W&F 2002/2

Militarisierung der Außenpolitik?

Zur zukünftigen internationalen Rolle der Bundesrepublik

von Friedens- und KonfliktforscherInnen

Persönlichkeiten aus der Friedensforschung und der Politik haben sich mit folgenden »12 Thesen über falsche und richtige Zielpunkte für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik« an die Öffentlichkeit gewandt und eine Diskussion eingefordert.
Mit der Entscheidung des Deutschen Bundestags am 16. November 2001 über den Einsatz deutscher Streitkräfte im »Krieg gegen den Terror« – der Krieg, der von der US-Administration zur militärischen Durchsetzung und Sicherung langfristiger strategischer Ziele benutzt wird – ist der Weg zu einer neuen deutschen Militärdoktrin geöffnet worden, die eine qualitativ neue globale Rolle der deutschen Außenpolitik und damit der Bundesrepublik Deutschland einleitet:

Indem als ständiges potenzielles Einsatzgebiet der Bundeswehr, insbesondere auch der Bundesmarine, neben dem NATO-Gebiet nicht nur die unmittelbare europäische Randzone, sondern auch der gesamte Raum „arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika, sowie die angrenzenden Seegebiete“ festgelegt wird und dies offensichtlich auch zum Zweck der Absicherung einer profitablen Nutzung von Naturressourcen (Öl) in diesem Raum, reiht sich die Bundesrepublik uneingeschränkt in die westliche Global-Strategie der massiven militärischen Ressourcen-Zugangssicherung ein.

Für die zur Zeit einzige Supermacht USA und für die weiterhin an ihre Geschichte als Kolonialmächte und an ihre globalen Interessen gebundenen europäischen Nuklearmächte mag diese Strategie gegenwärtig als »normale Politik« erscheinen. Die deutsche Außenpolitik verspielt mit einer solchen Militärdoktrin wesentliche Spielräume für deutsche Vermittler- und Brückenfunktionen, die im europäischen und im deutschen Interesse liegen und die angesichts der Gefahren sich zuspitzender Konfrontationen für alle Seiten von wachsender Bedeutung sind.

Die derzeitige internationale Entwicklung ist geprägt durch fortschreitende Aushöhlung und Destruktion der Grundlagen unserer internationalen Ordnung: durch global wachsende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik (zunehmendes Gewicht militärischer Machtprojektion), durch Aushöhlung und Zerstörung von Völkerrecht (z.B. des UN-Gewaltmonopols, des internationalen Kriegsrechts), durch gravierenden Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen. Neoimperiale Tendenzen werden sichtbar.

Die Alternative zu dieser Entwicklung heißt: gemeinsame Sicherheit aus gegenseitigen Dependenzen, organisiert in durch Interessenausgleich ermöglichten Partnerschaften und in regionalen Sicherheitssystemen. Die Bundesrepublik kann diese Alternative entscheidend fördern, wenn sie klar und führend als Zivilmacht erkennbar ist, in und für Europa und weit darüber hinaus.

Eine so definierte Außen- und Sicherheitspolitik erfordert grundsätzliche politische Entscheidungen über ihre Zielpunkte und ihre Prioritäten:

1. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundesrepublik Deutschland darf nicht die »normale Mittelmacht« mit globalem Ehrgeiz sein, wie sie Großbritannien und Frankreich darstellen. Deutschland darf auch nicht wegen Fehlens eines klaren Rollenkonzepts in eine solche »Normale-Mittelmacht«-Rolle hineinschliddern. Eine solche Rolle wird aber inzwischen zunehmend von deutschen politischen Kräften angestrebt.

2. Leitbild für die zukünftige internationale Rolle der Bundeswehr kann deshalb nicht eine Bundeswehr mit globalen Fähigkeiten sein. Mögliche Einsatzgebiete der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs müssen beschränkt werden auf Europa und – unter klar definierten Voraussetzungen – auf die unmittelbaren Randzonen Europas (Mittelmeer einschließlich Mittelmeerküsten). Ausnahme: Beteiligung der Bundeswehr an UN-Blauhelmeinsätzen (weltweit). Die Bundesrepublik benötigt keine global einsatzfähige Hochseeflotte und keine Marineinfanterie für Kampflandungen gegen fremde Küsten. Die gegenwärtige Planung für eine große global-fähige Lufttransportflotte muss wesentlich nach unten korrigiert werden.

3. Die Bundesrepublik Deutschland muss auch allen langfristig möglichen Wegen, die nukleare Teilhabe Deutschlands zu erweitern oder Deutschland sogar auf den Rang einer »normalen« Kernwaffen-Macht zu heben, eindeutig absagen.

4. Von der Geschichte nicht nur des 20.Jahrhunderts, von der zentraleuropäischen Lage und vor allem von den jetzt anstehenden internationalen Sicherheitsproblemen her ist die Kernaufgabe deutscher Außen- und Sicherheitspolitik heute: Aufbau und Stärkung von deutschen, europäischen und außereuropäischen Vermittlungs- und Brückenfunktionen, von zivilen Konfliktlösungspotenzialen.

5. Übergeordneter Zielpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und vorrangiges Einsatzgebiet der Ressourcen deutscher Außenpolitik (das sind Personal, Finanzmittel, Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen, Beratungstätigkeit, Vertrauensbildung) muss – neben der Wahrung unmittelbarer deutscher Interessen – die Errichtung und Unterstützung von regionalen Sicherheitssystemen sein, um die Politik militärischer Interventionen durch einen »Welthegemon« überwinden zu können, also: Aufbau der dafür erforderlichen Institutionen: Rechtsentwicklung, zugehörige internationale politische Rahmenstrukturen, regionale Mediationsinstrumente, zivile Friedensdienste, regionale Gerichtsbarkeit und Sanktionsstrukturen, einschließlich regionaler/internationaler Polizei, Personalaufbau.

6. Die Bundesrepublik sollte ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa, insbesondere in der Europäischen Union, nutzen, um in Europa diejenigen politischen Kräfte und Regierungen zu ermutigen, die bereit sind, dem Aufbau und der Förderung regionaler Sicherheitssysteme Priorität zu geben. Die Anstrengungen für die Errichtung von »Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit« im Mittelmeerraum und im Gebiet Mittlerer Osten/Mittelasien müssen wesentlich verstärkt werden.

7. Die Bundesregierung muss eine breite internationale Initiative für die Revitalisierung und Weiterentwicklung der UNO einleiten, auch damit endlich beschleunigt Wege zu einem auf Dauer gerechteren internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem zugunsten der Dritten Welt beschritten werden können.

8. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss mit allen Kräften der fortschreitenden Aushöhlung und dem Zerfall des Völkerrechts, insbesondere des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen, entgegenwirken. Die Grenze zwischen Krieg und Bekämpfung von internationalem Terrorismus muss erhalten bleiben. Selbstmandatierung darf nicht internationales Gewohnheitsrecht werden. Es kann nicht sein, dass sich die UNO zur Reparatureinrichtung für den durch Militärinterventionen entstandenen Schaden entwickelt.

9. Die Finanzmittel für die zivile Komponente der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wesentlich erhöht werden. Erforderlich ist eine kritische Bestandsaufnahme aller Aktivitäten und Ressourcen. Dazu gehört auch eine transparente Grob-Bilanzierung der finanziellen Kosten-Nutzen-Verhältnisse bei Entwicklung, Aufbau und Einsatz einerseits von zivilen Mitteln (klassische Außenpolitik bis zu Szenarien moderner Konfliktprävention), andererseits von unterschiedlichen militärischen Mitteln (einschließlich Kriegs- und Wiederaufbaukosten). Notwendig ist daran anschließend eine Überprüfung der Reformkonzepte für die Bundeswehr.

10. Betrachtet man den Gesamtaufwand, den die Bundesrepublik heute für Diplomatie, Finanzierung internationaler Institutionen, Kreditfinanzierung von Wiederaufbau, die Entwicklungshilfe und die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen treibt, zeigt sich, dass Deutschland sich stärker als andere vergleichbare Staaten für zivile Stabilitätsförderung engagiert. Diese Tatsache ist unserer politischen Elite nicht hinreichend bewusst. Damit erhöht sich die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik auf einen Kurs steigender Militarisierung der Außenpolitik begibt.

11. Wir brauchen endlich die öffentliche Diskussion über die heute realistischen – zivilen und militärischen – Bedrohungsszenarien, über die als Antwort auf diese Bedrohungen tatsächlich angemessenen und unangemessenen sicherheitspolitischen Konzepte und Instrumente, über ihre möglichen Konsequenzen, über die zu mobilisierenden Ressourcen und über die Entwicklung des Völkerrechts.

12. Diese Diskussion darf nicht absehen von der festen Einbindung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den Rahmen der Europäischen Union, vom Aufbau der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Sie wird auch nicht davon absehen, dass die europäischen Staaten und die USA gegenseitig auf eine immer neu zu definierende partnerschaftliche Kooperation angewiesen sind. Aber die Kernfrage der Debatte lautet für den Bürger der Bundesrepublik: Wofür/wann/wo/unter welchen Bedingungen/auf welcher Rechtsgrundlage sollen deutsche Streitkräfte gegebenenfalls eingesetzt werden? Welche militärischen Fähigkeiten sind in diesem Rahmen notwendig? Was kann und muss der deutsche Beitrag zur zivilen Komponente der Sicherheitspolitik sein? Wenn dieser Debatte weiter ausgewichen wird, werden sicherheitspolitische und politische Schlüsselentscheidungen des Bundestages weiter mit sachfremden Begründungen gefasst werden (letztes Beispiel: Militär-Airbus A400M) mit der Folge eines weiter schrumpfenden Vertrauens der Bürger in das Parlament.

10. Februar 2002

Dr. Patricia Bauer (Mitglied des AFK-Vorstandes, Uni-Osnabrück); Dr. Michael Berndt (Politikwissenschaftler, FH Kassel); Dr. Ulrike Borchardt (Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Uni Hamburg); Horst Grabert (Staatssekretär im Kanzleramt und Botschafter a.D., Kleinmachnow); Dr. Jutta Koch (Lehrbeauftragte, FU Berlin); Andreas Kuhnert (MdL Brandenburg, Potsdam); Dr. Wilhelm Nolte (Oberstleutnant a.D., Hamburg); Dr. Walter Romberg (Finanzminister a.D., Teltow); Dr. Rolf Schmachtenberg (Berlin/Bonn); Dr. Lutz Schrader (Politikwissenschaftler, FU Hagen); Dr. Lutz Unterseher (Politikberater, Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik, Berlin); Roland Vogt (Landesvorsitzender Bündnis 90/Grüne Brandenburg, Potsdam).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite