLFler, die direkt oder indirekt mit Abu Sayyaf kooperieren. Damit aber kommt nolens volens die Staatsmacht auf peripherer Ebene ins Spiel. Das am 2. September 1996 zwischen der MNLF und Manila geschlossene Friedensabkommen sieht als einen wesentlichen Bestandteil die Integration 7.500 früherer MNLF-Kämpfer in die Streitkräfte (AFP) und Nationalpolizei (PNP) vor. Dieser Prozess ist noch nicht ganz abgeschlossen. Doch die bereits Integrierten pflegen enge Kontakte zu ihren Weggefährten, einschließlich der Abu Sayyaf – wichtiger noch: Sie sind oftmals verwandtschaftlich mit ihnen verbunden. Bekanntlich ist Blut dicker als Wasser. Da saßen denn Burschen, die Kidnapping als Einkommen schaffende Maßnahme betrachten, in mehreren Barangays (Barrios) von Talipao und Patikul mit ihren Geiseln und ließen andere Segmente/Fraktionen des Militärs im Dunkeln tappen. Talipao und Patikul aber sind seit langem einige der zahlreichen Domänen der MNLF, die sich von Misuari verschaukelt fühlen, da dieser sie nach September 1996 wie eine heiße Kartoffel fallen ließ.

Als Hauptverantwortlicher der Geiselnahme gilt Galib Andang alias Kommandeur Robot. Andang ist ein notorischer Krimineller, der seit längerem im Sulu-Archipel sein Unwesen treibt und als Drahtzieher in mehreren Erpressungs- und Kidnapping-Fällen gilt. Was Misuaris Verhandlungsrolle und die der wegen ihrer Nähe zu ihm ebenfalls scheiternden Unterhändler erschwert(e) ist die Tatsache, dass hinter Andang mit Mujib Agga Susukan, Said Suaib und Abu Pula Jumdail drei Kommandeure stehen, die alte Rechnungen mit Misuari, mithin also mit dem Staatsapparat, zu begleichen haben. Der Vater von Mujib beispielsweise, ein alter Kampfgefährte Misuaris und MNLF-Provinzkommandeur, kam vor einigen Jahren in einem Feuergefecht mit Regierungstruppen ums Leben. Und Mujib selbst, der Misuari nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1996 um politische und finanzielle Unterstützung bat, fühlte sich maßlos brüskiert, als dieser ihn einfach links liegen ließ.

Ablenkung vom Krieg in Zentralmindanao

Der von den westlichen Medien anfänglich so hoch geschätzte Friedensmakler Misuari blockierte letztlich eine sensible und diskrete Verhandlung mit unkonventionellen Mitteln. Das heißt, die Kanäle waren blockiert für solche Avancen, die jenseits des Scheinwerferlichts hätten genutzt werden können, aber aufgrund der auf eine Kriegslogik eingeschworenen Regierung nicht zum Zuge kamen. So verhandelte Misuari tagelang mit seinem eigenen Schatten. Gleichzeitig aber waren nur wenige erpicht, in diesen Schatten zu treten. So ist denn die Zentralregierung Opfer und Täter zugleich einer Politik, die auf zentraler Ebene aus den Fugen gleitet und regional/lokal tatkräftig den Geiselnehmern zuarbeitet.

Natürlich verdienen die 21 Geiseln Mitgefühl, aber es ist skandalös, wenn nur über die Geiseln und nicht auch über die 160.000 zwangsevakuierten Opfer staatsterroristischer Aktionen in Zentralmindanao informiert wird. Unweit Zamboangas, im Hochland von Maguindanao, den beiden Lanao-Provinzen und selbst in Städten wie Davao und General Santos führt das Militär seit März Großoffensiven gegen die MILF durch und wiegelt von ihr kurzerhand aus dem Boden gestampfte paramilitärische Banden auf, interreligiösen Hass zu säen. Seit Anfang Mai haben Marine- und andere Eliteeinheiten der philippinischen Armee ihren Belagerungsring um das MILF-Hauptquartier Camp Abubakar, in den beiden Lanao-Provinzen und in Maguindanao enger gezogen. Gleichzeitig wurden über 1.000 frisch rekrutierte Paramilitärs, Mitglieder der sogenannten CAFGU (Citizen Armed Forces Geographical Units), zur Unterstützung der Armee in das Gebiet abkommandiert. Gut die Hälfte der Kampfverbände ist somit im Süden des Archipels konzentriert. Der Narciso Ramos Highway, der die Provinzen miteinander verbindet, wurde für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Elektrizitätsmasten wurden vielerorts in die Luft gesprengt, Banken ganz oder zeitweilig geschlossen, Flüge zwischen Manila und Cotabato City und General Santos City kurzerhand eingestellt. Willkürliche Verhaftungen nehmen zu und erinnern fatal an die bleiernen Marcos-Jahre. Sollte ein Großangriff auf Camp Abubakar erfolgen, wäre das der Beginn eines neuerlichen offenen Bürgerkrieges! Manilas Regierung scheint die Eskalation der Gewalt billigend in Kauf zu nehmen. Der von zahlreichen Skandalen und Korruptionsaffären lädierte Präsident folgt mit seinen Militärs einer Kampf- und Kriegslogik, die der Ex-Schauspieler früher bevorzugt in Billigproduktionen zelebrierte. Verantwortlich ist letztlich er, den das Auswärtige Amt und die EU (vertreten durch Javier Solana) noch immer hofieren. Das vertrackt die Lage und verheißt wenig Gutes.

Als Geste des guten Willens erklärte die MILF am Abend des 5. Mai eine einseitige Feuerpause, die ab dem 6. Mai morgens in Kraft trat. Die Regierung hat jedoch zum Entsetzen zahlreicher NROs und namhafter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – darunter Erzbischof Orlando Quevedo und der rührige Friedensadvokat Fr. Eliseo Mercado aus Cotabato City – diese Geste missachtet. Verteidigungsminister Orlando Mercado und Generalleutnant a.D. Edgardo Batenga, Chefunterhändler Manilas bei den zwischenzeitlich geplatzten Friedensgesprächen mit der MILF, spielten die Ahnungslosen und verschanzten sich hinter der Ausrede, weder der eine noch der andere hätte die Order zur neuerlichen Offensive gegeben. So desolat deren Informationspolitik ist, so draufgängerisch gebärdet sich weiterhin Estrada. Der Mann hat, wenn immer er ausgerechnet den Süden seines Archipels besucht, die Chuzpe, im Kampfanzug zu erscheinen – ein famose Geste gegenüber den Moros. Das wagte nicht einmal die rechte Hand von Marcos und dessen Kriegsrechtsverwalter und Ex-Präsident Ramos. Der General a.D. war wenigstens so sensibel, während seiner Amtszeit stets in Zivil zu erscheinen.

Eigentlich genügend Stoff für qualitative Hintergrundberichte im Umfeld eines Geiseldramas.

Anmerkung

Das vorliegende Manuskript wurde am 10. Mai abgeschlossen.

Dr. Rainer Werning, Geschäftsführer der Stiftung für Kinder (Freiburg i.Br.) und Vizepräsident des International Forum for Child Welfare (Genf/Brüssel), befasst sich seit 1970 u.a. intensiv mit der Mindanao- und Moro-Problematik. Erst kürzlich kehrte er von einer neuerlichen Reise nach Mindanao, Sabah (Ostmalaysia) und Jolo zurück.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2000/3 Europa kommt, Seite