W&F 1997/1

Mehrheiten versus Minderheiten

Zur Kritik erklärungsbedürftiger Konzepte

von Christian P. Scherrer

Thema dieses Artikels sind jene Akteure, die bis heute, wie so oft in der Geschichte der Moderne, aus dem System der Nationalstaaten »herausfallen«, mit schweren Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Rede ist von nicht-dominanten Gruppen im Staat. Jeder Staat hat sie, die ethnischen Minderheiten. Im 20. Jahrhundert wurden Minderheitenfragen in Europa wiederholt zum Anlaß genommen, Kriege zu führen. Es handelt sich also wahrlich nicht um ein zweitrangiges Phänomen. C.<0> <>P. Scherrer untersucht den Inhalt von Begrifflichkeiten, befaßt sich mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen, erarbeitet Merkmale zur Definition ethnischer Gemeinschaften und kommt zu der Schlußfolgerung, daß das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung kein Recht auf Sezession beinhaltet.

Wer die Frage nach dem Inhalt von Begriffen wie Mehrheit und Minderheit stellt, sticht in ein Wespennest von Problemen. Beide Begriffe sind einerseits an Form und Größe des jeweiligen Staates gebunden und somit von jeder Veränderung dieser Parameter abhängig. Ein anschauliches Beispiel: Vor unseren Augen zerfiel die Sowjetunion in fünfzehn Nachfolgestaaten, wodurch Hunderte von neuen Minderheiten produziert wurden. Andererseits kommt in den beiden Begriffen eine tiefer verwurzelte Ebene zum Ausdruck, in der Frage nach der ethnisch-kulturellen Basis der Identitäten von Minderheiten und Mehrheiten, von Ethnien und Nationen. Eine weitgehend unbedachte Voraussetzung der Idee des Nationalstaates war die Annahme einer ethnisch-homogenen Basis der Nation, d.h. die Behauptung der Identität von Ethnie und Nation.

Ethien, Völker oder Staatsnationen erscheinen als Mehrheiten oder Minderheiten quasi wertneutral »im demographischen Kleid«. Staaten wollen brave Steuerzahler und folgsame einheitliche »Bürger« (gestern noch Untertanen) haben, die sich in erster Linie als Teil des staatlichen Gemeinwesens definieren. Abweichungen von der Norm sind unerwünscht. Seitens der Staatsklassen wurde über Jahrzehnte der Versuch gemacht, Anderes gleichzumachen und Fremdes zu assimilieren. Anpassung an den jeweiligen »Nationalcharakter« war gefordert. Majoritäre Ethnizität erhielt die Weihe des Nationalen. Minoritäre Ethnizität bzw. das Ethnische schlechthin wurde im politischen Diskurs vorwiegend negativ besetzt, mit Konnotationen wie primitiv, rückständig oder irrational. Das Ethnische und Fremdkulturelle sollte »absterben«. Entgegen den Prognosen der Politik- und Sozialwissenschaften über die Entwicklung moderner Gesellschaften hat Ethnizität in den letzten Jahrzehnten keineswegs an Bedeutung verloren.

Ethnizität und Identität

Das Gegenteil trat ein: Die Bedeutung und Politisierung des Ethnisch-Kulturellen hat sich in Gewaltkonflikten, zivilen Auseinandersetzungen, gesellschaftlichen Aus- und Abgrenzungen bis hin zu Statusfragen verstärkt. Kulturelle Besonderheiten wurden zu identitätsstiftenden Emblemen von Minderheiten. Ethnizität ist in diesem Beitrag die Bezeichnung für eine Vielzahl von Mobilisierungsformen, die letztlich auf die autonome Existenz spezifisch ethnischer Formen der Vergesellschaftung Bezug nehmen und diese politisieren. Kämpfe sozialer Klassen und ethnischer Gruppen lassen sich dabei nicht sauber trennen; bisweilen entspricht die Klassengrenze der ethnischen, oft überschneiden sich die beiden.

Die Bildung ethnisch-kultureller Identität kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern ist das nicht zwangsläufige oder automatische Resultat von Interaktionsprozessen innerhalb einer ethnisch-kulturellen Gruppe, zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und zwischen Ethnie(en) und Staat(en). Von diesen drei Konfliktbereichen wird oft nur der zweite interethnische Bereich beachtet, meist in der Form von Minderheitenkonflikten im Norden und angeblich tribalistischen Konflikten im Süden. Gerade das für den Ethno-Nationalismus signifikante konfliktuelle Verhältnis zwischen Ethnien und Staat(en) wird hingegen vernachlässigt. Ethnische Identität kann z.B. als das Bewußtsein kultureller Eigenständigkeit oder Andersartigkeit interpretiert werden. Dieses kollektive Bewußtsein ist nicht der naturwüchsige Reflex objektiver kultureller Kennzeichen und auch nicht eine Sache »freier Wahl«; es steht aber immer in einem konfliktuellen Zusammenhang.

Die im Zusammenhang mit ethno-nationalen Konflikten oft gebrauchten Begriffe Minderheit vs. Mehrheit sind erklärungsbedürftig. Charakteristika, die eine nationale Minderheit als ethnische Gruppe oder ein indigenes Volk zu einer Nation ohne eigenen Staat machen, bleiben aus machtpolitischen Gründen umstritten. Festlegungen gewinnen heute an politischer Relevanz. Das Verhältnis von nationalen Minderheiten und Staaten kann nicht mehr ausschließlich als innere Angelegenheit deklariert werden, sondern ist vermehrt Teil der internationalen Beziehungen.

Zum Begriff der nationalen Minderheit

Der Begriff der Minderheit und die Realität, in der Minderheiten geschaffen werden und leben müssen, weist eine Vielzahl von Facetten auf, die oft kaum berücksichtigt werden. Diese Bezeichnung ist relativ jung und erst seit den zwanziger Jahren gebräuchlich. Minderheit ersetzte den älteren Begriff der Nationalität und betont einseitig die Beziehung zum Staat. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint, daß der Begriff der Minderheit grundsätzlich askriptiver Natur ist:

  • In der Regel wird staatlicherseits definiert, was eine Minderheit ausmacht und auf welchen Personenkreis der Begriff anwendbar ist. Der Staatsapparat ist dominiert von oder im Besitz einer angebbaren ethnischen Gruppe, die sich selbst als Mehrheit definiert, was bisweilen demographisch gesehen nicht zutrifft. (So sind die Malaien in Malaysia keine demographische, sondern eine politische Mehrheit; dasselbe gilt für die Russen in der ehemaligen UdSSR sowie für die Abessinier – Amharen, Tigrai – in Äthiopien.) Der Begriff der Mehrheit ist politisch-territorialer Natur; für sein »Gegenstück« gilt dies ebenso.
  • Minderheiten sind in aller Regel die Mehrheit in den von ihnen bewohnten oder beanspruchten Gebieten. Der Staat versucht oft, solche sog. Minderheiten in ihren Gebieten durch Ansiedlung von Angehörigen des Staatsvolkes zu majorisieren. (Zu größeren Umsiedlungsaktionen kam es in Indonesien, in Äthiopien unter Mengistu und in Bangla Desh).
  • Oft gibt es kein demographisch mehrheitsfähiges Staatsvolk. Nationale Zensen und demographische Statistiken stellen (für alle Akteure) nur ein weiteres Kampfgebiet dar. Statistiken werden üblicherweise nach politischen Vorgaben ausgerichtet.
  • In Extremfällen ist die als Minderheit apostrophierte ethnische Gruppe nur machtmäßig gesehen eine politische Minderheit, stellt aber die demographische Mehrheit (z. B. die Oromo in Äthiopien oder die Maya-Völker in Guatemala. Alle Minderheiten Burmas stellen zusammengenommen die demographische Mehrheit).

Der Begriff der Minderheit ist auch aus einer Serie von »internen« Gründen erklärungsbedürftig. Viele Nationalitäten, welche sich in ihren historischen Rechten von den (neuen) Staaten eingeschränkt sehen, bedrängt, bedroht oder verfolgt werden, verstehen sich selbst nicht als Minderheit. Sie teilen die sozialpsychologischen Charakteristika von Minderheiten nicht; einige pflegen im Gegenteil einen selbstbewußten Nationalismus:

  • Nationalen Minderheiten, die von der dominanten ethno-nationalen Gruppe meist als untergeordnete Segmente komplexer(er) Staatsgesellschaften angesehen werden, erhalten spezielle phänotypische und kulturelle »Eigenheiten« zugeschrieben. Solche »Merkmale« werden von der so bezeichneten Gruppe i.d.R. als befremdlich oder kränkend empfunden. Angehörige solcher Minderheiten fühlen sich von den dominanten Segmenten der Staatsgesellschaften verachtet (z.B. Elemente des Gegensatzes Indios/Latinos in Lateinamerika), mißbraucht und politisch benutzt.
  • Mitgliedschaft in ethnischen Minderheiten beruht gleichwohl auf Deszendenz (reale oder konstruierte Abstammung), deren kohäsive Kräfte nachfolgende Generationen zusammenhalten (z.B. bei den Indianern Nordamerikas oder den Roma in Europa), selbst dann, wenn spezifische phänotypische oder kulturelle Eigenheiten für Außenstehende nicht bemerkbar sind oder sich objektiv verlieren (wie z.B. bei den Nachgeborenen von Arbeitsmigranten in den nördlichen Metropolen).
  • Minderheiten teilen mit vielen traditionalen und indigenen Gesellschaften die Tendenz oder Verpflichtung auf Endogamie, haben wenig oder keinen politischen Einfluß und werden marginalisiert (z.B. als billige Arbeitskräfte in bestimmten Sektoren).
  • Traditional oder tribal strukturierte minoritäre Gesellschaften unterscheiden und reproduzieren sich aufgrund ihrer Nichtintegration (oder Teilintegration) in die Marktökonomien; sie entwickeln eine Vielfalt von autonomen, selbstversorgenden Produktionsweisen (am deutlichsten bei Nomaden- oder Wildbeutergesellschaften).

Das Begriffspaar der nationalen Minderheit hat sich im Diskurs zur Minderheitenfrage und in der zwischenstaatlichen Politik in den letzten Jahren vermehrt durchgesetzt. Einerseits ist dies eine Folge der vermehrten Aufmerksamkeit, die sich in Europa nach dem Kalten Krieg auf die konfliktive Minderheitenfrage richtete, wobei die Minderheitenfrage immer eng mit der Frage der Menschenrechte verbunden ist. Andererseits bedeutet die plötzliche Konjunktur für diese Begriffskombination, daß eine Art Kompromißformel gefunden wurde, welche den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost- und Westeuropa überbrücken bzw. vereinheitlichen sollte. Die OSZE richtete ein Hochkommissariat für Nationale Minderheiten ein (vgl. Scherrer, 1996, S. 218-257).

Das Ethnische an nationalen Minderheiten

Der grundlegende Begriff des Ethnischen ist nicht klar definiert und wird in der Ethnologie in gewissen Grenzen kontrovers aufgefaßt. Die Vielfalt der von den verschiedenen ethnologischen Schulen angebotenen Zuordnungen ist groß; eine Kombination der eingängigen Verortungen ist aber aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und Standards kaum möglich. Die am häufigsten angeführten Nennungen sind gemeinsame Abstammung, Rasse, gleiche Kultur, Religion, Klasse und Sprache(vgl. auch Zimmermann, 1992). Davon sind die drei Nennungen Rasse, Klasse und Religion nicht sinnvoll:

Die ethnische Form der Vergesellschaftung ist von derjenigen der sozialen Klassen zu unterscheiden. Deren Bereiche und Grenzen sind zwar oft deckungsgleich (Klassentrennung entlang ethnischer Linien), können sich in komplexeren Gesellschaften aber auch überschneiden oder – wie in egalitären Gesellschaften – ausschließen. Rasse oder Religion als Kriterien sind gänzlich abzulehnen: Rasse ist als Kategorie schwer belastet; europäische Rassentheorien waren integraler Teil kolonialer Rechtfertigungsideologien. Mit Religion ist ein Teilbereich der ideologischen Superstruktur gemeint; im Rahmen der Kolonialexpansion bedeutet die Durchsetzung einer bestimmten, dort fremden Religion in den meisten Fällen eine Implikation bzw. ein Resultat der kolonialen Unterwerfung.

Wenn von Attributen einer ethnischen Gemeinschaft die Rede ist, denken die meisten Menschen zuerst an Religion. Dies scheint erstaunlich angesichts des empirischen Tatbestandes, wonach importierte (Kolonial-) Religionen und synkretistische Varianten bei den weltweit zwischen 2500 und 6500 Ethnien weit häufiger und/oder dominanter sind als indigene Religionen. Religion ist für Huntington das primäre Kriterium zur Definition dessen, was er unter Zivilisation versteht (Huntington, 1996). Religion kann in der Tat kein ethnisches Merkmal sein, sondern ist – bis zur Moderne – eher ein Merkmal des Staates bzw. seiner Formation innerhalb eines zivilisatorischen Rahmens.

Welche Attribute definieren eine ethnische Gemeinschaft?

Einer unter mehreren möglichen Zugängen zum Thema berücksichtigt Attribute, die auf Bündeln von »Besonderheiten« einer bestimmten Gruppe basieren, welche als »ethnische Merkmale« verstanden werden. Solche Attribute sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant. Oft werden sie erst in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Die Attribute einer ethnischen Gemeinschaft stehen im Rahmen der Ethnologie als Disziplin nicht fest. Es gibt jedoch einen tendenziellen Konsens zumindest bei wenigen Merkmalen. Aus meiner Sicht betreffen diese Merkmale minimal:

1. eine historisch gewachsene oder wiederentdeckte Gemeinschaft von Menschen, welche sich größtenteils selbst reproduziert,

2. einen eigenen Namen, der oft nichts anderes als »Mensch« bedeutet,

3. eine spezifische, andersartige Kultur, insbesondere eine eigene Sprache, bestimmte Vorstellungen vom Verhältnis zur Natur und zur Welt (Kosmologie),

4. ein kollektives (ethnisches) Gedächtnis oder geschichtliche Erinnerung, einschließlich seiner Mythen (Gründermythen gemeinsamer Abstammung), und

5. Solidarität unter den Mitgliedern, was ein Wir-Gefühl vermittelt.

Diese Attribute stellen keine feststehende Check-Liste dar, wohl aber eine Annäherung an das Prinzip des Ethnisch-Kulturellen, dessen Elemente noch hinterfragt, im konkreten Fall spezifiziert und gegen jene der Nation und Zivilisation abgegrenzt werden sollen.1

Hypothesen und theoretische Vorentscheidungen

Ethnische Zugehörigkeit wird aus der Sicht der Betroffenen (emisch) im Regelfall mitnichten als ideologisch produziert aufgefaßt. Sie ist aber andererseits nicht ein quasi organischer Prozeß, vermittelt durch die spezifische Sozialisation als Angehörige(r) einer distinkten sozialen Gruppe. Umgekehrt zur Hypothese der ideologischen Konstruktion oder gar der »Erfindung«2 sprechen einige Autoren von einer Zugehörigkeit aufgrund von traditionaler ethnischer Solidarität, die sich auf Gruppen mit langer geschichtlicher Kontinuität, hoher Kohärenz und sozialer Kohäsion wie z.B. Clans und andere tribale Einheiten bezieht, und welche eine fast naturwüchsige Form ethnischer Solidarität darstelle.

Die Hypothesen zum Thema liegen also ungewöhnlich weit auseinander. Vorerst ist es heuristisch unabdingbar, das Referenzsystem anzugeben und die theoretischen Axiome zu bezeichnen. Aussagen über Gruppenzugehörigkeit und persönliche Identität können je nach den Referenzbedingungen und dem geschichtlichen Kontext unterschiedlich ausfallen. Die ethnische und soziokulturelle Identität eines Individuums variiert:

  • je nach Standort bzw. Standpunkt des Beobachters;
  • Fremdzuordnung und Eigenidentifikation können u.U. sehr verschieden sein;
  • Konfliktsituationen können radikale Veränderungen bewirken.

In der Situation der Bedrohung können einzelne Elemente persönlicher und kollektiver Identität überhöht werden bzw. an Einfluß verlieren. Dabei spielt sowohl die Instrumentalisierung von Mechanismen der Abgrenzung durch die Politik (im Sinne einer Ausgrenzung) eine Rolle, als auch der Rückgriff auf – im Rahmen friedlicher Koexistenz – gesellschaftlich unbewußte Elemente von Gruppenidentität. Identität konstituiert sich über Abgrenzungsprozesse, die nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfinden und deren Modalitäten nicht frei und eigenständig bestimmbar sind. Abstrakte Verschiedenheit von Anderen ist unproblematisch; die Erfahrung konkreter Bedrohung durch Andere bzw. die Konstruktion eines Überlegenheitsgefühls gegenüber Anderen sind dagegen Resultate von Ausgrenzungs- und Polarisationsprozessen.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Aus emischer Sicht ist eine Form gemeinsamer Abstammung zentral. Daß es sich nicht um faktische Abstammung handeln muß, sondern i.d.R. um eine putativ-mythische oder »fiktive«, wird oft übersehen. Weitere zentrale Elemente, welche über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe bestimmen, wie die Reproduktionsfähigkeit als Gruppe, gemeinsame kulturelle Konfigurationen und ein sogenanntes Wir-Gefühl, welches Gruppensolidarität impliziert, mögen als zu allgemein gesehen werden, um im Endeffekt präzise empirische Befunde über die ethnische Dimension politischer Vorgänge in einer Konfliktsituation zu ermöglichen. Die nachhaltige Beschädigung zentraler Elemente von außen (oder innen) ruft aber in jedem Einzelfall bestimmte Formen des Widerstandes hervor, die vom Rückzug bis zum bewaffneten Aufstand reichen.

Die Aufrechterhaltung ethnischer Grenzen – und damit die Abgrenzbarkeit der Ethnien – ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, trotzdem scheinen viele Ethnologen und Soziologen solchermaßen definierte Völker als eine Art »Inseln für sich« zu betrachten, die zwecks Beschreibung isoliert, willkürlich aus ihrem sozialen Zusammenhang und ihrem inter-ethnischen Kommunikationsraum herausgenommen werden. Das Überbetonen einzelner Elemente, wie die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Kultur oder die soziale Dimension, welche ethnische Gruppen als eine bestimmte Form sozialer Organisation sieht, erscheint problematisch. Nach Barth ist das als zentral angesehene Attribut einer gemeinsamen Kultur eher Implikation.3 Kultur wird oft in fetischisierter Form zur Postulierung einer abstrakten Einheit politisch von oben verordnet und zwecks »nationaler Eindeutigkeit« mißbraucht.4

Eigene Sicht und Fremdidentifikation

Relevant ist die Frage nach der Art und Form der kollektiven und individuellen Wahrnehmung. Von Relevanz sind dabei die Unterscheidungen in Selbst- bzw. Fremd-Identifikation und die Innen/Außen-Perspektive. Nicht nur objektive kulturelle Unterschiede (Differenzen an sich) sind demnach in vielen Fällen zur Identifikation einer bestimmten Gemeinschaft relevant, sondern jene kulturellen Ausdrucksformen, die von den Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft selbst als signifikant angesehen werden.

Der Signifikanz bezüglich ethnischer Andersartigkeit, die gewissen Unterscheidungsmerkmalen seitens einer bestimmten Gruppe und ihrer Nachbarn zugeschrieben wird, entsprechen oft keine oder ungenügende, »objektiv« von außen feststellbare Differenzen. Diese für Außenstehende nur nuancenhaft verschiedenen Expressionen werden von den Mitgliedern als interne Signale für ethnische Grenzziehungen bzw. als Embleme kultureller Differenz benutzt, während wiederum andere Merkmale in ihrer Bedeutung für die Akteure – aber nicht unbedingt für den Beobachter – zweitrangig erscheinen. Gerade unter den Bedingungen repressiver Diskriminierung sind jedoch auch Fälle der Übernahme von Fremdzuweisungen bekannt, allerdings unter Auswahl bestimmter Elemente oder in modifizierter Form. Die Überbetonung der Fremdzuweisung bei der »Definition« der Ethnie(n), oft mit Kritik am kolonialen social engineering verbunden, läuft Gefahr, den Gegenstand selbst zu negieren. Das Phänomen langer geschichtlicher Kontinuität der Ethnien und ihre (trotz Dynamik und Wandelbarkeit) bemerkenswerte Kohärenz und soziale Kohäsion kann auf diese Weise nicht erklärt werden.

Über welche Symbole und in welcher Intensität ethnische Differenz inszeniert wird, bzw. innere Kohäsion und Abgrenzung gegen außen geschaffen wird, ist variabel; dies ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie dem sozialen und politischen Umfeld, der Art und Weise der Interaktion auf drei Ebenen (innerethnisch, interethnisch, gegenüber dem Staat) und dem Grad der eingebildeten oder realen Bedrohung. Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft bleibt nicht unbeeinflußt von gegenwärtigen Umständen und anhaltenden Bedrohungen. Bezüglich historischer Erinnerungen interethnischer Beziehungen kann dies zu einem kritischen Faktor werden. Bei der Frage der Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sollte aber berücksichtigt bleiben, daß wichtige Inhalte auf generativen Erfahrungen beruhen, die sich nicht problemlos umdeuten lassen.

Die Gewichtung verschiedener Embleme oder Symbole verschiebt sich in der Zeit. Aus dem Arsenal kultureller Symbole werden einige ausgewählt, um die Differenz von »Wir-Gruppe« und Fremdgruppe(n) zu markieren. Die Medien solcher Abgrenzungsprozesse können je nach (Bedrohungs-) Situation andere sein. Welches Emblem aufgegriffen wird, hängt keineswegs nur von den Interessen ethnischer Eliten ab. Die Existenz ethnischer Eliten als gegeben vorauszusetzen, ist oftmals schon eine ideologische Annahme. In vielen Fällen (z.B. bei akephalen und egalitären Gesellschaften) bestehen gar keine Eliten. Die Betonung der Eliten führt generell zu einer Vernachlässigung der dynamischen Beziehung von Eliten und Massen.

Von der nationalen Minderheit zur Nation ohne Staat

Eine nationale Minderheit kann innerhalb des Rahmens sozio-politischer und völkerrechtlich relevanter Kategorisierung als eine Nationalität verstanden werden. Diese Begriffsverschiebung ist als Ergebnis eines politischen Prozesses zu sehen, der in den meisten Fällen konfliktiv verlief. Machtfaktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle.5 Analysen, die gesellschaftliche Bewertungen, Adäquanz und Machtfragen außer Acht lassen, genügen nicht. Der Eroberungs- und Dominanzaspekt ist von zentraler Bedeutung. Dieser konstitutive Aspekt wurde bei der Ausarbeitung neuer Instrumente des Internationalen Rechts zum Schutz indigener und bedrohter Völker anerkannt (Un-CHR, 1993).

Ethnisch-kulturellen Gruppen, die sich nicht zur Nation(alität) umbilden, droht unter den realen, feindlichen Bedingungen der internen oder externen Kolonisation die Vernichtung als eigenständige Einheiten. Eine aufgrund äußeren Drucks seitens der Mehrheit umgebildete, kohäsive, nicht-dominante ethnische Gruppe kann als Nationalität bezeichnet werden, wenn sie trotz der Dominanz- und Souveränitätsansprüche von außen 1. einen Kommunikations- und Interaktionsraum darstellt, d.h. eine eigene Öffentlichkeit zu konstituieren bzw. zu erhalten vermag,

  • über eine mit ihr identifizierbare besondere Produktions- und Lebensweise verfügt und zu reproduzieren vermag,
  • eine wie immer geartete politische Organisation entwickelt,
  • ein angebbares Gebiet bzw. ein begrenztes Territorium besiedelt (bzw. zu verteidigen vermag), und
  • unverwechselbar ist, da ihre Mitglieder sich selbst als solche identifizieren bzw. durch andere einer bestimmten Gemeinschaft zugeordnet werden.

Meine Begriffsbestimmung zu nationaler Minderheit als Ethnie bzw. Nationalität enthält somit insgesamt zehn Kriterien bzw. Charakteristiken.6 Ethnische Merkmale sind nur im Rahmen interethnischer Beziehungen relevant und werden in Konfliktsituationen zu einem zentralen Feld der Wahrnehmung. Bestimmte sozio-kulturelle Praktiken können gänzlich unwichtig sein, in einer anderen Umgebung aber plötzlich extrem wichtig werden. Auch Hautfarbe, Statur, Physiognomie oder andere phänotypische Eigenschaften sind in vielen Gesellschaften der Dritten Welt (für sie selbst) von untergeordneter Bedeutung, in westlichen Gesellschaften gehören physische Charakteristiken aber zu den zentralen Unterscheidungsmerkmalen, sowohl zu Hause gegenüber Migranten und Flüchtlingen, wie in der Fremde, z.B. am Urlaubsort.

Eine ethnisch-nationale Gemeinschaft, welche über einige zentrale oder alle diese Attribute verfügt, entwickelt eine bestimmte unverwechselbare Kollektividentität; sie könnte im politischen Kampf das völkerrechtliche Prinzip der Selbstbestimmung beanspruchen. Dies impliziert keineswegs ein Recht auf Sezession, das von der Staatengemeinschaft nie anerkannt würde. Die Schaffung neuer Staaten folgt nach politischer Opportunität. Das Völkerrecht spricht von »Völkern«, meint jedoch Staaten; die meisten Staaten sind Vielvölkerstaaten. In der politisch-rechtlichen Praxis wird das Selbstbestimmungsrecht, selbst in der Form interner Selbstverwaltung, nicht respektiert und umgesetzt, weil die meisten Völker in der Regel nicht als solche anerkannt werden, sondern als nationale Minderheiten. Die Rechtsbasis dazu wären die Menschenrechte, die in aller Regel Rechte des Individuums sind. Folglich befinden sich die Rechte ethno-nationaler Gemeinschaften in einer prekären »Grauzone« zwischen kollektivem Völkerrecht und individuellen Menschenrechten.

Literatur

Anderson, Benedikt (1988);: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt a/M.

Barth, Frederik (Ed.) (1969): Ethnic groups and boundaries. Boston.

Burger, Julian (1987): Report from the frontier. The state of the world's indigenous peoples. London.

Elwert, Georg/Waldmann, Peter (Eds.) (1989): Ethnizität im Wandel. Saarbrücken.

Galtung, Johan (1996): Peace by peaceful means. Peace and conflict, development and civilization. London.

Gurr, Ted Robert (1993): Minorities at risk. A global view of ethnopolitical conflict. Washington.

Heinz, Marco (1993): Ethnizität und ethnische Identität. Eine Begriffsgeschichte. Bonn.

Horowitz, Donald L.(1985): Ethnic groups in conflict. Berkeley, Los Angeles.

Huntington, Samuel P. (1996): Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). München/Wien.

Ryan, Stephen (1990): Ethnic conflict and international relations. Aldershot.

Scherrer, Christian P. (1997): Ethno-Nationalismus: Ursachen, Strukturmerkmale und Dynamik ethnischer Gewaltkonflikte. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 2. Münster, i. E.

Scherrer, Christian P. (1996): Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Prävention, Konfliktbearbeitung und die Rolle der internationalen Gemeinschaft. Handbuch zu Ethnizität und Staat, Band 1. Münster.

Tibi, Bassam (1995): Krieg der Zivilisationen. Hamburg.

UN-CHR (1993): Universelle Deklaration der Rechte indigener Völker. E/CN.4/Sub.2/ 1993/26.

Zimmermann, Klaus (1992): Sprachkontakt, ethnische Identität und Identitätsbeschädigung. Frankfurt a/M.

Anmerkungen

1) Ethnische Gemeinschaften mögen „vorgestellte“ (Andersons imagined communities) sein, diese Vorstellung ist bedeutend konkreter und faßbarer als jene der Nation oder Zivilisation. Kulturen sind immer lokal, Zivilisationen regional (Tibi 1995, S. 11), verbunden durch Kosmologien (Galtung 1996, S. 211-222, 253ff.). Die Gleichsetzung von Kultur mit Zivilisation ist völlig unzuläßig (Huntington 1996, S. 14). Zurück

2) Im Anschluß an Anderson wurden alle möglichen Formen sozialer und politischer Organisation als Erfindung bezeichnet, so auch die Ethnie (vgl. Elwert 1989, S. 26). Zurück

3) Barth (Ed.) (1969), S. 11. Eine gemeinsame Kultur wäre also nicht eine primäre, definitive Charakteristik einer ethnischen Gruppe, weil dies (seiner Meinung nach) die zeitliche Kontinuität (von der wir ausgehen) und die formbestimmenden Faktoren ethnischer Gruppen einschränken würde. Zurück

4) Politische Folklore unterdrückt jedes Element von latent multipler Zugehörigkeit, löst Volkskultur aus ihrem sozialen Zusammenhang und überhöht die „eigene Kulturleistung“. Die Kritik einer materialistischen Kulturwissenschaft am „Fetisch Kultur“ analysiert die Strukturen der Kommunikation, Formen des gesellschaftlichen Habitus, Fragen nach Rhetorik und Oralität, Sprachgebrauch, Gemeinschaftsrituale, geschlechtspezifische Rollen sowie äußere Symbole (religiöse und politische). Zurück

5) Burgers Definition indigener Völker (1987, S. 9) berücksichtigt den Eroberungs- und Dominanzaspekt, macht jedoch unnötige Einschränkungen wie Nomadismus, Akephalität, „different world-view“. Zurück

6) Der Definitionsversuch stellt eine Verbindung von etwa je zur Hälfte subjektiven und objektiven Merkmalen dar. Die Streitfrage ist bei einigen dieser Nennungen, ob sie als »objektive Merkmale« bezeichnet werden sollen. Zumindest die Namengebung, einige kulturelle Aspekte (Sprache z.B.), die Assoziation mit einem Territorium als Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet, die Produktionsweise und der Grad der politischen Organisiertheit können als objektive, empirisch überprüfbare Merkmale gelten. Zurück

Dr. Christian P. Scherrer ist Ethnosoziologe und Konfliktforscher; Mitarbeiter am Institut für Ethnizitätsforschung und Konfliktbearbeitung (IFEK),Moers; Leiter des Ethnic Conflicts Research Project (ECOR).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/1 Neben-einander – Gegen-einander – Mit-einander, Seite