W&F 2015/4

Mehr Verantwortung? Ja, bitte!

von Paul Schäfer

Vorstand und Redaktion von W&F waren bei der Jahresplanung 2015 relativ schnell einig: „Wir müssen was zur deutschen Rolle in der heutigen Welt machen.“ Ausgangspunkt der Diskussion waren die programmatisch anmutenden Reden dreier deutscher PolitikerInnen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, in denen das veränderte Gewicht Deutschlands in Europa und der Welt beschworen und daraus ein »Mehr an Verantwortung« abgeleitet wurde.

Bei der Vorbereitung des vorliegenden Heftes sind wir aber rasch darauf gestoßen, dass eine solide Einschätzung der Rolle Deutschlands schwieriger ist als gedacht. Weil die Reden der Konferenz doch nur eine Momentaufnahme darstellen, weil eine Reihe von Ereignissen – Ukrainekrise, Islamisches Kalifat in Nahost, Flüchtlingsdrama – einschneidende Prozesse in Gang gesetzt hat, die nicht so einfach zu erfassen sind, und weil die Bundesregierung diesbezüglich durchaus widersprüchliche Signale aussendet. Wir haben uns daher vorgenommen, eher eine Annäherung an das Thema zu versuchen. Am Anfang des Schwerpunktthemas stehen daher pointierte und kontroverse Statements zu der Frage, ob »München« eher für eine Zäsur oder doch eher für ein Kontinuum der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik steht. Die Folgebeiträge brechen diese Frage, direkt oder indirekt, herunter auf sicherheits- und militärpolitische Entwicklungen der jüngsten Zeit. Diese wiederum stehen in engem Zusammenhang mit dem wieder aufgebrochenen großen Konflikt zwischen den NATO- und den EU-Mitgliedsstaaten auf der einen Seite und Russland auf der anderen sowie mit den immer weiter eskalierten Gewaltszenarien vor allem in Nahost. Es ergeben sich einzelne Mosaik-Teile, ein fertiges Bild fügt sich daraus (noch) nicht zusammen. Aber vielleicht liegen die Widersprüche in der Sache selbst?

Kein Zweifel: Deutschland hat vor allem innerhalb der EU erheblich an Gewicht gewonnen. Dies ist offenkundig mit der gestärkten Position Deutschlands nach der Weltfinanzkrise 2007/8 verknüpft. Die Ultimaten setzende Politik der Bundesregierung in den »Verhandlungen« über die Schuldenkrise Griechenlands ist ein Beispiel dafür. „In Europa wird wieder deutsch gesprochen“, hieß es da. Die Regierung nutzt das stärkere ökonomische Gewicht, um bilateral wie in internationalen Gremien Einfluss zu nehmen. Aber welchem Kompass folgt sie dabei? Sie will weiter an der globalen Durchsetzung der neoliberal geprägten Weltwirtschaftsordnung arbeiten; sie möchte im deutschen Interesse die EU als Faktor in diesem globalen Wettbewerb stärken. Zugleich ist die Regierung mit den vehementen Folgen dieser »Weltordnung« konfrontiert – den „Schattenseiten der Globalisierung“, von denen inzwischen selbst die Kanzlerin spricht. Eine Konsequenz: Man müsse sich stärker in internationales Krisenmanagement einbringen. Aber wie? Und in welchem Verhältnis soll diese Krisendiplomatie mit dem auf der Münchner Konferenz unüberhörbar geforderten intensiveren militärischen »Engagement« stehen?

Im Osten hat man mit rücksichtsloser Markterweiterungspolitik einen geopolitischen Wettlauf mit Russland ausgelöst, dadurch in der Ukraine Gewaltprozesse befördert, und schickt sich dann an, Feuerwehr zu spielen. »Friedensdiplomatie« wird mit Säbelrasseln und Sanktionen garniert. Wohin soll das führen?

Noch irritierender die Eindrücke in der Flüchtlingsfrage. Deutschland hat sich mit der Aufnahme hunderttausender Flüchtlinge positiv profiliert, avanciert fast schon zum gelobten Land. Aber werden daraus endlich Konsequenzen gezogen? Neben der »Willkommenskultur« erleben wir gleichzeitig, dass die Bundeswehr zur Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer aktiv werden soll. Und was gedenken die Bundesregierung und die EU zu tun, um sich endlich den Fluchtursachen zuzuwenden? Bis dato hat man sich überwiegend im Windschatten der USA bewegt und ist damit mitverantwortlich für das, „was westliche Politik im Orient anrichtet“ (Michael Lüders). Wird es hier, unter dem Druck der Ereignisse, ein Umdenken geben?

Für eine „vorausschauende Politik“ möchte der Bundesaußenminister sein Haus besser wappnen. Doch dazu gehört entschieden mehr als eine neue Abteilung für Krisenprävention am Werderschen Markt. Es geht um Grundkonzepte: Vereinte Nationen oder Mächtekoalitionen? Gerechtigkeit global oder Behauptung der eigenen Privilegien? Vorrang für zivil oder Fortsetzung militärisch gestützter Interessenpolitik? Werden die immer wieder proklamierten Wertemaßstäbe endlich auch auf das eigene Handeln angewandt?

Sollte Deutschland in dieser laut Außenminister »aus den Fugen geratenden Welt« mehr internationale Verantwortung übernehmen? Ja! Wie wäre es, wenn Deutschland bei der Umsetzung der neuen UN-Nachhaltigkeitsziele voranginge? Wenn die Bundesrepublik grundsätzlich auf Rüstungsexporte verzichten würde? Wenn sich unser Land ein besonderes internationales Profil erarbeitete, das auf Friedensdiplomatie und ziviler Konfliktbearbeitung beruht?

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/4 Deutsche Verantwortung – Zäsur oder Kontinuität?, Seite 2