W&F 2017/2

Nach Erdogans Gusto

von Regina Hagen

„Staatsstreich vollendet“, erklärt die jw am 18.4.2017 auf ihrer Titelseite und sagt als Ergebnis des „Votum[s] über die Diktaturambitionen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan die Umwandlung der türkischen Republik in eine „Präsidialdiktatur“ voraus.

Die absehbaren Folgen des türkischen Referendums über eine Verfassungsreform beurteilen andere auch mit Sorge, aber in vorsichtigerer Diktion: „Erdogan in den Fussstapfen der Sultane“ (NZZ 19.4.17, S. 1), „Alle Macht dem Präsidenten (FAZ 20.4.17, S. 10), „Alle Macht für Erdogan“ (nd 18.4.17, S. 1), „illiberale Demokratie“ (FR 18.4.17, S. 1, FAZ 20.4.17, S. 10). „Das Referendum ist das Ermächtigungsgesetz Erdogans“, zieht Arno Widmann eine historische Parallele (FR 18.4.17, S. 11), und Reiner Hermann weist darauf hin, „[d]ie neue Verfassung enthalte keine Mechanismen mehr, um das Land vor einem Absturz in ein autoritäres Regime zu bewahren“ (FAZ 20.4.17, S. 10).

Ein halber Triumph

Alle Medien kommentieren am 18.4.17 das mit 51,4 % Ja- und 48,6 % Nein-Stimmen knappe Ergebnis des türkischen Referendums: „Erdogans gespaltenes Reich“ (FR, S. 1), „Spalter!“ (WELT, S. 1), „Erdogans Sieg entzweit die Türkei“ und „So gespalten wie Amerika“ (SZ, S. 1, 4). Jürgen Gottschlich vergleicht das Referendumsergebnis mit dem Ergebnis der letzten Wahl in der Türkei: „Statt 61 Prozent, die die beiden Parteien AKP und MHP, die jetzt das Referendum unterstützt haben, bei der letzten Wahl erzielten, hat er gerade mal 51 Prozent geholt, also 10 Prozent verloren.“ (taz 18.4.17, S. 3) Özlem Topçu meint ebenfalls: „Aber es ist in Wahrheit doch schiefgegangen. […] Eine denkbar knappe Mehrheit – trotz all der Macht der Regierung Erdogan, trotz ihrer gewaltigen finanziellen und medialen Überlegenheit, trotz der Repression der Kritiker, trotz der Verdrängung und Behinderung der Nein-Kampagne […].“ (ZEIT 20.4.17, S. 9)

Und es dominieren die Zweifel an der Korrektheit der Abstimmung: „Nein zum Ja“ (taz 18.4.17, S. 1), Sieg voller Ungereimtheiten“ (FAZ 18.4.17, S. 3), „Schatten des Verdachts“ (SZ 19.4.17, S. 2) , „es habe in fast 11.000 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten gegeben“ (FAZ 19.4.17, S. 3). In kurdischen Gebieten konnten viele Menschen nicht abstimmen, Säcke mit Nein-Stimmen lagen auf dem Müll, und dann ist da noch die Sache mit manipulierten Stimmzetteln. „So wurden 2,5 Millionen Stimmen von der Obersten Wahlbehörde YSK als »gültig« anerkannt, obwohl die vorgeschriebenen Stempel der Wahlkommission auf den Umschlägen fehlten.“ (jw 19.4.17, S. 1) Angesichts einer Mehrheit von knapp 1,4 Millionen Ja-Stimmen ist diese Zahl keine Lappalie.

Druck auf Medien und Oppositionelle

Die Folgen der Verfassungsänderungen für einzelne Bevölkerungsgruppen sind heute kaum abzusehen. Reporter ohne Grenzen geht davon aus, dass „die Situation für unabhängige Medien in der Türkei noch schwieriger“ wird, und die FAZ (19.4.17, S. 15) geht davon aus, dass „Staatspräsident Erdogan noch stärkeren Druck ausüben [wird], ‚um die letzten unabhängigen Medien dort auch noch zum Schweigen zu bringen’“. Mehrmals finden die aktuell etwa 150 inhaftierten Journalist*innen Erwähnung. Die WELT (18.4.17) nutzt die Kommentar-Spalte auf S. 1, um an ihren Türkei-Korrespondenten Deniz Yücel zu erinnern, denn „ er sitzt noch immer im Gefängnis von Silivri […] weil die Regierung ihm Volksverhetzung und Terrorpropaganda vorwirft“. Dieses Schicksal teilt er aktuell mit nahezu 50.000 Menschen, die die Regierung als ihre Gegner einstuft, und das mit steigender Tendenz.

Militärische Zusammenarbeit

Die Türkei ist seit 1952 Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses und beherbergt in Incirlik US-Atomwaffen. „Die NATO-Mitgliedschaft der Türkei will die Große Koalition aber nicht infrage stellen. ‚Die Türkei ist geostrategisch ziemlich unverzichtbar’ […].“ (taz 19.4.17, S. 1) Dagegen fordern „Linke und Grüne […] Konsequenzen für die militärische Zusammenarbeit mit der Türkei. Die rund 260 auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten müssten abgezogen und alle Waffenlieferungen an den NATO-Partner gestoppt werden“, berichtet Melanie Reinsch in der FR (18.4.17, S. 5).

Jörg Haas, Leiter der campact!-Kampagne »Keine Panzer für Erdogan!« verweist im Interview mit Gitta Düperthal auf Pläne des Rüstungskonzerns Rheinmetall, eine komplette Panzerfabrik in die Türkei zu exportieren, obgleich „Erdogan Panzer gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes“ einsetzt. „Der Rheinmetall-Deal mit Erdogan“, so Haas, „hätte weitere üble Folgen. Von der Fabrik aus könnte die Türkei Panzer in alle Krisenherde der Region liefern, etwa über das Golfemirat Katar […]. Die deutsche Rüstungsexportkontrolle des Bundestags wäre ausgehebelt.“ Für Sevim Dagdelen von der Linkspartei ist daher klar: „Keine Waffen, kein Geld, keinen Soldaten mehr für Erdogan.“ (jw 18.4.17, S. 8)

Die Türkei und die EU

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert nun „die Aufkündigung des menschenverachtenden Flüchtlingsdeals mit der Türkei, an dessen Stelle unter Mithilfe des UNHCR wirksam kontrollierte Direkthilfe für Geflüchtete in der Türkei treten sollte“ (ilmr.de 18.4.2017). Das wird wohl kaum passieren. „In Brüssel geht man trotz allem davon aus, dass Erdogan weiter ein Interesse hat, am Flüchtlingsabkommen mit der EU festzuhalten. Einfach deshalb, weil die Türkei dafür Geld bekommt. Bis 2018 sollen sechs Milliarden Euro überwiesen werden […].“ (SZ 18.4.17, S. 2) Gleichzeitig ist in der EU aber eine heftige Diskussion entbrannt um weitere Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Die Wiedereinführung der Todesstrafe habe oberste Priorität, sagte [Erdogan].“ (NZZ 19.4.17, S. 3) Genau dies ist laut Kommissionspräsident Juncker aber „die röteste aller roten Linien“ und „wäre ein klares Signal, dass die Türkei kein Mitglied der europäischen Familie sein will“ (SZ 19.4.17, S. 2).

Zitierte Zeitungen: DIE WELT kompakt (WELT), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau (FR), junge welt (jw), Neue Zürcher Zeitung (internationale Ausgabe) (NZZ), Neues Deutschland) (ND), Süddeutsche Zeitung (SZ), tageszeitung (taz), Zeit (Die Zeit).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/2 Flucht und Konflikt, Seite 4