Ernst Tugendhat (1986): Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht. Berlin: Rotbuch Verlag, ISBN 3-88022-319-X, 116 S., Preise: antiquarisch.
„Die tiefere Differenz, die uns aneinander und, wenn wir dünnhäutig sind, an uns selbst verzweifeln lassen kann, ist die Differenz in der Sprache, im Verstehen, in den unausgesprochenen Voraussetzungen, die in die beiderseitige Wahrnehmung der politischen Realität eingehen.“ Die Konsequenz: „Wenn wir die Gründe der anderen nicht mehr verstehen können, können wir nur versuchen, ihre Überzeugungen aus Motiven zu erklären, die ihnen selbst nicht bewußt sind. Ein solches Vorgehen impliziert, daß wir die andere Seite nicht mehr als Dialogpartner ernst nehmen können, daß wir nicht mehr mit ihr, sondern nur noch über sie sprechen.“ (S. 19) Wer wird bei diesen Worten heute nicht sofort an die Auseinandersetzungen über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine denken – zwischen jenen, die Frieden über die Lieferung immer schwererer Waffen an Kiew herbeiführen wollen, und jenen, die stattdessen sofortige Initiativen für Friedensverhandlungen einklagen? „Putin-Versteher“ schallt es aus der einen Ecke, „Kriegstreiber“ aus der anderen.
Allerdings hat das Zitat fast vierzig Jahre auf dem Buckel: Ernst Tugendhat problematisierte damals die fehlende Bereitschaft zum verständigungsorientierten Dialog zwischen »Tauben« und »Falken« über das atomare Abschreckungssystem im Allgemeinen und die NATO-»Nachrüstung« im Besonderen. Wenngleich die Aufsatzsammlung den Kalten Krieg bis Mitte der 1980er Jahre reflektiert, gewinnt das Büchlein neue Aktualität und Relevanz – vor allem für die Begründung pazifistischer Positionen. Denn angesichts des Gegenwindes könnten Pazifist*innen voreilig an der Angemessenheit ihres Standpunkts, an der Triftigkeit ihrer Warnungen vor einem Atomkrieg zweifeln. Insofern vermag die Lektüre des Klassikers zur informierten Selbstvergewisserung beizutragen. Und es macht Mut, wenn Autor*innen wie Tugendhat über Probleme oder auch Dilemmata schreiben, die einen selbst schier verzweifeln lassen.
Was trieb den Philosophen damals an? Offenkundig irritierten ihn sowohl die Nonchalance, mit der Anhänger*innen der nuklearen Abschreckung die Gefahr eines Atomkriegs verdrängten oder kleinredeten, als auch die Diffamierung der Friedensbewegung. Derartige Irritationen dürften heute Kritiker*innen einer entgrenzten militärischen Unterstützung der Ukraine ebenfalls spüren. Die Parallelen sind ebenso offensichtlich wie frappierend, wie im Folgenden nur exemplarisch illustriert werden kann:
Beim ersten Beispiel geht es um die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs: Die Gemeinsamkeiten der Friedensbewegung sogar unterschiedlicher Kontinente beschreibt Tugendhat wie folgt: „1. Der Atomkrieg ist wahrscheinlich. 2. Seine Wahrscheinlichkeit nimmt zu. Die Zielsetzung lautet: Der Atomkrieg muss unbedingt verhindert werden.“ (S. 23; Herv. SJ) Das hat sich bis heute gehalten. Jedenfalls dürften selbst risikofreudige Verfechter*innen weiterer Waffenlieferungen kaum ernsthaft bestreiten, dass der Ukrainekrieg die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Kollision von NATO und Russland, mithin einer atomaren Eskalation ceteris paribus erhöht hat. Aber beweist denn der Sachverhalt, dass die befürchtete Katastrophe bislang ausgeblieben ist, nicht geradezu die Beherrschbarkeit des Risikos, also die Irrationalität der Warnungen? Dieser seines Erachtens wenig fundierten Meinung hält Tugendhat mit polemischer Spitze entgegen: Sie habe immerhin „den Vorteil, daß diejenigen, die sich auf sie verlassen, ihre Widerlegung nicht mehr bei Bewußtsein […] erleben werden“ (S. 83f.). Die Wahrscheinlichkeit einer atomaren Eskalation sei noch nicht einmal abgeflacht, sondern weiter angestiegen (S. 60). Aber selbst für den Fall, dass sie abgenommen hätte: Aufgrund katastrophaler Folgewirkungen für den Globus dürfe der Atomkrieg, so Tugendhat (S. 59), nicht einmal in ein Wahrscheinlichkeitskalkül einfließen. Alles andere hielt er offenkundig für einen unverantwortlichen Hasardeur-Ritt.
Das zweite Beispiel ist die Erörterung solcher Konstellationen, die sich dem Imperativ der Atomkriegsvermeidung möglicherweise entziehen könnten. Tugendhat führt zwei Argumentationsfiguren an, die sich problemlos auf die heutige Zeit übertragen lassen. Erstens widmet er sich Alois Mertes’ Problemanalyse: Dieser CDU-Politiker stufte damals die Gefahr eines Kriegs als äußerst gering ein, während er die eigentliche Gefahr in einer schleichenden Unterwerfung unter die sowjetische Erpressung verortete (S. 34). Dessen Formel, Frieden und Freiheit seien gleichrangige ethische Höchstwerte, entlarvt Tugendhat als euphemistisch. In Klartext übersetzt laute sie nämlich: „Um unser politisches System zu erhalten, riskieren wir den Atomkrieg (und das heißt: der Frieden ist nicht gleichrangig, sondern steht an zweiter Stelle)“ (S. 42). Pointiert formuliert läuft diese Argumentation ebenso wie die heutige ukrainische Position und die Behauptung des Westens, wonach die Ukraine auch dessen Werte verteidige, auf die Formel »lieber tot als rot« hinaus. Dabei wäre jedoch in Anlehnung an Tugendhat in Rechnung zu stellen, dass das Wort »tot« in diesem Falle nicht den Tod vieler einzelner, sondern den „Untergang des Ganzen“ (S. 42) impliziere: „In einem Atomkrieg opfert sich keiner mehr für das Ganze, sondern das Ganze würde von uns geopfert“ – eine Form eines geradezu „phantastischen atlantischen Ethnozentrismus“ (S. 43; Herv. im Original).
Damit verbunden adressiert Tugendhat zweitens das Recht auf Selbstverteidigung, dem er drei Prinzipien zuordnet (S. 53): Gemäß des ersten Prinzips handele es sich um ein (auch) moralisches Recht, sich im Falle eines Angriffs zu verteidigen. Gemäß des zweiten gäbe es ein – allerdings nicht zwingendes – Gebot der Nothilfe. Und nach dem dritten Prinzip könne der Zweck die Mittel eben nicht heiligen. Daraus folgert der Autor: „Wir haben weder bei der Selbstverteidigung noch bei der Befreiung anderer das Recht zur Geiselnahme und gegebenenfalls Ermordung unschuldiger Dritter […].“ (S. 54). Aber genau dies wäre im Falle sogar eines »begrenzten« Atomkriegs unvermeidbar. Unterstellt, im Kontext des Ukrainekriegs wäre es nicht der Westen, der diese Massenvernichtungswaffen zuerst einsetzt, sondern Russland, das als bislang einziger Akteur bereits mehrfach damit gedroht hat: Wären dann gemäß Tugendhat Verfechter*innen der Waffenlieferungen sowie Kritiker*innen bisheriger Friedensimpulse aus dem Schneider? Wohl kaum: Zwar trüge im Falle eines Atomwaffeneinsatzes derjenige die Letztverantwortung, der ihn ausgelöst hätte. Aber sehenden Auges in eine Situation hineinzumanövrieren, die die Wahrscheinlichkeit eines absichtsvollen oder versehentlichen Atomkriegs erhöht, dürfte nicht Tugendhats Zustimmung gefunden haben. Ein nachträgliches hypothetisches: „Der Putin war’s“ entlastet andere Akteure eben nicht von ihrer Verantwortung, das unbedingt vermeidungspflichtige Ereignis mit aller Kraft und Klugheit zu verhindern. Notwendig im Atomzeitalter wäre nach Tugendhat die Überwindung traditioneller Machtpolitik (S. 85). Dazu ist es aber bis heute nicht gekommen. Und genau wie damals fehlt es vielen Menschen in politischer Verantwortung an jener Angst, die es braucht, um Denk- und Handlungsprozesse in Gang zu setzen, die die unsichtbare Gefahr atomarer Apokalypse abzuwenden vermögen: Angst ist nach Tugendhat eben nicht per se irrational, wie bellizistisch gestimmte Zeitgenoss*innen den Pazifist*innen vorwerfen, sondern „der die Gefahren anzeigende, das Überleben sichernde Gefühlsfaktor“ (S. 86). Wer sich also heute vor atomarer Eskalation fürchtet, sollte sich seiner Angst, besser seiner Sorge, nicht schämen, sondern auch im diskursiven »Sperrfeuer« zu ihr stehen, ja für sie als rationale Haltung werben.
Das dritte Beispiel adressiert Strategien zur Diffamierung kritischer Positionen: Im fingierten Dialog mit seinem »Rudolf« genannten Widerpart lässt Tugendhat diesen nicht nur den heute ebenfalls gängigen Vorwurf der „Naivität“ (S. 25) erheben, sondern auch fragen: „‘Siehst Du denn nicht, daß die Friedensbewegung Moskau in die Hände arbeitet?‘“ (S. 32) Darauf antwortet er zunächst mit einem Eingeständnis: „Daß das Nahziel der Friedensbewegung mit den Interessen Moskaus übereinstimmt, ist richtig“ (S. 32). Aber nur, um ultimativ zu kontern: „Es wäre ein Argument nur dann, wenn alles, was Moskau nützt, dem Westen schadet und umgekehrt“ (S. 32). Ähnlich wird heute Menschen, die lediglich an die Konfliktgeschichte zwischen der NATO und Russland erinnern, gerne pauschal vorgeworfen, sie unterstützten das russische Narrativ einer westlichen Alleinschuld am Krieg. Hier ermuntert die Lektüre dazu, gut begründete Positionen immer wieder zu äußern, selbst wenn die Gegenseite sie unter Kollaborationsverdacht mit dem Aggressor stellt.
Hätte Tugendhat dieselben Parallelen gezogen? Die Antwort ist ungewiss. Ziemlich gewiss hätte er weitere Differenzierungen angemahnt, punktuell vielleicht sogar widersprochen. Aber argumentative Perfektion kann an dieser Stelle nicht Ziel gewesen sein. Bescheidener ging es darum, die Relevanz des alten Büchleins für aktuelle Debatten aufzuzeigen. Es sei zur Erst- wie zur Zweitlektüre wärmstens empfohlen.
Sabine Jaberg