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W&F 1992/2

Mit zweierlei Maß • Bevölkerungspolitik in der sog. Dritten Welt

von Ingrid Spiller

Als im Juli 1987 der 5 Milliardenste Mensch geboren wurde, war dies Anlaß für eine weltweite Medienschaltung, in der die Sorge um die sogenannte Überbevölkerung zum Ausdruck gebracht wurde. Man ging wie selbstverständlich davon aus, daß es sich bei diesem 5 Milliardensten Menschen um einen roten, gelben oder schwarzen handeln mußte.

Auch wenn die statistische Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß dieser Mensch in einem Land des Südens zur Welt kam, so stimmt der Kontext, in dem diese Annahme gemacht wurde, doch nachdenklich: Das Bevölkerungswachstum – natürlich nur das in der sog. Dritten Welt – wurde und wird bis heute in den Medien als »Bevölkerungsbombe«, »Bevölkerungsexplosion« oder »tickende Zeibombe« betitelt. Standen früher, d.h. vor allem während der 50er und 60er Jahre, Kriegs- und Aufstandsgefahr als zu befürchtende Folgen im Mittelpunkt der geweckten Ängste, so ist es heute vor allem die zunehmende Umweltzerstörung, für die das Bevölkerungswachstum in der »Dritten Welt« ursächlich verantwortlich gemacht wird. Im Weltbevölkerungsbericht von 1990 heißt es dazu: „Diese wachsende Menschenmenge geht an die Substanz der Erde selbst. Das schnelle Bevölkerungswachstum hat bereits begonnen, die Erde unwiderruflich zu verändern. Diese Veränderungen werden in den 90er Jahren ein kritisches Ausmaß erreichen; zu ihnen gehören anhaltendes Wachstum der Städte, Zerstörung von Boden und Wasser, massive Waldrodungen und die weitgehende Konzentration von Treibhausgasen.“

Ähnliche Äußerungen lassen sich immer dort finden, wo Familienplanung bzw. Bevölkerungskontrolle zur Entwicklungsstrategie erhoben wird. Die Weltbank hat mit der Begründung des entscheidenden Zusammenhanges zwischen dem raschen Bevölkerungswachstum und der Umweltbelastung einer Verdreifachung ihrer Mittel für Bevölkerungsprogramme angekündigt, und die Bundesregierung gehört aus den gleichen Gründen zusammen mit Japan und den USA zu den größten staatlichen Geldgebern in diesem Bereich. Solche Programme zur Geburtensenkung richten sich jedoch nur an die Entwicklungsländer. In den meisten Industrieländern wird gleichzeitig eine Politik der Geburtenförderung betrieben, bei der mittels Anreizen einerseits und Abtreibungsverboten oder – erschwernissen andererseits die rückläufige Geburtenrate angehoben werden soll.

Die globale Analyse der Ursachen von Umweltzerstörung zu Lasten der Entwicklungsländer geht schlichtweg an den Realitäten vorbei: Gegenwärtig verbraucht ein knappes Drittel der Menschheit dreimal soviel Energie wie die restlichen Dreiviertel. Der aufwendige Lebensstil im Norden mit energieverschlingenden Heizungssystemen und Klimaanlagen, mit Autos und Luxusgütern produziert ungefähr die Hälfte der entstehenden sechs Milliarden Tonnen Treibgase pro Jahr – der Anteil an den Kohlendioxid-Emissionen liegt sogar bei 75%; der Anteil am Verbrauch von Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) beträgt 90%. Nicht das schnelle Bevölkerungswachstum in den Ländern des Südens, sondern der aufwendige Lebensstil der Menschen im Norden ist also hauptverantwortlich für die Zerstörung der Erde.

Wenn Opfer zu Tätern gemacht werden

Nun soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Umweltzerstörung und der Bevölkerungsdichte der sog. Dritten Welt. Es ist jedoch zu einfach, die Ursachen im Bevölkerungswachstum zu suchen. Die Bevölkerungsdichte allein ist noch kein spezifisches Merkmal der Entwicklungsländer; sie liegt in vielen Industrieländern wesentlich höher. So leben in Japan etwa 325 Menschen auf einem Quadratkilometer, in Holland 361 und in der alten BRD waren es 246. In Brasilien sind es hingegen nur 17 Menschen, in Kenia 41 und selbst in Indien nur 242.

The Human Development Report 1991 der UNDP schätzt jedoch, daß etwa drei Viertel der Armen in den Ländern des Südens in Gebieten leben, die aufgrund der extremen klimatischen Bedingungen ohnehin ökologisch sensibel sind. Etwa 14 Millionen Menschen waren als sog. Umweltflüchtlinge dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Armut und Bevölkerungsdichte zwingen die Menschen in diesen Regionen dazu, auf der Suche nach Brennmaterial die wenigen noch verbleibenden Bäume und Sträucher abzuholzen und die ohnehin kargen Böden zu bewirtschaften, bis die Bodenerosion schließlich auch die Wasserreservoire austrocknen läßt.

Die Industrieländer haben ihr »Bevölkerungsproblem« gelöst, indem sie in der Vergangenheit in riesigen Auswanderungswellen andere Kontinente besiedelt haben, oder, bis heute, auf Kosten der restlichen Welt Ressourcen verbrauchen. Importe von mineralischen und agrarischen Rohstoffen, von Tropenholz sowie die Aufteilung der Meere im Rahmen der internationalen Fischereiabkommen sind nur einige Stichworte in diesem Zusammenhang. Der Mehrheit der Bevölkerung in den Entwicklungsländern bleibt nur das wenige zum Überleben, das ihnen übriggelassen wird. Deshalb haben sie in den ökologisch sensiblen Regionen häufig keine andere Wahl, als ihren kurzfristigen Überlebensinteressen folgend sich umweltschädigend zu verhalten. Denn Landknappheit ist in der Regel nicht durch die natürliche Vermehrung entstanden. In Lateinamerika ist sie z.B. Resultat eines seit Jahrhunderten stattfindenden Prozesses der Landkonzentration zugunsten weniger Großgrundbesitzer. Die Bauern wurden bzw. werden mit legalen und illegalen Mitteln von ihrem Boden verdrängt oder vertrieben. Sie müssen Platz machen für extensive Plantagenwirtschaft, etwa für den Anbau von Exportprodukten. Sie müssen riesigen Staudammbauten weichen, deren Nutzen – in vielen Fällen ohnehin zweifelhaft – ehrgeizigen Industrialisierungsprojekten oder wenigen kommerziellen Farmern zugute kommt. Laut einer Erhebung der FAO von 1960 kontrollierten 2,5 Prozent der Landbesitzer 75% des gesamten Ackerlandes der Erde.

Die Lateinamerikanische Kommission für Entwicklung und Umwelt hat in ihrem Bericht 1990 außerdem darauf hingewiesen, daß die Einführung westlicher Konsumtions- und Verhaltensmuster in dem Maße zur Umweltzerstörung geführt hat, wie die traditionelle »Campesino«-Landwirtschaft verdrängt wurde. Diese hatte sich im ökologischen und geschichtlichen Kontext in der Regel als selbsterhaltend erweisen, da sie differenzierte Bewirtschaftungstechniken benutzte, die den lokalen Bedingungen optimal angepaßt waren. Diese stabilen und diversifizierten Agro-Ökosysteme wurden nun durch instabile, homogene Agro-Ökosysteme ersetzt. Auch in der hier dargestellten Kürze wird deutlich, daß die Opfer zu Tätern gemacht werden, wenn die Ursachen der zunehmenden Umweltkrise im steigenden Bevölkerungswachstum gesucht werden.

Bevölkerungswachstum als »Geißel der Menschheit«?

Eine ähnliche Verdrehung läßt sich bereits in den Argumenten der früheren Jahre feststellen, denn die aktuelle Angst vor der »Überbevölkerung« hat Geschichte. In den fünfziger Jahren, als das Scheitern der Grünen Revolution und damit die hoffnungslose Verelendung der Menschen in der Dritten Welt sichtbar wurde, entstanden Visionen und Ängste, daß sich diese Menschen einmal erheben und die Industrieländer bedrohen könnten. Das Bevölkerungswachstum wurde zur Geißel der Menschheit erklärt und entsprechende Kontrollmaßnahmen entwickelt und durchgeführt. Auf der Weltbevölkerungskonferenz von 1954 in Rom war erstmals von der vermeintlichen »Bevölkerungsexplosion« die Rede, und es wurde dort ein Pamphlet lanciert von der »Bevölkerungsbombe«, die angeblich genauso gefährlich sei wie die Atombombe, da die möglichen Aufstände der Armen eine reale Bedrohung für den Weltfrieden darstellten.

Im Bericht der UN von 1956 heißt es: „Zwar liefert die Überbevölkerung billige Arbeitskräfte, aber Ersparnisse und daraus folgende Investitionen werden völlig von der wachsenden Bevölkerung aufgebraucht. Es ist deshalb nicht möglich eine industrielle Infrastruktur zu schaffen, und auch nicht, Humankapital in Form von Erziehung zu akkumulieren. Die Regierungen müssen ihre knappen Budgets ständig in Notprogramme investieren, die ihrerseits nur Folge des raschen Bevölkerungswachstums sind, und die Hände für ihre Anstrengungen sind ihnen gebunden.“

Da es aufgrund der weltwirtschaftlichen Strukturen und der herrschenden Arbeitsteilung zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern jedoch nicht gelingen konnte, das Lebenshaltungsniveau der Bevölkerungsmehrheit im Süden anzuheben, wurde das Bevölkerungswachstum für die Armut verantwortlich gemacht. Als »Lösung« sollte das Wenige unter weniger Menschen aufgeteilt werden. Von dem US-amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson stammt der Ausspruch: „Fünf gegen das Wachstum der Bevölkerung investierte Dollar sind wirksamer als hundert für das wirtschaftliche Wachstum investierte Dollar.“

Auch heute spielt das Argument der Kostenersparnis nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Begründung von bevölkerungspolitischen Maßnahmen. Im neuesten Weltbevölkerungsbericht (1991) wird darauf hingewiesen, daß der indische Staat „durch die Vermeidung von 106 Millionen Geburten seit 1979“ allein 742 Milliarden Dollar an Ausgaben für Bildung und Gesundheitsfürsorge eingespart hat. Noch nicht eingerechnet sind weitere Ersparnisse bezogen auf die Umwelt oder die Entwicklungsperspektiven allgemein. Entsprechend werden auch die 9 Milliarden Dollar ins Verhältnis gesetzt, die bis zur Jahrhundertwende jährlich benötigt werden, um die gesetzte »Zielvorgabe« der Geburtenreduzierung auf Weltebene zu erreichen: „(Dieser Betrag) entspricht zwar dem Doppelten der heutigen Ausgaben, ist aber immer noch viel weniger als ein Fehlschlag kosten würde.“ (Weltbevölkerungsbericht 1991)

Vom Recht auf Verhütung zum Zwang zur Verhütung

Schon allein die Wahl der Worte läßt Zweifel daran aufkommen, ob das Wohl der einzelnen Frauen (als Hauptzielgruppe) in den Familienplanungsprogrammen ausreichende Berücksichtigung findet oder zu Gunsten des »Gesamtwohls« zurücktritt. Auch wenn das „Menschenrecht auf Verhütung“, das 1968 in die Internationale Charta der Menschenrechte aufgenommen wurde, immer wieder zur Rechtfertigung entsprechender Programme zitiert wird, so lassen die mehrheitlich propagierten und angebotenen Verhütungsmittel doch andere Schlüsse zu. Die am weitesten verbreitete Methode in den Entwicklungsländern ist nach wie vor die Sterilisation (45%), gefolgt vom Intrauterin Pessar (23%) und hormonellen Mitteln (15,5%). Aus zahlreichen Augenzeugenberichten und Stellungnahmen läßt sich entnehmen, daß viele Frauen mangelnde Information und Beratung über die Wirkungsweise der verschiedenen Mittel und Methoden, sowie über Alternativen beklagen. Sie haben keine wirklichen Wahlmöglichkeiten, sondern sind auf das angewiesen, was die Bevölkerungsplaner anbieten. Diese Mittel sind häufig eher an sogenannten Effizienzkriterien orientiert als am Wohl der einzelnen Frauen. Werden bevorzugt Methoden und Mittel propagiert, bei denen die Kontrolle über die Fruchtbarkeit nicht mehr bei den Frauen selbst liegt, dann kann das »Recht auf Verhütung« sehr schnell zum »Zwang zur Verhütung« werden.

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Sehr viel mehr Frauen würden gerne Geburtenplanung anwenden, als augenblicklich die Möglichkeit dazu haben. Diese Frauen möchten gerne frei entscheiden können, ob und wieviel Kinder sie haben. Das »Menschenrecht auf Verhütung« beinhaltet aber sehr viel mehr, als den Zugang zu gesundheitsverträglichen(!) Verhütungsmitteln und -methoden. Auch die materiellen und sozialen Bedingungen spielen hierbei eine sehr wichtige Rolle. Ausreichendes Einkommen, das die Mitarbeit von Kindern nicht überlebensnotwendig macht, soziale Absicherung im Falle von Krankheit und Alter, die nicht auf der Anzahl der überlebenden Kinder beruht, Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie eine Stellung in der Gesellschaft, die nicht von der Mutterrolle abhängig ist, eine Stellung in der Familie, die sie nicht den Wünschen des Mannes unterwirft; all dies sind Bedingungen, die eigentlich für jeden Menschen auf der ganzen Welt gewährleistet sein müßten. Die Diskussion um das Bevölkerungswachstum einerseits und die bevölkerungspolitische Praxis andererseits machen jedoch deutlich, daß das »Menschenrecht auf Verhütung« offensichtlich nicht für alle gilt.

Ingrid Spiller ist Mitarbeiterin bei der EPK, Entwicklungspolitische Korrespondenz. Dieser Beitrag ist der EPK, 3/91 entnommen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/2 Nord-Süd Dialog?, Seite