„Mich haben Probleme interessiert…“
Verleihung des Göttinger Friedenspreises 2012, 10. März 2012, Göttingen
von Jürgen Nieth
Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer hat den Göttinger Friedenspreis 2012 erhalten. Er wurde ihm verliehen „in Anerkennung seiner jahrzehntelangen Arbeit auf den Gebieten der ethnisch-kulturellen Gewaltforschung, insbesondere für die einschlägigen Studien zum Rechtsextremismus, die fundierten Analysen zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie für den umfassenden Forschungsansatz gesellschaftlicher und personaler Prozesse von Ausgrenzung und Desintegration“.
In der Begründung der Jury heißt es:
„1996 gründete Heitmeyer das »Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung« (IKG) an der Universität Bielefeld, das er seither leitet. Das vor allem aus Sozialpsychologen, Politik- und Kulturwissenschaftlern, Soziologen und Historikern zusammengesetzte Team des IKG ist heute ein in der deutschen Öffentlichkeit und Politik ernst genommener Seismograph kritischer Tendenzen in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben.
Besonders verdienstvoll ist es Heitmeyer und seinen Kolleginnen und Kollegen mit dem empirischen Langzeitprojekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) gelungen, die Aufmerksamkeit auf die Analyse von Einstellungen und Verhalten gegenüber schwachen Gruppen zu lenken. Mit der Publikation »Deutsche Zustände Folge 10« werden gegenwärtig einige alarmierende Ergebnisse dieser zehnjährigen Forschungsarbeit präsentiert und Ursachen und Konsequenzen der Abwertung und Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten wie Zuwanderer, Juden, Muslime, aber auch Langzeitarbeitslose oder Asylbewerber in den Fokus gerückt.
Die radikale Ökonomisierung der Sozialbeziehungen stellt die Gleichwertigkeit von Menschen (-gruppen) und ihre psychische und physische Integrität in Frage. Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zu einer neuen Normalität geworden und produzieren unter anderem in Form »roher Bürgerlichkeit« massive Tendenzen einer Entsolidarisierung und Entwertung gegenüber den vorgeblich »Nutzlosen«. Fundamentale Säulen der Rechtsstaatlichkeit wie der Gleichheitsgrundsatz stehen auf dem Spiel. Ängste vor Privilegienverlust verstärken eine in den vergangenen Jahren bedrohlich gewachsene Islamfeindlichkeit, fördern neue Varianten des Antisemitismus, bilden einen gefährlichen Nährboden für rechtspopulistische Mobilisierungen – nicht nur in Deutschland.
Diese von Wilhelm Heitmeyer und anderen beschriebenen Tendenzen einer »Demokratieentleerung« durch den Verlust menschenrechtlicher Normen sind tendenziell friedensgefährdend. Die Gewalteinbrüche innerhalb unserer Gesellschaften, wie wir sie in Deutschland jüngst am bestürzenden Beispiel der rechtsextremistischen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« erlebt haben, geben Anlass zu ernster Besorgnis. Staatliche Ignoranz oder Verharmlosung sind dazu angetan, die großen Gefahren einer weiterreichenden Desintegration und Renationalisierung, wie sie in der Krise der EU sichtbar werden, zu unterschätzen oder sogar zu befördern.“
In seiner Laudatio hob der Migrationsforscher und Publizist Prof. Dr. Klaus J. Bade u.a. hervor, dass Wilhelm Heitmeyer trotz seines Ruhmes geblieben ist, was er immer war: ein intellektuell bescheidener, wissenschaftlicher Querdenker mit hohem gesellschaftskritischem Engagement.
Er untermauerte es mit Botschaften Heitmeyers. „Teilnehmende Beobachtung ist gut, Kontrollfragen sind besser. Also kündigte ich Wilhelm Heitmeyer an, dass ich zu seiner Laudatio verurteilt sei und fragte ihn indirekt nach einer ganzheitlichen Selbsteinschätzung.
Ich bin indiskret genug, Ihnen einige seiner Botschaften mitzuteilen […]
Botschaft 1 – zur intellektuellen Bescheidenheit des Probanden:
‚Leider habe ich keine ausführliche Literaturliste, da ich keine geführt habe‘, schrieb mir Wilhelm Heitmeyer. ‚Das liegt u.a. daran, dass ich ein Vertreter der offline-Bewegung bin und deshalb auch noch nie privat oder dienstlich einen Computer hatte.‘
Das macht staunen, denn zur wissenschaftlichen und publizistischen Biographie von Wilhelm Heitmeyer gibt es, wie wir gleich sehen werden, wahrhaftig einiges zu sagen. Wie also kommt der Mann zu seiner Flut von Texten? Er kann doch nicht alles auf Bielefelder Tontafeln geritzt haben. Aber Betriebsgeheimnisse müssen sein. […]
Botschaft 2 – betreffend den wissenschaftlichen Querdenker:
‚Wenn Sie mich nach meiner disziplinären wissenschaftlichen Verortung fragen, dann muss ich passen‘, schrieb mir Wilhelm Heitmeyer. ‚Mich haben Probleme interessiert – und dann habe ich nach Theorien gesucht, auch hinsichtlich der Methoden. Deshalb liege ich bei meinen wissenschaftlichen Verortungen, trotz der Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, doch meist irgendwie »quer«. Das hat eben so viele Vorteile wie Nachteile. Ein wichtiger Vorteil besteht darin, interdisziplinäre Ansätze zu verfolgen. Karriereförderlich ist das vor allem für die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bis heute nicht. Aber es muss sein, koste es was es wolle.‘
Da haben wir ihn, den erfrischend kantigen wissenschaftlichen Querdenker, mitunter auch Querkopf Wilhelm Heitmeyer.
Botschaft 3 – zum gesellschaftskritischen Engagement:
Wilhelm Heitmeyers Selbstbeschreibung endete mit den Bekennerworten: ‚Letztlich: Wenn es nicht gelingt, dass Wissenschaft eine gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, dann sollte sie – verschärft benannt – abgeschafft werden.‘
Ganz ähnlich schreibt er über seine »Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft« […]
Der Querdenker Wilhelm Heitmeyer ist oft missverstanden worden: Weil er sich mit seinem Team und einer großen Zahl von Kollegen der anhaltenden Beobachtung der bedrohlichen Seiten gesellschaftlicher Entwicklung in Deutschland und im internationalen Vergleich verschrieben hat, galt er manchen Freunden des Guten und Schönen als eine Art Fürst der Finsternis […] [Tatsächlich hat sich Wilhelm Heitmeyer] in seiner Arbeit weniger auf die Licht- als auf die Schattenseiten von Kultur- und Sozialprozessen konzentriert. Er glaubt, dass der affirmative Blick auf das erstrebenswerte Gute und Schöne nicht genügt, um in der unter Modernisierungsdruck stehenden postindustriellen Gesellschaft kulturelle Toleranz und sozialen Frieden zu erhalten. Gefahrenabwehr aber funktioniert nur, wenn man die Gefahren kennt und die Konjunkturen der Gefährdung dauerhaft im Blick behält, nämlich insbesondere: kulturelle Intoleranz und soziale Nichtakzeptanz, Abwertung, Entsolidarisierung, Konflikt und Gewalt.“
Klaus J. Bade ging dann auf die Schwerpunkte der Arbeit Heitmeyers in den letzten zehn Jahren und besonders auf das empirische Langzeitprojekt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« ein, das 2002 startete mit einem „Syndrom aus sechs Beobachtungsbereichen: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus“.
Er verwies dann darauf, die „zunehmende soziale Spaltung könnte in soziale Spannung umschlagen. Oben wächst die Abschottung nach unten. In der Mitte wächst die Angst vor Statusverlust und unten die Aggressivität, die aus der Frustration und Perspektivlosigkeit der Abgehängten kommt. Keine guten Aussichten für ein solidarisches Miteinander in dem ohnehin anstrengenden Kultur- und Sozialprozess, den man Einwanderungsgesellschaft nennt.
Das ist kein Grund, hysterisch zu reagieren, zumal es im Konzert der Bielefelder Umfragewerte durchaus auch hellere Töne gibt, die die dunklen etwas relativieren. Aber die Bestandsaufnahme ist ernst genug.
Wenn man dieses Gefahrenpotential beobachtbar halten will, sollte man das weltweit einzigartige, zehn Jahre lang erfolgreich betriebene und nun mangels weiterer Förderungsquellen stillgelegte Bielefelder Beobachtungsinstrument als gesellschaftspolitisches Frühwarnsystem wieder in Gang bringen – in der bewährten oder sogar in einer erweiterten Form.
Hoffen wir, dass der verdiente Preis als ein Signal dazu verstanden werden möge.“
Der Preisträger teilte mit, dass das Bielefelder Institut inzwischen auch in El Salvador, in einer der gewalttätigsten Gesellschaften der Welt, arbeitet. Daher stiftet er das Preisgeld als kleinen Beitrag für ein Präventionsprojekt in San Salvador.
Die Rede des Preisträgers bei der Feierveranstaltung ist in dieser Ausgabe von W&F dokumentiert.
Jürgen Nieth