W&F 1986/3

Nachkriegsbilder Vorkriegsbilder.

Zum Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in der Kunst nach 1945

von Annegret Jürgens-Kirchhoff

Das Nachkriegsbilder in der Zeit eines drohenden neuen Krieges zu Vorkriegsbildern werden kennen, ließe sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Ebenso konnten in Bildern vom kommenden Krieg vergangene Kriegserfahrungen verarbeitet werden. Erinnerung und Antizipation verschränkten sich in Bildern gegen den Krieg in oft kompilierter Weise und erhellten wechselseitig ihren schwierigen Gegenstand.1 Viel spricht dafür, daß dieser Zusammenhang im Hinblick auf den drohenden 3. Weltkrieg so nicht mehr besteht. Die Möglichkeit von Vorkriegsbildern erscheint ebenso wie die Rezeption von Nachkriegsbildern unter heutigen Bedingungen gründlich verändere Dazu gehört die wiederholt geäußerte Befürchtung, daß es nach dem nächsten Krieg, der ein nuklearer wäre, niemanden mehr geben werde, der sich noch ein Bild von ihm machen könnte.2 Die Unvorstellbarkeit eines atomaren Krieges hat aber nicht nur zur Folge, daß sich Viele Künstler die Antizipation der drohenden Schrecken nicht mehr zutrauen - die bildenden Künstler noch weniger als die Schriftsteller. Sie läßt auch den Versuch, in Bildern Der atomaren Vernichtung die Erfahrungen vergangener Kriege zu reflektieren, leichtfertig erscheinen, wo er der Besonderheit den Krieges im atomaren Zeitalter nicht gerecht wird. Unbrauchbar erscheinen die Erinnerungen, überholt die Erfahrungen, harmlos die Bilder vom letzten Krieg.3

Diesem problematischen Verhältnis von Erinnerung und Antizipation in Antikriegsbildern nach 1945 gelten die folgenden Überlegungen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Vorstellungskraft der Künstler und ihrer Fähigkeit, sich zu erinnern oder auch zu vergessen? Ist die Erinnerung an vergangene Kriege geeignet, den Malern die Augen zu öffnen, oder verstellt sie eher den Blick auf die heute drohenden Gefahren? Da unsere Zukunft von der Verarbeitung der Vergangenheit abhängt, stellt sich die Frage, was mit dem Blick in eine katastrophal vorgestellte Zukunft zugleich erinnert, assoziiert, bedacht wird, ob und wie sich die bildenden Künstler nach dem 2. Weltkrieg, nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki an der lebenswichtigen Erinnerungsarbeit beteiligt haben und heute noch beteiligen.

Es ist bekannt, daß diese Erinnerungsarbeit in der BRD von den meisten über lange Zeit verweigert wurde. Zur Rede von Neubeginn und Stunde Null gehörte das Schweigen über die Vergangenheit. Das Verstummen nach der Erfahrung von Faschismus und Krieg war noch sprachloser als das Verstummen der Generation, die, wie Walter Benjamin schrieb, „1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.“4 Benjamin hat dieses Verstummen als „Erfahrungsarmut“, d.h. als Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen und diese der jungen Generation zu vermitteln, problematisiert. Er hat diese Erfahrungsarmut - „Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt“ - als „eine Art von neuem Barbarentum“ bezeichnet in der Absicht, „einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen.“5 Benjamin sah in der Erfahrungsarmut der Überlebenden des 1. Weltkriegs die Chance des Neubeginns, des Vonvornbeginnens. Er beobachtete ein illusionsloses und rückhaltloses Bekenntnis zu einem Zeitalter, in dem die großen schöpferischen Kräfte bereit und in der Lage seien, „erst einmal reinen Tisch“ zu machen, das Neue „aus Wenigem heraus zu konstruieren“.6

Benjamin hat, als er dies 1933 schrieb, den 2. Weltkrieg kommen sehen. Gleichwohl hat er dem „neuen Barbarentum“ seiner Zeit Menschlichkeit zugetraut 7 und wohl auch die Fähigkeit, den faschistischen Barbaren zu widerstehen. Es wurde jedoch nur zu bald deutlich, daß sich die vielen nicht an die hielten, die das gründlich Neue zu ihrer Sache gemacht hatten, in der Politik wie in der Kunst. Mit dem Blick nach vorn, von Erfahrungen entblößt und ohne Rücksicht auf das Vergangene, waren vor allem die kleinbürgerlichen Massen nicht in der Lage, in der Selbstdarstellung des Faschismus als „neue“, „revolutionäre“, gar „sozialistische“ Bewegung die alten imperialistischen Herrschaftsinteressen zu erkennen, deren Durchsetzung ihnen bereits im 1. Weltkrieg die Sprache verschlagen hatte. Die Erfahrung dieses Krieges, von der sich viele nur abgestoßen hatten, ohne daß sie zur mitteilbaren und vermittelbaren Erfahrung geworden war, hatte sie nicht klug gemacht und nicht menschlicher. Es wiederholten sich die ungeheuren Erfahrungen eines imperialistischen Weltkriegs, es wiederholten sich das Verstummen und die Erfahrungsarmut bei den Überlebenden. Wieder war die Rede von Neuanfang und Stunde Null. Inzwischen wurde ein 3. Weltkrieg machbar. Viele sehen ihn heute kommen.

Es fällt schwer, in dem Verstummen und der Erfahrungsarmut der Generation, die aus dem 2. Weltkrieg „heimkehrte“, noch positive Momente wahrzunehmen. Die Rede von der Stunde Null geriet zu Recht in den Verdacht der Selbsttäuschung und Verdrängung. Wie verständlich auch immer das Bedürfnis nach Neuanfang sein mochte, als eines ohne Rücksicht auf Verluste war es zukunftsorientiert in einem schlimmen Sinne. Gut zwanzig Jahre nach Kriegsende, 1967, versuchten Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ auf die in der Bundesrepublik verbreitete „hartnäckig aufrechterhaltene Abwehr von Erinnerungen“8 aufmerksam zu machen und auf die politisch verhängnisvollen Konsequenzen einer Haltung, die mit Hilfe von Verleugnung, Verdrängung und Projektion auf die unzähligen Kriegstoten, den millionenfachen Mord an Juden, Polen, Russen, den Mord an politischen Gegnern aus den eigenen Reihen reagierte.

Ein scheinbar harmloses Beispiel für die sprachlose und zuweilen blindwütige Abrechnung mit der Vergangenheit ist der „Bildersturm“, dem eine Ausstellung von Gemälden Franz Radziwills 1946 in einem Hamburger Kaufhaus ausgesetzt war. Die stark besuchte Ausstellung erregte das Publikum derart, daß es schließlich sieben der ausgestellten Gemälde zerstörte.9 Nach zwölf Jahren Faschismus und sechs Jahren Krieg erschienen Radziwills Bilder einer aus den Fugen geratenen Welt unerträglich. Geschlagene eines Weltkriegs, schlugen die Besucher nun auf die Bilder ein, die sie daran erinnerten. Mochten solche extremen Reaktionen auf Künstler, die ihre Erfahrungen und Erinnerungen an den 2. Weltkrieg zu verarbeiten suchten, auch die Ausnahme sein, sie erscheinen doch symptomatisch für die aufgeregte und sprachlose Abwehr von Schuld, Scham und Angst. „Böswillig“ erschienen nicht selten die, die nicht vergessen wollten.

Die Abwehr von Erinnerung bestimmte nach 1945 nicht nur die Rezeption der Nachkriegskunst; sie prägte auch die Bilder, die sich in dieser Zeit mit Krieg und Faschismus auseinanderzusetzen versuchten. Es handelt sich in aller Regel um Werke, die das Leiden, die Trauer, Ohnmacht, Resignation und Verzweiflung der Überlebenden thematisieren. Deutlich ist eine starke Tendenz zur Verallgemeinerung des Einzelschicksals, zur symbolischen Darstellung, zu metaphorischen, mythischen, religiösen Formulierungen. Hiob, der verlorene Sohn, Christus stehen für den bedrängten, ohnmächtigen, leidgeprüften Menschen dieser Zeit. Neben Motiven aus der Totentanz-Ikonographie sind es häufig christliche Themen, Höllenfahrtszenen und Visionen der Apokalypse, in denen die schockierende Erfahrung einer beispiellosen Katastrophe beschworen wird.10 Die Zerstörung, auf die Radziwills Gemälde verweisen, bedroht Erde und Himmel. Der Riß, der in vielen seiner Bilder durch die Welt geht, spaltet den Boden und läßt den Himmel auseinanderklaffen. Er wird zum Zeichen drohenden Unheils, das keinen Stein auf dem anderen lassen wird. Ähnlich werden in den zahlreichen Ruinenbildern dieser Zeit eingestürzte Mauern, Gebäudereste, Fensterhöhlen, ausgebrannte Häuser zu Symbolen der Zerstörung und der „Unbehaustheit“ des Menschen.

In Wilhelm Lachnits Gemälde „Der Tod von Dresden“ aus dem Jahr 1945 ist die zerstörte Stadt nur angedeutet in einem stark vereinfachten, stilisierten Gefüge von ineinandergestürzten, verkohlten Balken. In den abstrakten Trümmern sitzt der allegorische Knochenmann, der selbst von Trauer übernmannte Tod - ihm zur Seite im Vordergrund in ähnlicher Haltung mit gebeugtem Oberkörper und gesenktem Kopf, das Gesicht in der offenen Hand verborgen, eine Frau mit einem Kind. Es hat die Arme über den Schoß der Mutter gelegt und blickt mit ernstem Gesicht aus dem Bild heraus. Vor den symbolischen Trümmern und der Figur eines in Trauer und Scham versunkenen Todes erscheint das auf die Mutter sich stützende, von ihrem rechten Arm umfangene Kind als Verkörperung der Hoffnung auf Überleben. Wie ein Versprechen auf Zukunft ist das tränenlose Gesicht des noch unerfahrenen Kindes dem Betrachter zugewandt. Derart symbolisch aufgefaßte Szenen, in denen nach traditionellem Muster allegorische Figuren auf Tod und Leben verweisen, sind charakteristisch für viele Bilder dieser Zeit.

Ein Gemälde von Karl Hofer aus dem Jahr 1947 trägt den bemerkenswerten Titel „Atomserenade“, bemerkenswert, weil in der Kunst der ersten Nachkriegsjahre Hiroshima und Nagasaki eigentlich kein Thema sind. Außer diesem Bild Hofers ist mir bis in die 50er Jahre hinein kein Gemälde bekannt, das sich nachweislich auf die atomare Vernichtung der beiden japanischen Städte bezieht. Auch hier wurde Erinnerung verweigert und behindert, und zwar auf der Ebene offizieller Politik: Die USA verhängten über die Berichterstattung zu den Folgen des Atombombenabwurfs eine jahrelange, bis 1952 andauernde Zensur. Damit, d. h. mit dem Mangel an Information, mag es, neben der in dieser Zeit ohnehin starken Tendenz zu metaphorischen Formulierungen, zu tun haben, daß auch Hofers Gemälde von der Realität, der erstmals praktizierten atomaren Massenvernichtung, weitgehend abstrahiert. Während Hofer sich mit anderen Bildern in bekannte ikonographische Zusammenhänge stellt, das Vergangene als „Höllenfahrt“ und „Totentanz“ thematisiert, versucht er hier, in der ungewöhnlichen Darstellung einer symbolisch bedeutsamen Situation mit dem Blick auf menschliche Befindlichkeit ein Bild der atomaren Katastrophe zu geben: In den abendlichen Frieden einer kleinen Gruppe von Menschen, die am weit geöffneten Fenster dem Gesang und dem Lautenspiel eines Musikanten in ihrer Mitte lauschen, fällt die Atombombe. Die Menschen sind bleich und starr vor Entsetzen; sie sehen einander nicht an; kein Blick geht hinaus; am dunklen, von Blitzen zerrissenen Himmel steht der Mond als große zerbrochene Scheibe.

Die künstlerische Reflexion von Erfahrung und Geschichte in den verallgemeinernden, unbestimmten und reduzierten Formen einer metaphorischen Malerei begriff Vergangenheit weithin als grausames, übermächtiges Schicksal, dem der Mensch schuldlos-schuldig unterworfen ist. In diesem Zusammenhang stellten sich auch die zuweilen nüchtern registrierten Kriegsfolgen als schicksalhaft über die Menschen verhängte, nicht als von Menschen gemachte dar, als Folgen einer Naturkatastrophe oder eines göttlichen Strafgerichts. Mag man in dieser fatalistischen Auffassung von Geschichte, die mit ihrem apokalyptischen Pathos kaum geeignet war, die Realität von Faschismus und Krieg zu durchdringen auch eine Form der Abwehr von konkreter Erinnerung und Erfahrung erblicken - die intensive und immer erneute Thematisierung der subjektiven, emotionalen Folgen der erlebten Schrecken macht doch deutlich, daß es in diesen Nachkriegsbildern durchaus darum ging, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die künstlerische Arbeit war hier - wie auch immer - an dem Verarbeitungsprozeß, den die Psychoanalyse „Trauerarbeit“ nennt, beteiligt. Nicht verstummt zu sein in einer Situation, in der viele sehr bald schon von der Vergangenheit nicht mehr reden und nichts mehr hören wollten, gehört zu den produktivsten Anstrengungen der Künstler, die in Nachkriegsbildern - wie erfahrungsarm und sprachlos auch immer - von den Folgen der Vergangenheit zu sprechen versuchten.

Sie haben dazu nur wenige Jahre Gelegenheit. Die Unfähigkeit, sich auf Erfahrungen zu berufen, und die Weigerung, diese der jungen Generation zu vermitteln, isolierte zunehmend auch die Künstler, die dies versuchten. Endgültig entmutigt wurden sie allerdings erst, als nach der Gründung der Bundesrepublik die rehabilitierte abstrakte Kunst als die zeitgemäße Form einer angeblich autonomen, modernen Kunst verabsolutiert wurde. Die Etablierung der westlichen Kunstszene hatte zur Folge, daß viele gegenständlich arbeitende Künstler über lange Zeit regelrecht „vergessen“ wurden. Inzwischen haben manche, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, ihre eigene Verdrängungsleistung vergessen. Werner Haftmann, einer der einflußreichsten Befürworter der abstrakten Moderne nach 1949, schrieb 1984 in der FAZ: „Ich habe mich oft gefragt, warum der große Krieg, den meine Generation zu durchleben hatte, in den künstlerischen Rängen so antwortlos blieb: ein paar mehr anekdotisch als gleichnishaft wirkende Bücher von amerikanischen Schriftstellern - und sonst das Schweigen! - Auch die Malerei brachte keine verzeichnenswerten Verbildlichungen hervor. Wie anders nach dem ersten Krieg!“11 Dieser scheinheiligen Klage ist es offensichtlich entgangen, daß es das Schweigen, von dem Haftmann spricht, jedenfalls in den ersten Nachkriegsjahren von 1945 bis 1949 nicht gab.12

Die Generation, die sich so schlecht erinnert, hat ihre Erfahrungsarmut und ihr ramponiertes historisches Bewußtsein der Nachkriegsgeneration vererbt. Statt ihr mit Erfahrungen zur Hilfe zu kommen, „befreite“ man sie und sich selbst von Erinnerungen, nicht nur hierzulande. Noch 1980 mußte ein Bild des japanischen Malerpaares Toshi und Iri Maruki, das seit über dreißig Jahren seine Erinnerungen an Hiroshima malt, aus einem Schulbuch verschwinden, weil es - so das japanische Erziehungsministerium - einen „schädlichen, deprimierenden Einfluß“13 ausübe. Vor etwa einem Jahr konnte man in mehreren Pressenotizen nachlesen, daß man in einem englischen Archiv umfangreiches Material für einen Film „entdeckt“ habe, den der für seine Krimis bekannte Regisseur Alfred Hitchcock in Auschwitz gedreht hat. Mit Rücksicht auf die Gefühle der mit dem Wiederaufbau beschäftigten Deutschen sei dies Material nicht veröffentlicht worden. Anschließend hat man es dann, so scheint es, vergessen. Für die Versuche, uns so durch Zensur, Verbot und Geheimhaltung von Bildern vor Trauer, Zorn und Erkenntnis zu „schützen“, ließen sich weitere Beispiele finden.

Es bleibt jedoch die Frage wie weit die subjektive Abwehr von Erinnerung und ihre Entsprechung auf der Ebene offizieller Politik dazu beigetragen haben, daß es in der Kunst nach 1945 kaum Werke einer Antikriegskunst gibt, die ähnliche Bedeutung erlangt hätten wie die Bilder eines Picasso oder Dix. Der Krieg, insbesondere der machbar gewordene atomare Krieg ist in der Kunst der 50er Jahre, die die abstrakte Moderne als Befreiung von der Fessel des Gegenständlichen und als künstlerische Weltsprache feierte, kaum ein Thema; dies gilt auch noch, als Ende der 50er Jahre die „Kampf dem Atomtod“-Bewegung ein Bewußtsein von den Gefahren des atomaren Zeitalters zu entwickeln versuchte. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Arbeiten des niederländischen Malers Constant, der 1950/51, vermutlich unter dem Eindruck des Koreakrieges, in der Sprache der abstrakten Kunst den Krieg thematisiert. In der an realistische Traditionen anknüpfenden Kunst der DDR ist ab etwa Mitte der 50er Jahre erstmals eine Auseinandersetzung mit der atomaren Bedrohung zu beobachten.14 Die USA geben Anlaß, sich an Hiroshima zu erinnern: Am 1. November 1952 zündeten sie die erste Wasserstoffbombe; 1954 führten sie auf den Marshallinseln Wasserstoffbombentests durch. - Im Jahr 1958 malt Werner Tübke unter dem Titel „Hiroshima“ drei Gemälde; sie gehören zu den wenigen Bildern, die konkret auf die atomare Zerstörung der japanischen Stadt Bezug nehmen. Erst in den 60er und 70er Jahren entstehen in der Folge der Politisierung durch die Studentenbewegung sowie der Proteste gegen den Vietnamkrieg in größerem Umfang Arbeiten, die sich mit Krieg, Gewalt und Faschismus auseinandersetzen. Die Abwendung der westlichen Kunstszene von der abstrakten Moderne und ihr zunehmendes Interesse an neuer Gegenständlichkeit werden dazu beigetragen haben, daß sich die Aufmerksamkeit für eine politisch engagierte Antikriegskunst schärfte. Die Beiträge zum Thema von Renato Guttuso, Duane Hanson, der Equipo Cronica, Peter Sorge, Rudolph Schoofs, Alfred Hrdlicka, Bernhard Heisig, Jochen Hiltmann - die Reihe ließe sich fortsetzen - sind zahlreich und zeigen ein großes inhaltliches und formales Spektrum. In einem Teil dieser Antikriegsbilder wurde die Erinnerungsarbeit nachgeholt, zu der sich die meisten Künstler in den ersten Nachkriegsjahren nicht oder nur selten in der Lage sahen.

Der 2. Weltkrieg wurde in diesen späten Nachkriegsbildern nicht auf der Ebene symbolischer Verallgemeinerung beschworen, sondern in der Regel sehr konkret im Hinblick auf bestimmte Ereignisse problematisiert. Bekannt wurde vor allem „Das transportable Kriegerdenkmal“ von Edward Kienholz aus dem Jahr 1968. Kienholz erinnert in diesem großen Tableau an die Flaggenhissung auf dem Suribachi, dem höchsten Berg der japanischen Insel Iwo Jima, die von amerikanischen Truppen am 23. Februar 1945 nach einem der blutigsten Tage des 2. Weltkriegs erobert wurde - bei der Erstürmung der Insel wurden allein 6821 Amerikaner getötet. Das heroische Bild erschien auf 3 Cent Briefmarken; es wurde in Papiermache nachgebildet, in Hamburgers, in Butter, in Eiscreme, und es wurde nachgegossen für ein hundert Tonnen schweres Bronze-Memorial auf dem Soldatenfriedhof von Arlington. Kienhole macht daraus den ironisch-bösen Vorschlag eines „transportablen Kriegerdenkmals“ für den Vietnamkrieg und die folgenden Kriege, ein mobiles Gerät, das immer und überall zur Verfügung steht, abstellbar bis auf weiteres im „friedlichen“ Alltag neben „Hot dogs“ und Coca Cola.15

Alle diese Werke rechnen, wie indirekt und vermittelt auch immer, mit der Möglichkeit neuer Kriege. Sie tun dies allerdings nur selten in der Antizipation eines letzten, atomaren. Erst in der Kunst der 80er Jahre nehmen unter dem Druck der sogenannten Nachrüstung mit der Zunahme endzeitlicher Vorstellungen auch die Bilder vom atomaren Holocaust zu.1982 entstehen Arnulf Rainers Zyklus „Hiroshima“ und Robert Morris „Feuersturmserie“, 1983 Joseph Beuys „Ende des 20. Jahrhunderts“, 1984 Armans in Bronze gegossenes Ensemble verbrannter Möbel „The day after“. Auch die „Jungen Wilden“ entdecken die Bombe, das Ende der Menschheit, die Apokalypse.16 In diesen und anderen Versuchen, sich ein Bild zu machen von der drohenden atomaren Katastrophe und in den sie begleitenden Analysen und Interpretationen hat das apokalyptische Denken Konjunktur.17 Es beherrscht nicht nur die Köpfe einiger Künstler und Kunsthistoriker. Wie ein letztes Zerfallsprodukt von Aufklärung greift es um sich. Selbst der amerikanische Präsident ist davon überzeugt, in einer Zeit zu leben, in der sich Armageddon, der letzte Kampf zwischen Gut und Böse ankündigt. Er hat es Thomas Dine, dem Chef eines Komitees, das sich für gute Beziehungen zwischen den USA und Israel einsetzt, verraten: „Wie Sie wissen, gehe ich immer wieder auf eure alten Propheten im Alten Testament und auf die Anzeichen zurück, die Armageddon ankündigen. Ich ertappe mich dabei, daß ich mich frage, ob wir die Generation sind, die erlebt, wie das auf uns zukommt. Ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit eine dieser Prophezeiungen wahrgenommen haben. Aber glauben Sie mir, sie beschreiben ganz gewiß die Zeit, die wir jetzt erleben.“18 Ronald Reagan hat seine Verstärker: Eine in den letzten Jahren in den USA entstandene Popkultur verbreitet in Abenteuerromanen, Musikvideos, Filmen, Comic Strips und nicht zuletzt - über die christlichen Fernsehsender die Botschaft, daß die Apokalypse, die als Atomkrieg kommen und unvermeidbar sein werde nicht das absolute Ende darstelle, sondern eher den rettenden Durchgang zu einem besseren Leben in Frieden, Freiheit und ohne die Russen.19

„Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung?“20

Welche Möglichkeiten haben Künstler, mit diesen herrschenden Untergangsphantasien und Endzeitvisionen umzugehen und den auf Einverständnis und Gewöhnung zielenden Armageddonbotschaften zu widersprechen? Es wird vermutlich nicht ausreichen, in der Darstellung der verheerenden Wirkungen eines Atomkriegs diesen als heillosen und hoffnungslosen vor Augen zu führen, oder gar, wie Robert Morris dies mit den Großformatigen, ganze Räume ausfüllenden Kohlezeichnungen seiner „Feuersturmserie“ versuchte, den Betrachter in das Zentrum solch eines atomaren Szenarios zu stellen. Es wird wahrscheinlich auch nicht ausreichen, was Gerda Dassing in einem Poster „The last photo“ von 1981 versucht, aus der entgegengesetzten Perspektive des himmelweit Entfernten ein letztes Bild von der atomaren Zerstörung der Erde zu vermitteln. In der langen Geschichte der Kriegsdarstellungen waren die Bilder, Symbole, Visionen der Apokalypse immer wieder eine Möglichkeit, Vorstellungen von der Ungeheuerlichkeit erlebter Schrecken, von unerträglichen Leiden, von Bedrohung und Untergang zu vermitteln, dies auch dann noch, als eine Säkularisierung der einst biblischen Thematik einsetzte. Die atomare Situation legt es heute offenbar weiterhin nahe, in apokalyptischen Bildern von Gefahren und Ängsten zu sprechen bzw. Bilder entsprechend zu deuten.

So richtig die Feststellung des qualitativ Neuen eines Atomkriegs ist, so fragwürdig erscheint es aber, wenn die Vorstellung von der großen Katastrophe als dem schlechthin Beispiellosen, noch nie Dagewesenen sich Bilder des Schreckens schafft, die in dem Maße, wie sie dem Neuen des nuklearen Krieges zu entsprechen suchen, sich von der Realität, in der wir (noch) leben, entfernen: von Rüstungsmaßnahmen, militärischen Konzepten, technologischen Entwicklungen, ökonomischen Strategien, politischen Entscheidungen. In der finsteren apokalyptischen Zukunftsperspektive ist jedes Bewußtsein von Geschichte gelöscht und jeder politisch-gesellschaftliche Handlungshorizont ausgeblendet.21 Vom ganz Anderen führt kein Weg mehr zurück. „Das apokalyptische Denken, das ja in Wirklichkeit ein parareligiöses ist, hat jedoch nicht nur unsere politischen Wünsche, Ansprüche und Utopien auf ein Minimum zurückgeschraubt, es hat auch das politische Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen nachhaltig beeinträchtigt.“ 22 Es hat den Anschein, als gelte dies heute in besonderem Maße für die bildende Kunst. Hier wird mehr noch als anderswo die akute Bedrohung unserer Gattung weithin nicht mehr als ein konkretes politisch-ökonomisch-militärisches Problem behandelt, sondern als ein anthropologisches, ethisches bzw. religiöses. Das apokalyptische Denken, das sich das Schlimmste vorzustellen versucht, erspart sich in aller Regel den Blick auf das, was dieses Unvorstellbare möglicher und wahrscheinlicher machen wird. Es erspart sich auch den Blick auf vergangene Kriege und die Bilder, die wir von ihnen haben. Sie erscheinen konventionell und nicht zu vergleichen, Kriege (und Bilder), die man vergessen kann. Der Versuch, derart der Unvorstellbarkeit atomarer Vernichtung gerecht zu werden, gehört wohl auch zu den von manchen Künstlern verinnerlichten Strategien der Abwehr von Erinnerung und Erfahrung. Dies hat zur Folge, daß sich die antizipatorischen Anstrengungen der Künstler vielfach auf die manifesten und bekannten Erscheinungsformen des nuklearen Krieges fixieren, auf die charakteristische Pilzform, den schwarzen Regen, die Schatten verglühter Menschen, den Feuersturm. Die apokalyptische Zuspitzung bleibt in der Nähe der Effekte. Sie ist damit allerdings noch realitätsnäher als die apokalyptische Spekulation so mancher Interpreten, die in solchen Bildern nur noch Endzeitliches vermuten, nur noch Gefühle des Untergangs und des Todes. Daß z.B. Arnulf Rainers Hiroshima-Zyklus auch die Verarbeitung einer bestimmten historischen Erfahrung, eines konkreten Ereignisses ist und sich mit Dokumenten dieses Ereignisses auseinandersetzt, hat dann mit der „eigentlichen“ Bedeutung der Blätter wenig zu tun.23 Ohne die Einsicht in vergangene Schrecken, ohne den Versuch, sich über deren Zustandekommen und deren Folgen Klarheit zu verschaffen, ohne die Erkenntnis, daß das Vergangene nichts war als „Menschenwerk“, bleibt die Antizipation drohenden Unheils ohnmächtig, resignativ und melancholisch ihren eigenen apokalyptischen Phantasien unterworfen.

Die Rückgewinnung von Erinnerung und die Überwindung der verbreiteten Erfahrungsarmut erscheinen als wichtige, vielleicht einzige Möglichkeit zu verhindern, daß Phantasie und Vorstellungskraft sich zunehmend von der Realität entfernen, um schließlich in den apokalyptischen Bildern eines Kriegs der Sterne die Schrecken vergangener Kriege endgültig zu vergessen und den kommenden Krieg als ein vielleicht schreckliches, aber vor allem großartiges und überwältigendes Ereignis zu imaginieren. Diese abgehobene Phantasie hat Günther Anders nicht gemeint, als er immer wieder eindringlich für eine Erweiterung unserer Vorstellungskraft plädierte.24 In dem „Land der Phantasie“, von dem er sich noch realistische Perspektiven erhofft, „beflügelt“ die Erinnerung die Antizipation dessen, was da angeblich auf uns zukommt, als sei dies nicht unsere eigene selbstzerstörerische Bewegung auf einen Krieg hin, der wie alle vorausgegangenen mit bestimmten Interessen geplant und geführt werden wird. Ausgerechnet vor dem Imperial War Museum in London hing im Februar dieses Jahres ein großes Transparent, das mit der Aufschrift „Give your past a future“ für den Erhalt und Ausbau des Museums warb. - Dabei wären die apokalyptischen Bilder nicht zu verdrängen. Es ginge vielmehr darum, die in ihren Motiven enthaltenen Ängste, Wünsche, Bedürfnisse, Interessen zu dechiffrieren und zu ermitteln, was sie eigentlich meinen, woher sie kommen und worauf sie zielen und warum ihr konkreter Zusammenhang „vergessen“ wurde. Auch dies wäre ein Teil notwendiger Erinnerungsarbeit.

Im März dieses Jahres war im Fernsehen in einer vierteiligen Folge ein Film zu sehen, der sich mit dem Problem des Vergessens und der Notwendigkeit des Sich-Erinnerns befaßt: „Shoah“ von dem Journalisten und Filmemacher Claude Lanzmann. („Shoah“ ist ein hebräisches Wort und bedeutet großes Unglück, Katastrophe.) Lanzmann hat in diesem Film Überlebende aus deutschen KZs befragt, aber auch die Täter, ehemalige Nazis und Beteiligte des damaligen Bürokratie - und Verwaltungsapparates. Mehr als zehn Jahre hat Lanzmann an diesem Film gearbeitet, ein zäher und mühseliger Versuch das Vergessen aufzuhalten. Lanzmann ruft die Opfer als Zeugen auf, nötigt sie, in das eigene Vergessen einzudringen und zu berichten. Deutlich wird, wie schwer, wie schmerzlich die Erinnerung ist; es ist in der Tat eine Arbeit. Es kommt vor, daß die Befragten nicht mehr weitersprechen können, nicht mehr wollen. Lanzmann läßt nicht los, sagt: „Sprechen Sie weiter. (...) Sie müssen. Es ist notwendig. (...) Ich bitte Sie. Wir müssen das machen. Sie wissen das. (...) Ich weiß, daß es hart ist, ich weiß, verzeihen Sie mir. (...) Ich bitte Sie, fahren Sie fort.“25

Anmerkungen

1 Dies ließe sich besonders deutlich am Beispiel von Otto Dix zeigen, der in seinen Bildern fast zwanzig Jahre lang seine Erfahrung des 1. Weltkriegs thematisiert hat. Das letzte große Gemälde „Das Schlachtfeld in Flandern“, das Dix in den ersten Jahren des Faschismus 1934-36 man, steht neben anderen Werken, die, wie z. B. Lea Grundigs Radierfolge „Krieg droht!“ von 1936, auf die Konsequenzen faschistischer Politik hinweisen. In diesem Zusammenhang der Antizipation eines neuen Krieges wird Dix spätes Nachkriegsbild zu einem Bild vom kommenden Krieg, zum Vorkriegsbild. Zurück

2 Jonathan Schell: Das Schicksal der Erde, in: Peter Keckeis (Hrsg.): Wacht auf! Eure Träume sind schleht! Wo Friede beginnt. Stuttgart 1983, S. 153. Zurück

3 Vgl. Arnulf Rainer: Hiroshima, in: A. Rainer, Hiroshima Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982. Zurück

4 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut, in: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II,1., hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 214. Zurück

5 Ebd., S. 215. Zurück

6 Ebd. Zurück

7 Ebd., S. 219. Zurück

8 Alexander und Margarethe Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu treuem. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967, S. 9. Zurück

9  Vgl. Wolfgang Freiherr von Löhneysen: Franz Radziwill, in: Die Kunst und das schöne Heim, H. 4, Jan. 1957, S. 128.Zurück

10 Vgl. Jutta Held: Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945-49. Kulturaufbau in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Berlin (West) 1981, bes. S. 53 ff. Zurück

11 Werner Haftmann: Lachende Totenköpfe. Zum Radierzyklus „Der Krieg“ von Otto Dix, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 90 vom 14. April 1984. Zurück

12 Vgl. Anm.10; Zwischen Krieg und Frieden. Buch zur Ausst. Hrsg. vom Frankfurter Kunstverein. Berlin (West) 1980; Hermann Raum: Die bildenden Künste der BRD und Westberlins. Leipzig 1977. Zurück

13 Zit. nach Peter Crome: Bilder aus der Hölle, die Hiroshima hieß, in: Frankfurter Rundschau Nr. 181 vom 8. Aug.1983, S. 11.Zurück

14 Vgl. Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR. Leipzig 1983, S.58 f. Zurück

15 Vgl. Rainer Fabian (Text) und Hans Christian Adam: Bilder vom Krieg.130 Jahre Kriegsfotografie - eine Anklage. Hamburg 1983, S. 264 f. Zurück

16 Vgl. Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag. Ausst. Kat. Hrsg. von Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek. Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein 1985. Zurück

17 Vgl. Michael Schneider: Bomben-Existenzialismus, in: Debatte, H. 1, Sept.1984, S. 47-53. Zurück

18 Zit. n. Klaus Christian Wanninger: Predigt für Ronald Reagan. Der Präsident und die Apokalypse. Düsseldorf 1984, S. 6. Zurück

19 Vgl. Konrad Ege: I love the bomb, in: Konkret, H. 4, April 1986, S. 52-55. Zurück

20 Titel des in Anm.16 genannten Katalogs. Zurück

21 Vgl. Peter Furth: Troja hört nicht auf zu brennen. Über die Bewirtschaftung der Toten, in: Debatte, H. 2, Febr.1986, S. 6-25. Zurück

22 Michael Schneider: Das Gespenst der Apokalypse und die Lebemänner des Untergangs, in: Apokalypse (Anm. 16), S. 359. Zurück

23  Vgl. Arnulf Rainer, Hiroshima. Werkgruppe aus 57 Bildern. Ausst. Kat. Bochum 1982, s. p., Klappentext.Zurück

24 Günther Anders: Thesen zum Atomzeitalter, in: Das Argument 17, 2. Jg. Okt. 1960, S. 226-234, bes. S. 228 f. Zurück

25 Claude Lanzmann: Shoah. Düsseldorf 1986, S. 158. Zurück

Dr. Annegret Jürgens-Kirchhoff ist Kunstwissenschaftlerin, z. Zt Vertretungsprofessur an der Univ. Osnabrück.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/3 1986-3/4, Seite