W&F 2019/1

NATO-Austritt der Türkei?

von Axel Gehring

Spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 und den russisch-iranisch-türkischen Astana-Verhandlungen zur Beilegung des Syrienkriegs scheint ein grundlegender Wechsel in der bündnispolitischen Orientierung der Türkei begonnen zu haben. Think Tanks, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, spekulieren bereits über einen türkischen NATO-Austritt (Hähnlein et. al. 2018). Doch wie realistisch ist das, und welche politischen Implikationen haben derartige Spekulationen? Für eine Antwort ist es notwendig, den Analyserahmen über unmittelbar außen- und militärpolitische Interessen und diskursive Stimmungen hinaus zu erweitern. Hierfür ist es erforderlich, soziale Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen, die türkische NATO-Mitgliedschaft stärker historisch zu betrachten und die hochgradig institutionalisierten ökonomischen Strukturverhältnisse einzubeziehen.

Die Einbindung der Türkei in die transatlantische Ordnung begann unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Damals machte die türkische Regierung gegenüber den USA die strategisch wichtige Lage des Landes im Kontext der beginnenden Blockkonfrontation geltend und verwies dabei auf das sowjetische Vorhaben, Truppen nahe des Bosporus zu stationieren.

Dieses türkische Ersuchen um Einbindung in die entstehende transatlantische Ordnung entsprang vor allem einer grundlegenden Verschiebung der sozialen Kräfteverhältnisse im eigenen Land (Gehring 2019): Im Laufe des Zweiten Weltkrieges war das etatistisch-kemalistische Entwicklungsmodell unter Druck geraten, und eine Handelsbourgeoisie hatte an Stärke gewonnen. Sie drängte nicht nur auf die Etablierung eines Mehrparteiensystems, sondern war die wesentliche Trägerin einer Westintegration, welche die neuen Kräfteverhältnisse im Land und die marktwirtschaftliche Reorientierung durch einen externen Anker gegen potentielle innere Widerstände absichern sollte. 1945 trat die Türkei dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und 1946 dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) bei. Ab 1947 nahm sie auch am European Recovery Program (Marshallplan) teil. Bereits früh war sie tief in die institutionellen Strukturen der US-Hegemonie der Nachkriegszeit integriert und wurde 1952 in die NATO aufgenommen. Die militärische Integration komplementierte damit die ökonomische Einbindung in die transatlantische Ordnung. 1959 folgte das Ersuchen um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die sich komplementär zur US-Hegemonie entwickelt hatte.

Umkämpfte Popularität des Westens und der NATO

Die gegenwärtige Krise der Türkei-NATO-Beziehungen ist keineswegs singulär, die NATO-Mitgliedschaft und die Präsenz westlicher Truppen waren in der Türkei nie unumstritten. In den 1960er Jahren wurden die Besuche US-amerikanischer Flottenverbände zu wichtigen Ereignissen der Mobilisierung der politischen Linken. Der Gründungsmythos des türkischen Staates war ein antiimperialistischer – die Republik war anfangs mit sowjetischer Unterstützung aufgebaut worden –, daher wirkten NATO-kritische Positionen lange Zeit bis weit in das sozialdemokratisch-kemalistische Lager und auch in Teilen des türkischen Militärs. Das islamistische Spektrum lehnte die Mitgliedschaft ab. Beide Lager verfolgten ökonomische Konzeptionen, die auf eine stärkere Unabhängigkeit von westlichem Kapital setzten, als es die konservativ-liberalen Kräfte taten. Letztere waren eng mit den Interessen der großen Holdinggesellschaften verbunden und traten am aktivsten für die Westintegration der Türkei ein (Yalman 2009).

Während des Kalten Krieges wurden daher seitens des Westens umfangreiche hegemoniale Konzessionen an die Türkei gemacht: Sie durfte weit von liberalkapitalistischen Entwicklungsparadigmen abweichen, nachdem diese das Land Ende der 1950er Jahre in eine tiefe soziale und ökonomische Krise geführt hatten. Das neue Projekt einer importsubstituierenden Industrialisierung erschwerte den Zugang zum türkischen Markt und sorgte für regelmäßige Konflikte mit der Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft, mit der die Türkei seit 1964 assoziiert war. Zugleich aber blieb sie auf westliche Finanzhilfen und Kredite angewiesen. Ihre inneren Widersprüche sowie der Siegeszug des Neoliberalismus in den kapitalistischen Zentren führten Ende der 1970er Jahre zum Scheitern der importsubstituierenden Industrialisierung und 1980 zum Militärputsch, der (gegen den Willen der Bevölkerung) den Weg für die radikale neoliberale Transformation öffnete.

Neoliberale Integration in den Westen und autoritärer Populismus

Die Transformation kulminierte in den 1990er Jahren in der Revitalisierung des (nunmehr) EU-Beitrittsprojektes. Die Türkei leitete seit dem Abschluss der Zollunion mit der EU (1996) weite Teile ihrer ökonomischen Handlungskompetenzen aus den Verträgen mit der EU ab. So wurde die breite Masse der Bevölkerung von jeglicher Einflussnahme auf grundlegende wirtschaftspolitische Entscheidungen ausgeschlossen – EU- und IWF-Politiken waren gewollt komplementär zueinander.

In den 2000er Jahren konnte die Türkei im Kontext der neoliberalen Reformen zunächst hohe und stabile Wachstumsraten erzielen. Seit dem Ausbruch der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/8 flossen internationale Investitionen jedoch längst nicht mehr so leicht in die Türkei. Die AKP-Regierung suchte nach Möglichkeiten, das Wachstum aufrechtzuerhalten. 2008 verzichtete die türkische Regierung auf ein weiteres Beistandsabkommen mit dem IWF. Dies gab ihr einen größeren Spielraum, neben deflationär wirkenden orthodox-neoliberalen Politiken zugleich populistisch-klientelistische Sozialpolitiken zu verfolgen, die nicht auf sozialen Rechten, sondern auf Loyalitätsbeziehungen basieren. Die industriellen Beziehungen blieben derweil von einem restriktiven Gewerkschaftsregime geprägt.

Um das Wachstum der stark neoliberalisierten Ökonomie aufrechtzuerhalten, lancierte der türkische Staat zudem mehr und mehr öffentlich-private Großprojekte. Lokale Widerstände gegen solche Projekte wurden – wie seit Jahrzehnten üblich – in der Regel mit staatlicher Härte gebrochen. Die Kompetenzen zur Durchführung der expansiv-neoliberalen Politik wurden in wachsendem Maße in Sonderbürokratien angesiedelt, die unmittelbar Tayyip Erdogan rechenschaftspflichtig waren. Die Unabhängigkeit bestehender neoliberaler Regulierungsagenturen, wie der Zentralbank, wurde sukzessive ausgehöhlt. Das Aufkommen des populistisch-expansiv-neoliberalen Paradigmas und der autoritäre Populismus in der Türkei bedingten sich also gegenseitig (Gehring 2019).

Bündnispolitische Wende im Kontext des Syrienkrieges?

Türkische Unternehmen investierten seit Mitte der 2000er Jahre verstärkt in den arabischen Nachbarstaaten der Türkei, aber auch im post-sowjetischen Raum. Insbesondere in den arabischen Staaten wurde diese Expansion durch eine häufig als »neo-osmanisch« bezeichnete Außenpolitik abgesichert. Diese türkische Außenpolitik wurde im Westen lange als komplementär zu den eigenen Interessen wahrgenommen; die autoritäre Transformation wurde übersehen und die Türkei stattdessen für ihr fortgesetztes Wachstum bewundert. Kurz: Sie galt seit den 2000er Jahren als ein »Role Model« eines Landes, das Islam, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung in Einklang brachte. Entsprechend wurde die aktive Rolle der Türkei in ihren Nachbarstaaten begrüßt und damals nicht etwa als Abwendung vom Westen debattiert – denn das als NATO-Staat in den Westen integrierte Role Model schien die Wirkmacht des Westens in der Region zu vergrößern (Tugal 2017).

Dies galt auch zu Beginn der Umstürze in zahlreichen arabischen Staaten ab Anfang 2011. Dennoch markierten gerade diese Entwicklungen jenen Punkt, der wenig später als Beginn einer Abkehr vom Westen diskutiert werden sollte. Doch zunächst schienen türkische und westliche Interessen weitestgehend komplementär zu sein: Die Türkei betrieb nicht mehr nur Außenpolitik von Regierung zu Regierung, sondern unterstützte gemäß ihrer Konzeption der »Strategischen Tiefe« (Davutoglu 2001) vor allem islamistische Kräfte in den postrevolutionären Prozessen – in der Folge fehlten ihrer Außenpolitik Ansprechpartner*innen jenseits dieses Spektrums (Tugal 2017). Der Sturz der Muslimbruderschaft zeigte schnell die Grenzen dieses Ansatzes auf: Die Türkei war nicht nur jeder weiteren Einflussmöglichkeit auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ägypten beraubt, sondern es setzte eine fortdauernde diplomatische Eiszeit zum neuen Regime ein. Auch die Beziehungen zum Gegenspieler der Muslimbruderschaft – Saudi Arabien – verschlechterten sich.

In Syrien schienen die Dinge für die Türkei zunächst besser zu laufen: Sie setzte nach der Eskalation der Revolte gegen das Baath-Regime auf eine disparate Koalition islamistischer Kräfte, die sich unter dem Banner der Freien Syrischen Armee zusammenfand. Ähnlich wie zahlreiche westliche Staaten formulierte die Türkei das Ziel eines Sturzes der syrischen Regierung – die logistische Unterstützung aus der Türkei war dafür sogar eine unabdingbare Voraussetzung. In dem nicht zuletzt infolge der türkischen Politik konfessionalisierten Bürgerkrieg blieben jedoch erhebliche Teile der Bevölkerung loyal zum Regime, das seine Truppen zunehmend im Westen des Landes konzentrierte. Im kurdischen Raum des Landes konnten sich in der Folge Autonomiestrukturen unter der Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) bilden. Einer schweren Attacke seitens des Islamischen Staates ausgesetzt, avancierte die PYD ab 2014 zu einer Schlüsselpartnerin der US-amerikanischen Außenpolitik. In den folgenden Jahren führte sie das Bündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte an, die weite Teile Nord- und Ostsyriens vom Islamischen Staat befreiten.

Während dies eine erhebliche Niederlage für die türkische Außenpolitik darstellte, begann Russland ab Herbst 2015, das syrische Regime unmittelbar militärisch zu unterstützen. Die scharfe türkisch-russische Konfrontation führte zu russischen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, und währenddessen schwand jede Perspektive auf einen Sturz des Baath-Regimes.

Mit einer US-gestützten kurdischen Selbstverwaltung im Norden und dem sich abzeichnenden Sieg der syrischen Regierung im Rest des Landes stand die Türkei vor einem außenpolitischen Desaster. Nun wurde die Außenpolitik einer grundlegenden Revision unterzogen. Der Architekt der neo-osmanischen Außenpolitik, Ahmet Davutoglu, musste im Mai 2016 sein Amt als Ministerpräsident aufgeben, die Außenpolitik gegenüber Russland wurde neu ausgerichtet, und Russland hob sein Embargo auf. Auch der Putschversuch im Sommer 2016, den die AKP der in den USA ansässigen Gülenbewegung anrechnete, sorgte für eine Annäherung zwischen der Türkei und Russland.

Doch vor allem der Ende 2016 gestartete russisch-türkisch-iranische Astana-Prozess zur diplomatischen Beilegung des Syrienkrieges wird häufig als Indiz für einen möglichen Bündniswechsel der Türkei gewertet. Dabei werden Interessensdivergenzen übersehen: Die gemeinsam vereinbarte Schaffung von so genannten Deeskalationszonen in umkämpften Rebellengebieten hatte der syrischen Regierung 2017 die Rückeroberung großer Teile des Landes bis zum Euphrat ermöglicht. Nach Abschluss dieser Offensiven wurden weitere Deeskalationszonen mit militärischer Gewalt und gegen den Willen Ankaras aufgelöst. Um Ankara in diesen Prozess einzubinden, hatte die russische Regierung den türkischen Angriff auf Afrin zugelassen.

Russland wertete über den Astana-Prozess die Türkei nicht etwa zu einer gleichberechtigten Verhandlungspartnerin auf, sondern dieser Prozess sollte ihren schrittweisen militärisch-diplomatischen Rückzug aus dem Konflikt gesichtswahrend regeln. Es gilt im Grunde der fragile Deal: Ankara gibt die Unterstützung für den Sturz der syrischen Regierung auf und darf im Gegenzug die kurdische Autonomieverwaltung im Norden unter Druck setzen, um zumindest Minimalziele zu erreichen. Wie der andauernde Disput um den zukünftigen Status von Idlib (einem der letzten Rebellengebiete) zeigt, fällt es der Türkei schwer, sich diese Niederlage einzugestehen.

Von einer grundsätzlichen gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessenlage zwischen der Türkei und Russland in Syrien kann also keine Rede sein. Vielmehr haben zwei konkurrierende Mächte eine Möglichkeit gefunden, ihren lokalen Disput zu regulieren und den kleinsten Nenner ihrer Interessen zu bestimmen: die territoriale Integrität Syriens. Für Moskau bedeutet dies die maximale Stärkung der Zentralregierung in Damaskus und für Ankara die maximale Schwächung der kurdischen Autonomiestrukturen.

Obwohl die Verhinderung einer kurdischen Autonomie zur türkischen Staatsräson gehört, greift es zu kurz, die gesamte türkische Außenpolitik auf diese Frage zu reduzieren oder gar zu postulieren, die Türkei würde aufgrund dieser Frage die NATO verlassen. Zudem erscheinen die Differenzen im Lichte der jüngsten US-Entscheidung, die eigenen Truppen wieder aus Syrien abzuziehen, als eine temporäre Unstimmigkeit, die dem besonderen Kontext des Krieges gegen den Islamischen Staat entsprang.

Vor allem aber greift es zu kurz, die Frage der türkischen NATO- und Westintegration primär anhand von Außen- und Miltärpolitik zu debattieren. Außenpolitik entfaltet sich als Politik eingebettet in soziale Kräfteverhältnisse (Cox 1987) – die transatlantisch-europäische Ordnung ist ein solches soziales Kräfteverhältnis: Die türkische Regierung ist keine Handlangerin US-amerikanischer oder deutscher Interessen, sie konzipiert ihre Außenpolitik vielmehr innerhalb der transatlantisch-europäischen Ordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als eine sich rasch transnationalisierende sozioökonomische Ordnung konstituiert hatte. Wie jede Regierung trägt die Türkei Konflikte mit anderen Regierungen aus, die innerhalb dieser Ordnung agieren. Dies kann sie nicht zuletzt, weil sie sich sozioökonomisch auf den Schultern dieser Ordnung reproduziert. Wie bereits erwähnt, fand die Integration der Türkei in die NATO komplementär zu ihrer sozioökonomischen Integration in die transatlantische Ordnung statt, die später um die europäische Komponente ergänzt wurde. Es stellt sich also die Frage, wie es um die Integration der Türkei in die europäisch-transatlantische Ordnung bestellt ist.

Wachsende Verflechtung mit dem Westen

Um die tatsächliche Tiefe der gegenwärtigen Krise zwischen dem Westen und der Türkei bestimmen zu können, ist es wichtig, auch soziale Kräfteverhältnisse als außenpolitisch relevant zu betrachten: Die Regulierung der türkischen Wirtschaft nach dem Post-Washington-Konsens, der für einen besonders rigiden Neoliberalismus steht, wurde zwar im Zuge der autoritär-populistischen Politik seit 2007/8 gelockert, doch die wichtigsten ökonomischen Akteur*innen in der Türkei sind die Richtung Westen integrierten Holdinggesellschaften. Konkret leiden sie unter einem stark gesunkenen Wechselkurs zu den Währungen US-Dollar und Euro, in denen sie sich auf den internationalen Finanzmärkten verschuldet haben (Gehring 2018). In ihrem Versuch, die Krisendynamik zu begrenzen, hat sich die türkische Regierung lange darum bemüht, nicht auf die Unterstützung westlicher Staaten und Institutionen zurückzugreifen. Doch genau diese Strategie ist weitgehend gescheitert und mit ihr auch das populistisch-expansive neoliberale Projekt. Abgesehen von Katar sind keine Staaten bereit, signifikant in die Türkei zu investieren und so den Wechselkurs der Lira zu stabilisieren. Insbesondere das Engagement der beiden umworbenen Staaten China und Russland blieb weit hinter den türkischen Erwartungen zurück, bedeutsame Investitionen wären aber eine notwendige Voraussetzung für einen Wechsel des Bündnisses. Vor allem aber stellt sich die Frage: Besitzt Russland überhaupt die ökonomischen Kapazitäten, der Türkei eine realistische Alternative zum Westen zu bieten? Russland verfügt mit 1,5 Billionen US$ über ein Bruttoinlandsprodukt, welches etwas kleiner ist als das Italiens. Bei einer qualitativen Betrachtung der ökonomischen Beziehungen fällt zudem auf, dass Russland bei Importen zwar mit knapp 20 Milliarden US$ der drittgrößte Handelspartner der Türkei ist, jedoch das Gros des Handels auf Energieimporte entfällt. Außerdem wächst die Handelsverflechtung der Türkei mit dem weit größeren Haupthandelspartner EU quantitativ schon seit Jahren wieder.

Die sozioökonomische Verflechtung ist allerdings keine rein quantitative ökonomische Größe, sie vollzieht sich vielmehr in Gestalt einer umfassenderen Integration in die transatlantisch-europäische Ordnung. Die Paradigmen und Praxen, die den ökonomischen Austausch regulieren, sind Teil dieser Ordnung. Die neoliberalen Paradigmen und Praxen des Post-Washington-Konsenses wurden in der Türkei wesentlich über das EU-Projekt verankert und werden von breiten Teilen der führenden Holdinggesellschaften getragen. In den letzten Krisenjahren ist nicht nur der Versuch gescheitert, eine populistische Alternative zu ihnen zu entwickeln, sondern auch der Versuch, die Wirtschaftskrise mit Hilfe nicht-westlicher Staaten zu bearbeiten. Im Laufe des Herbstes 2018 hat sich die türkische Regierung längst wieder westlichen Staaten zugewandt – nicht nur, weil es aus Russland und China keine signifikanten Finanzzusagen gab, sondern auch, weil die zwei Länder keine alternativen regulativen Paradigmen und Institutionen bereitstellen, die für die türkische Privatwirtschaft unabdingbar sind. Ein NATO-Austritt stünde in einem diametralen Widerspruch zur wachsenden Bedeutung der Westintegration für die Türkei.

Politische Folgen der Spekulationen über einen türkischen NATO-Austritt

Der Übermacht der ökonomischen Verflechtungen Richtung Westen, die sich tief in die produktiven, ökonomischen, sozialen und politischen Machtstrukturen der Türkei eingeschrieben haben, steht also eine begrenzte, höchst widersprüchliche und spannungsreiche Zusammenarbeit mit Russland auf einzelnen sicherheitspolitischen Feldern gegenüber. Letztere entspringt primär dem Bestreben einer Schadensbegrenzung, denn die Türkei hatte sich mit ihrer »neo-osmanischen« Außenpolitik schlicht verhoben und wurde in Syrien auf das Verfolgen von Minimalzielen zurückgeworfen, die ein Arrangement mit Russland zur Voraussetzung haben.

Spekulationen über einen möglichen NATO-Austritt der Türkei basieren wesentlich auf dem Außer-Acht-lassen sozialer Kräfteverhältnisse. Die Handlungskapazitäten des türkischen Staates werden überschätzt, spekulative Thesen werden formuliert. Mutmaßungen über einen NATO-Austritt tragen jedoch dazu bei, die Verhandlungsposition der Türkei gegenüber den anderen Staaten im Bündnis zu stärken. Gern lässt die türkische Außenpolitik ambivalente Sichtweisen über den Bestand der türkischen Westintegration aufkommen, ohne diesen aber selbst substanziell in Frage zu stellen. Solche Ambivalenzen sind auf gewisse Art zweckdienlich: Fast jedes »realpolitische« Zugeständnis kann mit dem Verweis gerechtfertigt werden, dass im Falle eines NATO-Austritts die Möglichkeiten westlicher Machtprojektion in der Region geschwächt würden und die Region durch eine weniger klare bündnispolitische Verortung der Türkei weiter destabilisiert würde.

Angesichts des geringen Realitätsgehaltes solcher Spekulationen gilt es vielmehr zu entgegnen, dass die türkische Außenpolitik auf den Schultern der transatlantischen Ordnung agierend ein erhebliches Problem für die Sicherheit und den Frieden in der Region darstellt. An die westliche Zurückhaltung während der Afrin-Offensive Anfang 2018 und drohende weitere türkische Invasionsvorhaben sei an dieser Stelle exemplarisch erinnert.

Literatur

Cox, R. (1987): Production, Power, and World Order – Social Forces in the Making of History. New York, Chichester: Columbia University Press.

Davutoglu, A. (2001): Stratejik Derinlik – Türkiye’nin Uluslararasi Konumu. Istanbul: Küre Yayinlari.

Gehring, A. (2018): Brüchige Stabilität – Die Türkei nach den Wahlen. Online-Artikel für die Zeitschrift Luxemburg, Juli 2018.

Gehring, A. (2019): Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes. Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen).

Hähnlein, R.; Kaim, M.; Seufert, G. (2018): Die Türkei verlässt die NATO. In: Brozus, L. (Hrsg): Während wir planten – Unerwartete Entwicklungen in der internationalen Politik. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Foresight-Beiträge 2018.

Yalman, G. (2009): Transition to Neoliberalism – The Case of Turkey in the 1980s. ?stanbul: Biligi University Press.

Tugal, Cihan (2017): Das Scheitern des türkischen Modells – Wie der Arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte. München: Antje Kunstmann.

Axel Gehring ist Politikwissenschaftler in Marburg. Seine Dissertation »Vom Mythos des starken Staates und der europäischen Integration der Türkei – Über eine Ökonomie an der Peripherie des euro-transatlantischen Raumes« zur EU- und Westintegration der Türkei aus Sicht führender türkischer Akteur*innen erscheint im März 2019 bei Springer VS.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/1 70 Jahre NATO, Seite 33–36