W&F 1997/2

NATO-Osterweiterung: Kein Mehr an Sicherheit

von Klaus Segbers

Bevor ich einige wesentliche Aspekte dieses Themenfeldes skizziere, möchte ich zwei Vorbemerkungen machen. Die erste weist darauf hin, daß die nachfolgenden Überlegungen aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive gemacht werden, daß sie aber auch noch einen weiteren Hintergrund haben – den der Erfahrung mit Politikberatung. Insofern handelt es sich um eine doppelte Perspektive. Zum zweiten – und das fällt bei diesem Thema immer wieder auf – ist die ganze Debatte über neue Sicherheitsarrangements in Europa durch eine bemerkenswerte analytische Unschärfe gekennzeichnet, vor allem angesichts ihrer öffentlichen Intensität. Den Gründen für die mangelnde Präzision bei der Behandlung dieses Themas gesondert nachzugehen, würde sich gewiß lohnen. An dieser Stelle möchte ich jedoch mit etwas anderem, damit teilweise aber Verbundenem beginnen: Mit Überlegungen zu der Frage, was eigentlich zweckmäßige Kriterien und Annahmen sind (oder sein können), um Sinn oder Unsinn von Regimeausdehnung in Europa für den Politikbereich Sicherheit zu beurteilen.

Zunächst sind allgemeine Fragen zu stellen, die hier nur am Rande zum Thema gehören und deshalb nur erwähnt werden: Erstens, welcher Europabegriff wird zugrunde gelegt? Ein enger oder breiter, ein geographischer oder ein historischer, ein kultureller oder funktionaler? Verschiedene Antworten sind möglich. Für diesen Zweck wird im folgenden ein funktional-pragmatischer Begriff untergelegt, d.h. für das Themenfeld Sicherheit der Raum, den die OSZE umfaßt, minus Mittelasien und Transkaukasus. In einem engeren »Europa« ist Sicherheit für West-Europa nicht wirksam zu organisieren.

Zweitens, das Ergebnis von Regime-Umbildungen sollte ein Mehr an erkennbarer Sicherheit für alle Beteiligten erbringen, nicht weniger. Dabei ist ein breiter Sicherheitsbegriff von Nutzen – mit militärischen, kulturellen und sozialen Dimensionen.

Drittens sollte die Debatte realistisch und unaufgeregt geführt werden. Es gibt wahrscheinlich unterschiedliche institutionelle Lösungen in Verschränkungen, nicht den einen »großen Wurf«. Auch nicht die NATO. Vor allem in Ostmitteleuropa und in Südosteuropa erinnert die aktuelle Erweiterungsdebatte gelegentlich an frühere nationale Befreiungs- und Wohlstands-Erwartungen, die mit dem Ausscheiden aus der Warschauer Vertragsorganisation und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe verbunden wurden, später dann mit dem Abzug der sowjetischen Truppen.

Viertens, funktionierende Mechanismen sollten nicht geschwächt werden. Das betrifft die Frage, was eine Erweiterung für die NATO selbst bedeuten würde – für ihre innere Stabilität, ihre Funktionsfähigkeit, interne Entscheidungsprozesse, die finanziellen Spielräume der Beitrittskandidaten wie der Maastricht-gebeutelten EU- und NATO-Mitglieder, und nicht zuletzt auch für die Glaubwürdigkeit des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages.

Ein für unsere Fragestellung ganz wesentliches Kriterium ist zweifellos, daß der Wandel in ganz Osteuropa nicht behindert werden darf. Ein wesentliches Argument der Erweiterungsbefürworter lautet ja, daß ein Stabilitätstransfer nach Osteuropa erreicht werden soll. Somit wäre also zu prüfen, ob eine solche Stabilitätsförderung in Osteuropa erwartbar tatsächlich stattfindet – nicht rhetorisch, sondern durch konkret verbesserte Bedingungen für die laufenden Wandlungsprozesse. Was sind die wirtschaftlichen Belastungen der Kandidaten wie der zunächst nicht in die Allianz Geladenen? Werden Brückenbildungen gefördert, oder würden neue Trennlinien etabliert?

Im Unterschied zu den genannten halte ich folgende, immer wieder angeführten Kriterien für nicht relevant oder für nicht eindeutig: historische Ableitungen, moralische Verpflichtungen und geopolitische Argumente. Aus solchen Überlegungen kann eine besondere Sorgfalt für die Einbindung Osteuropas – aller nationaler und kultureller Gruppen dort – in europäische Strukturen abgeleitet werden, auch die Verpflichtung, die historischen Wandlungsprozesse begleitend abzustützen. Konkrete Antworten für die Debatte über eine NATO-Osterweiterung oder gar über bestimmte, zu bevorzugende Länder können meiner Ansicht nach daraus nicht hergeleitet werden.

Beim Nachdenken über künftige, wirksame europäische Sicherheitsstrukturen kann schwerlich die nur auf den ersten Blick langweilige Frage ausgelassen werden, welche Analyseeinheiten wir sinnvollerweise – und realistischerweise – zugrunde legen können. Die Frage stellt sich deshalb, weil wir die große und begründete Debatte über Globalisierung und Fragmentierung parallel und anscheinend entkoppelt führen von der anderen Diskussion – der über europäische Sicherheit. Das geht aber schwerlich; es macht keinen Sinn, mit verschiedenen tragenden Bausteinen neuer Architekturen zu operieren.

Die bisherige Diskussion ist bisher beinahe rettungslos gefangen in einer Fixierung auf die europäischen Nationalstaaten, deren angebliche Interessen als Staaten und in Regimebildungsmodelle im Sinne suprastaatlicher und intergouvernementaler Mechanismen. Damit wird ein überholtes Bild internationaler Beziehungen bewahrt, dessen Akteursverständnis heute antiquiert ist.

Ohne die Einbeziehung nicht zentralstaatlicher, vor allem wichtiger sektoraler und regionaler Akteure in ganz Europa, ohne transnationale Akteure verschiedener Art werden allein aus dem tradierten Legobaukasten der Staatenwelt keine stabilen und zugleich flexiblen europäischen Sicherheitsgebilde zu formen sein.

Welche Aspekte einer möglichen Ausdehnung der NATO sind nun speziell für die Rußländische Föderation (RF) zu bedenken?

Dabei sind zunächst die in der Öffentlichkeit dominierenden »eigentlichen« Fragen zu trennen von den »realen«, das heißt von denjenigen, die die Akteure in der RF wirklich bewegenden. »Eigentliche« Fragen wären etwa solche, die absehbar ungünstige Veränderungen der strategischen Umgebung Rußlands, daraus resultierende Neubewertungen von Nuklearwaffen, Investitionsverschiebungen, zusätzliche Haushaltsbelastungen, eine Zurückstellung der wirtschaftlichen Stabilisierungspolitik u.v.m. thematisieren.

Diese werden aber nur von einer kleinen Handvoll von Experten in der RF in diesem Kontext debattiert. Wir sollten der Selbsttäuschung entgegenwirken, daß Fragen der internationalen Beziehungen oder der Außen- und Sicherheitspolitik in Rußland dominierende Themen wären. Das sind sie nicht – weder für die mit der schwierigen Alltagsorganisation beschäftigten Bevölkerung noch für die an Ressourcen und Positionen interessierten Eliten. Tatsächlich wird unser Thema in der RF weder substantiell noch prioritär debattiert, sondern überwiegend instrumentell.

Um diesen Punkt zu verstehen, ist ein Blick auf die Rahmenbedingungen sinnvoll, unter denen die relevanten Akteure in der RF agieren. Folgende Aspekte sind dabei jedenfalls zu beachten:

  • Es hat sich eine ausgeprägte, wenig organisierte Akteursvielfalt teils erhalten, teils neu entwickelt. Während zu sowjetischen Zeiten eine Zentralregierung sowjetische Politik mehr oder weniger konsistent nach außen vermitteln und vertreten konnte, gibt es seit dem Zerfall der UdSSR eine Vielfalt regionaler, sektoraler und klientelistisch verbundener Akteursgruppen, die die föderale russische Regierung entweder nach außen, meist folgenlos, gewähren lassen – solange es nicht ihren unmittelbaren Interessen widerspricht –, oder die durch ihre jeweiligen Vertreter im Regierungszentrum eigene Interessen äußern und durchzusetzen suchen. Wegen der labilen Kräfteverhältnisse, häufig wechselnder Koalitionen von Akteursgruppen und der allgemeinen institutionellen Schwäche führt die Akteursvielfalt zu oft schwer berechenbaren, oft zufällig wirkenden außenpolitischen Deklarationen und Manövern der in der Exekutive formal für Internationales zuständigen Akteure.
  • In der Folge davon sind keine aggregierten oder auch nur aggregierbaren nationalen Interessen der RF erkennbar. Diese Beobachtung ist für alle Fragen internationaler Politik von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die meisten westlichen Beobachter, Publizisten und Politiker verkennen den fragmentarischen, instabilen und fluiden Charakter der russischen Exekutive. Wenn dieser Punkt gesehen und akzeptiert wird, ergeben sich erhebliche Folgerungen für die Beziehungen zu russischen Akteuren. Wenn er nicht gesehen oder berücksichtigt wird, kann westliche Politik nicht realistisch sein. Das betrifft staatliche wie nichtstaatliche Akteure hier gleichermaßen. Sowohl Anhänger wie Skeptiker der NATO-Ausdehnung stimmen bei allen sonstigen Unterschieden jedenfalls zumeist darin überein, daß sie eine hohe Konsistenz russischer Institutionen und russischer Politik nach innen und außen unterstellen. Genau das trifft nicht zu.
  • Die Feststellung geringer politischer Konsistenz russischer Politik hat erhebliche Bedeutung für die Politik anderer Akteure gegenüber Rußland. Bei der absehbaren und anhaltenden institutionellen Schwäche russischer (staatlicher und gesellschaftlicher) Akteure können nur sehr begrenzt erfolgreiche Druck- und Belohnungsstrategien betrieben werden. Damit entfällt ein erheblicher Teil des traditionellen außenpolitischen Instrumentariums. Eine »Bestrafung« Rußlands wegen »Tschetschenien« ist angesichts fehlender Akteure, die solche Maßnahmen als wirkliche Beeinträchtigung empfinden, ebenso sinnlos, wie Versuche von Einbindung oder Ausgrenzung, die auf vorerst nicht konsistente und somit weder einbindbare noch ausschließbare Gruppierungen treffen.

Was also bleibt von und für russische Außenpolitik? Außenpolitik ist, wie gesagt, als solche in der RF wenig relevant. Die Schnittstelle zwischen den russischen Aktionsräumen, in denen Kapital und Ressourcen nachholend akkumuliert werden, und der Restwelt ist im wesentlichen für die wichtigsten Akteursgruppen nur dann interessant, wenn sie deren Primärinteressen berührt: Wird die Tätigkeit ausländischer Banken und Versicherungen in der RF zugelassen? Was sind die geltenden Regime für den Ex- und Import von Waren? Wie sind Exportlizenzen für strategische Rohstoffe zu erhalten? Wie kann die Existenz von völkerrechtlich gültigen, aber faktisch ungewissen und wenig kontrollierten Grenzen zu einem geldwerten Vorteil gewendet werden? Wie kann auf Erschließung und Transport neuer Energievorräte zugegriffen werden? Wie können internationale Finanzmittel für die Stabilisierung des Rubel und zur Überbrückung der Haushaltsdefizite für die drängendsten Aufgaben eingeworben werden?

Daraus folgt, wie erwähnt, schlüssig und zumindest mittelfristig die strukturelle Unfähigkeit rußländischer Akteure, allgemeine nationale Interessen verbindlich zu definieren und einen wirksamen Konsens darüber mehrheitlich herzustellen. Hinzu kommt das Fehlen von politischen Gestaltungsabsichten jenseits der unmittelbaren, auf Ressourcen und Positionen bezogenen Interessen und concerns.

Beides hängt auch damit zusammen, daß es eben wenig sinnvoll ist, die Brüche gegenüber den Kontinuitäten in der sowjetischen und nachsowjetischen Realgeschichte zu stark zu betonen. Es gab in vielerlei Hinsicht keine Stunde Null – weder 1917, noch 1985 oder 1991. Es ist fruchtbarer, in der früheren Sowjetunion eine weite, historische Perspektive von Wandel anzusetzen – insbesondere von institutionellem Wandel. Dieser Wandel wurde und wird gespeist aus permanenten bargaining-Prozessen aller relevanten Akteursgruppen und der wichtigsten sozialen Gruppierungen. Diese stehen untereinander in ständigen Aushandlungsprozessen über die ihnen wichtigen Anliegen, vor allem über Ressourcenzugriffe und Positionsveränderungen im Rahmen administrativer und zunehmend auch realer Marktstrukturen.

Als Konsequenz dieser klaren Priorität innerer und unmittelbarer Anliegen ergibt sich der eindeutig partikulare Charakter außenpolitischer Interessen und Stellungnahmen. Die russischen Banken, die Hersteller von Flugzeugen und Raketen, die Produzenten von Öl und Gas, regionale Verwaltungen, zentrale Bürokratien – sie alle haben eigene Kalküle, die zumeist indirekt auch mit der Außenwelt verbunden sind. Aber es fehlt eine mediatisierende und harmonisierende, auch Kompromisse erzwingende Instanz. Der Rußländische Staat ist nicht – noch nicht? – in der Lage, diese Position einzunehmen. Er simuliert sie stattdessen. Die Instrumente und Foren für Simulation hat er – in der OSZE, im UN-Sicherheitsrat, in Kontaktgruppen (Bosnien), demnächst im neuen NATO-Rat.

Das Phänomen der Fragmentierung von Politik und einer ausgeprägten Akteursvielfalt findet sich zunehmend auch in westlichen Staaten. Der relative Bedeutungsverlust von Nationalstaaten ist überall zu beobachten. Aber zumindest in den Nachfolgeräumen der früheren Sowjetunion gibt es noch eine signifikant höhere Ausprägung dieser Entwicklung. Wegen dieser relativierenden Beobachtungen wirkt russische Außenpolitik wieder weniger extraordinär konfus, als es zunächst scheinen mag. Die Unterschiede außenpolitischer performance postsowjetischer und westlicher Länder sind vielleicht eher quantitativ als qualitativ. Auch in westlichen Staaten gibt es vielerlei Einflußnahmen auf staatliche Politik, und diese selbst unterliegt einer signifikanten relativen Bedeutungsminderung.

Aus den bisher gemachten Aussagen folgt, daß internationale Themen im weiteren Sinne in Rußland vor allem einen inneren Tauschwert haben. Wenn aber relevante Akteure tatsächlich erreicht werden sollen, müssen ihre tatsächlichen Interessenlagen definiert werden. Wesentliche regionale und sektorale Akteure sind zumeist ebenso wichtig oder gar wichtiger als die vorerst schwache russische föderale Regierung.

Wenn unter diesen Voraussetzungen eine Osterweiterung der NATO stattfände, würden die unmittelbaren Folgen zunächst kaum dramatisch sein. Aber stabilisierend wären sie auch nicht. Gewiß wären die Binnenmarktproduzenten und die nicht weltmarktfähigen Teile des MIK dankbar für alle Argumente, die ihnen Subventions-Appelle an den Staat erleichtern würden. Eine NATO-Ausweitung wäre ein in diesem Sinne gutes Argument. Wären die bisherigen Transformations-Verlierer mit ihrem Lobbyismus erfolgreich, hätte das unerfreuliche Folgen für die laufende Transformation, deren Dynamisierung und Stabilisierung. Ob dies zu erheblichen oder nur vorübergehenden Stabilitätseinbußen (anstelle der versprochenen Stabilitätsgewinne) führen würde, ist schwer einzuschätzen. Daß Stabilitätsgewinne eintreten, kann für Rußland und die Ukraine aus meiner Sicht ausgeschlossen werden.

Aus dem schwierigen allgemeinen Zustand der Transformation, der heiklen Haushaltslage, dem maroden Zustand des MIK und der Streitkräfte läßt sich gewiß ableiten, daß der Staat RF einer NATO-Erweiterung real nichts nach außen entgegenzusetzen hat. Ob das aber ein hinreichender Grund ist, sie auch zu vollziehen – bei zahlreichen ungelösten Fragen selbst im NATO-Bereich – ist zweifelhaft. Sicher würden die kooperationsgeneigten und aus ihrer Interessenlage heraus prinzipiell integrationswilligen Eliten in der RF durch Regimebildungen in Europa, die die RF dauerhaft ausgrenzen, geschwächt. Ob gerade das im westlichen Interesse liegen kann, muß bezweifelt werden.

In dieser Lage wäre es aus meiner Sicht ratsam, zunächst die Frage der Kriterien sowie konzeptionellen Fragen zu klären, bevor institutionelle Konsequenzen gezogen werden. Selbstgesetzter Zeitdruck ist hier nicht hilfreich. Das bedeutet, daß die demnächst beginnenden Verhandlungen mit Beitrittskandidaten der ersten Reihe ruhig und ohne Eile geführt werden und daß die dann folgenden Ratifizierungsprozeduren genutzt werden, um den ganzen Kontext europäischer Sicherheit zu prüfen. Auf Dauer können die ostmitteleuropäischen Länder schwerlich einen Sicherheitsgewinn erwarten, wenn die dort und in Osteuropa laufenden Transformationen erschwert werden. Die Frage der Erreichbarkeit eines wirksamen Stabilitätstransfers für den gesamten osteuropäischen Raum muß genau so gestellt und beantwortet werden.

Prof. Dr. Klaus Segbers lehrt am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1997/2 Quo vadis Europa, Seite