W&F 2019/1

NATO-Russland-Beziehungen

Wege aus der Konfrontation?

von Nadja Douglas

Vieles deutet daraufhin, dass die baltische Region einschließlich des angrenzenden Ostseeraumes in den kommenden Jahren entscheidend sein wird für die Beziehungen zwischen Ost und West. Wie in einem Brennglas zeigt sich, dass sowohl die NATO als auch Russland im Begriff sind, hier enormes Vertrauen zu verspielen, das an anderer Stelle gerade wieder aufgebaut werden soll. In den NATO-Russland-Beziehungen geht es heute mehr denn je um die gegenseitige Wahrnehmung und die Interpretation von Handlungsabsichten. Das Potenzial für Fehleinschätzungen ist immens.

Realistische Erklärungsansätze in den internationalen Beziehungen haben vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zustands der Konfrontation wieder Konjunktur. Dies manifestiert sich besonders in der baltischen Region, wo sich zwei hochgerüstete Militärbündnisse gegenüberstehen: die transatlantische Militärallianz NATO auf der einen sowie Russland und seine Verbündeten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit1 auf der anderen Seite. Für die beteiligten Staaten gibt es aus spieltheoretischer Sicht nur zwei Optionen: Aufrüsten oder Abrüsten. Momentan stehen die Zeichen auf Aufrüsten. Die als defensiv charakterisierten Aktionen der einen Seite werden von der anderen Seite als offensiv interpretiert und ebenso beantwortet.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen wurde so wenig miteinander geredet wie heute. Freilich stehen sich heute keine Panzerarmeen mehr gegenüber, und militärische Übungen, obwohl auf beiden Seiten in der letzten Zeit ausgeweitet, erreichen nicht die damaligen Dimensionen. Da Russland sich heute nicht mehr als Teil einer von der NATO dominierten europäischen Sicherheitsordnung fühlt, sieht es sich auch nicht mehr an aus russischer Sicht überkommene Abkommen gebunden. Moskau plant vorrangig, die 2008 begonnene Modernisierung der Streitkräfte bis 2020 abzuschließen, bevor es aus einer Position der Stärke heraus bereit ist für neue Gespräche. Die Trump-Administration zeigt ebenfalls wenig Interesse: Anstatt neue Akzente zu setzen, fordert sie von Russland weiterhin vor allem die Einhaltung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen. Die Europäische Union wiederum ist gespalten. Während die einen an bestehenden Abkommen und Prinzipien festhalten (Stichworte Charta von Paris, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte etc.), sind andere der Auffassung, dass diese Abkommen aufgrund der veränderten Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten Jahren hinfällig seien.2

Im Hinblick auf atomare Fähigkeiten kündigten jüngst zunächst die USA und dann Russland an, die Beteiligung am INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen auszusetzen. Die NATO-Mitgliedsstaaten hatten Russland erstmals geschlossen vorgeworfen, mit seinen neuen Marschflugkörpern3 gegen die Vorgaben des Vertrags zu verstoßen, was Russland zurückweist.4 Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist, und insbesondere deutsche Politiker setzen nun alles daran, das Abkommen noch zu retten.5 Es ist unstrittig, dass schon seit vielen Jahren gegenseitige Kontrollen fehlen und somit in der Vergangenheit die Vertragstreue keiner Seite vollständig verifiziert werden konnte. Ob dies nun gelingt, erscheint mehr als fraglich.

Bestandsaufnahme bestehender Verhandlungsformate

Sämtliche Verhandlungen, die Rüstungskontrolle bzw. militärische Transparenz (von Abrüstung spricht man schon lange nicht mehr) in Europa betreffen, verzeichnen seit längerer Zeit keinen Fortschritt bzw. wurden gänzlich aufgegeben. Während an der einen Stelle durch Militärstrategen sowie öffentliches verbales Aufrüsten Vertrauen zerstört wird, soll es an anderer Stelle in den noch bestehenden Verhandlungsformaten zwischen NATO und Russland bzw. unter der Ägide der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wieder aufgebaut werden.

Obwohl der NATO-Russland-Rat nach wie vor existiert, ist die Bilanz dieses seit 2002 existierenden Konsultationsgremiums, das im Sinne der NATO-Russland-Grundakte von 1997 eine zentrale Rolle in den NATO-Russland-Beziehungen spielen soll, eher bescheiden. Ursprünglich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsminister*innen sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter*innen bzw. Ständigen Vertreter*innen beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter*innen sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität zeigt hingegen, dass über die Jahre kein regelmäßiger Sitzungszyklus zustande kam. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie von einem reinen Konsultationsgremium zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Arbeit im Rat wurde darüber hinaus mehrfach über längere Zeit ausgesetzt. Zuletzt herrschte zwei Jahre lang Schweigen infolge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim (Douglas 2017).

Diese Praxis widerspricht dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“ (NATO 1997, Kapitel II). Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland-Beziehungen in einer Krise, wird auch die Arbeit im Rat beeinträchtigt bzw. unterbrochen. Seit 2016 kam der Rat sporadisch acht Mal zusammen. Obgleich es auf beiden Seiten vereinzelt Bemühungen um einen konstruktiven Informationsaustausch gab, waren die letzten Sitzungen vor allem durch heftige Schlagabtausche und gegenseitige Vorwürfe geprägt.

Neben dem NATO-Russland-Rat gibt es derzeit nur noch ein weiteres Verhandlungsformat, in dessen Rahmen nach wie vor Wege aus der Krise der konventionellen Rüstungskontrolle gesucht sowie andere für die europäische Sicherheit relevante Fragestellungen thematisiert werden. Der von der Bundesrepublik während des OSZE-Vorsitzes 2016 initiierte »Strukturierte Dialog« ist ein informelles Dialogformat, das alle OSZE-Staaten einschließt und hochrangige Vertreter*innen aus den nationalen Außen- und Verteidigungsministerien der teilnehmenden Staaten zusammenbringt. Der Dialog versteht sich als Plattform für die Sondierung von Vorfragen im Hinblick auf mögliche neue Rüstungskontrollverhandlungen. 2018 wurden vom belgischen Dialog-Vorsitz insbesondere die Themen Bedrohungswahrnehmung und Risikominimierung auf die Agenda gesetzt. 2017 wurden Experten-Workshops zu Militärdoktrinen und militärischen Streitkräfte-Dispositiven sowie zu Übungen durchgeführt (OSCE 2018).

Das Forum dient vornehmlich der Bildung von Vertrauen, das an anderer Stelle (Rüstungsspirale in der baltischen Region) derzeit verspielt wird. Beispielhaft sollen neue Obergrenzen für Waffensysteme, Quoten für eine effektivere Beobachtung und Verifikation von militärischen Aktivitäten sowie Transparenzmaßnahmen, insbesondere in Bezug auf neue militärische Fähigkeiten und Waffengattungen, mehr Sicherheit und Stabilität schaffen. Auch Gebiete mit strittigem territorialem Status sollen nicht länger von der Rüstungskon­trolle ausgeklammert bleiben (Schmidt 2017). Bislang wurden sieben informelle Arbeitsgruppentreffen sowie drei Experten-Workshops abgehalten. Auch 2019 unter slowakischem OSZE-Vorsitz soll der Dialog fortgeführt werden. Unter anderem wird es um die Analyse von Handlungsabsichten sowie von »best practices« bei der Beantwortung von Fragebögen im Zusammenhang mit dem jährlichen militärischen Informationsaustausch gehen.

Gegenseitige Wahrnehmung und Provokation

Während für die Europäische Union und die USA die Krimannexion und die russische Intervention in der Ostukraine zu Recht eine Zäsur in den Beziehungen zu Russland darstellten, fand diese Zäsur in Russland selbst bereits Jahre zuvor statt. Nachdem »der Westen« seine damaligen Zugeständnisse nicht eingehalten hatte, eine Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen, die auf gleicher und unteilbarer Sicherheit basiert, stellte für Russland die NATO-Osterweiterung sowie die von den USA forcierte Stationierung einer Raketenabwehr in sensiblen Regionen, einen weiteren Einschnitt dar.

Auf beiden Seiten ist militärische Abschreckung wieder das Gebot der Stunde. Die transatlantische Allianz arbeitet an der Funktionalität der NATO-»Speerspitze« (Very High Readiness Joint Task Force). Man spricht davon, dass die Hauptfunktion der »Speerspitze«, neben der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner, die einer »mobilen Stolperfalle« sei, die ein Durchmarschieren im Falle eines russischen Angriffes auf einen der östlichen Mitgliedsstaaten verhindern solle (Zapfe 2016, S. 2). Seit 2014 baut Russland ebenfalls gezielt seine militärischen Fähigkeiten im Westlichen Militärbezirk aus.6 Zudem hat Russland in Kaliningrad Radaranlagen sowie das S-400-Raketenabwehrsystem stationiert und seit spätestens 2016 Iskander-M-Kurzstreckenraketen, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können. Immer offensichtlicher ist jedoch, dass es schwierig wird, den in der NATO-Russland-Grundakte postulierten Grundsatz der wechselseitigen Zurückhaltung einzuhalten. Aus russischer Sicht ist der NATO-Truppenaufbau an der Grenze zu Russland keine Rückversicherungsmaßnahme für die baltischen Staaten, sondern Teil einer größeren Strategie der Konfrontation. Der russische Präsident erklärte in der Vergangenheit wiederholt, dass Russland die Stationierung neuer NATO-Militärbasen und -Infrastruktur an der Grenze Russlands als direkte Bedrohung wahrnimmt und in angemessener Weise auf solche aggressiven Schritte reagieren werde (Kremlin 2018).

Auch wenn die baltische Region langfristig das größte Risiko für weitere Konfrontation birgt, gibt es weitere kritische Orte, an denen militärische Zwischenfälle provoziert werden. Der jüngste Zwischenfall in der Straße von Kertsch zeigt zum einen, dass die Ukraine im Eskalationsfall in ihren militärischen Beziehungen zu Russland ohne externe Unterstützung vollkommen unterlegen wäre. Russland auf der anderen Seite reagiert zunehmend nervös und räumt sich einseitig einen breiten Spielraum bei der Interpretation des geltenden Seerechts und der bilateralen Verträge mit der Ukraine ein. Die Ukraine wird seit 2014 als eine Art trojanisches Pferd »des Westens« gesehen. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Poroschenko angekündigt hatte, einen Marinestützpunkt in Berdyansk im Asowschen Meer einzurichten, beunruhigt Moskau bereits seit geraumer Zeit. Die russische Regierung befürchtet, dass an dieser Stelle in nicht allzu weiter Zukunft NATO-Schiffe patrouillieren werden (Felgenhauer 2018). Tatsächlich rief Poroschenko als Reaktion auf den Zwischenfall nicht nur das Kriegsrecht aus, sondern appellierte an sämtliche NATO-Staaten, Schiffe zur Unterstützung der Ukraine in das Asowsche Meer zu schicken. Wie Russland auf einen solch hypothetischen Fall reagieren würde, lässt sich nur erahnen.7

Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen

Die Anzahl der vorhandenen Stellschrauben zur Neujustierung der NATO-Russland-Beziehungen hat in den letzten vier Jahren eher ab- als zugenommen. Zu Zeiten der Blockkonfrontation dienten Rüstungskontrollverhandlungen als kleinster gemeinsamer Nenner der Vertrauensbildung. Es muss also auch heute an jenen Stellschrauben gedreht werden, die zentral sind für die sicherheitspolitische Agenda beider Seiten. Um Wege aus der Konfrontation zu finden und das Minimalziel der »friedlichen Koexistenz« aufrecht zu erhalten, bedarf es künftig vor allem mehr Empathie für die Sicherheits- und Bedrohungswahrnehmung der jeweils anderen Seite.

Im Folgenden werden exemplarisch drei Bereiche skizziert, die dringend einer konsensuellen Regelung bedürfen. Darunter fallen die Vermeidung bzw. zunächst einmal die Definition von militärischen Zwischenfällen, die Erhöhung von militärischer Transparenz und Vertrauensbildung in kritischen Regionen sowie ein Modus Vivendi und gemeinsame Regeln im Umgang mit Staaten, die derzeit zwischen den euro-atlantischen und eurasischen Sicherheits- und Wertegemeinschaften stehen.

Vermeidung von militärischen Zwischenfällen

Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kommt es verstärkt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt sind. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) über 60 solcher Ereignisse (Kulesa et al. 2016, S. 7). Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener, Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Kulesa et al. 2016). Da solch ein Abkommen derzeit und in naher Zukunft nicht greifbar ist, sollten Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn schon nicht minimiert, dann zumindest definiert werden.8

Neue regional ausgerichtete vertrauens- und sicherheitsbildende Initiativen

Das Risiko von nicht intendierten Zwischenfällen bzw. Provokationen in der baltischen Region wird verschärft durch den Mangel an überprüfbarer Zurückhaltung, eingeschränkter militärischer Transparenz und die Abwesenheit von direkter militärischer Zusammenarbeit und Kontakten in der Region. All das trägt unmittelbar zu einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung und folglich zu einem erhöhten Risiko von Fehleinschätzungen bei.

Konkrete Empfehlungen zur Deeskalation reichen von Vorschlägen über ein baltisches Sicherheitssymposium (Kulesa 2018) bis hin zu Rüstungskontrollvereinbarungen auf der sub-regionalen Ebene (Richter 2016). Tatsächlich gibt es in der baltischen Region keine rechtlich bindende Vereinbarung über eine Begrenzung der dort stationierten Streitkräfte, weder aufseiten der baltischen Staaten noch aufseiten der Russischen Föderation. Das Informations- und Verifikationsregime des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) findet hier keine Anwendung, da Russland seine Teilnahme 2015 faktisch aufgekündigt hat und die baltischen Staaten das adaptierte Regime nie ratifiziert haben. Allerdings bietet das Wiener Dokument der OSZE, das einzig verbliebene Instrument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, unter Kapitel X, »Regionale Maßnahmen«, die Möglichkeit von gegenseitigen Verpflichtungen der militärischen Zurückhaltung (ähnlich wie jene in der NATO-Russland Grundakte). Es ermutigt teilnehmende Staaten, sich auf zusätzliche bilaterale und regionale vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu einigen, um Spannungen zu deeskalieren. Der Fokus liegt dabei gerade auf Grenzregionen (Richter 2016, S. 9-11).

Gespaltene Gesellschaften als Sicherheitsrisiko

Häufig marginalisiert in der Konfrontation zwischen NATO und Russland, aber dennoch relevant, sind diejenigen Staaten, die zwischen einer transatlantischen Orientierung und der von Russland dominierten östlichen Interessensphäre schwanken. Die so genannten »Staaten dazwischen« wurden dadurch in der Vergangenheit wiederholt zum Spielball geopolitischer Auseinandersetzungen.9 Dieses Tauziehen wirkt sich negativ auf den inneren Zusammenhalt dieser Staaten und Gesellschaften aus und macht sie anfällig für innere Unruhen und Spaltungsprozesse (Babayan 2016).

Während die Aussicht auf einen Beitritt in die NATO und/oder die Europäische Union einst Garant für Sicherheit und Wohlstand der mittel- und osteuropäischen Staaten war, ist es inzwischen eine Quelle der Instabilität für die Länder weiter im Osten (wie gerade die Beispiele Georgien 2008 und Ukraine 2014 zeigen) (Charap et al. 2018, S. 6). Das trifft im Grunde auch auf die anderen Konflikte in der Region zu: Solange es keine Einigung über die regionale Ordnung gibt, werden weder Russland noch »der Westen« in der Lage sein, diese Konflikte vernünftig zu lösen, geschweige denn werden die lokalen Akteure dies erreichen. Auch offizielle oder informelle Verhandlungen über die europäische Sicherheitsarchitektur enden meist unweigerlich in einer Sackgasse, wenn es um die Frage der regionalen Ordnung ging (die innerhalb der OSZE initiierten Korfu- und Helsinki+40-Prozesse sind dafür gute Beispiele).

Lösungsvorschläge, die derzeit diskutiert werden (siehe z.B. Charap et al. 2018), zielen nicht darauf ab, die »Staaten dazwischen« wie gehabt nach dem Vorbild der Staaten Mittel- und Osteuropas zu transformieren. Aber auch Russland soll keine uneingeschränkte Einflusssphäre gewährt werden. Weder die NATO noch Russland sollten ihre Ambitionen uneingeschränkt weiterverfolgen können, um ihre jeweiligen Bündnisse zu erweitern. Stattdessen könnte ein weiteres regionales Integrationsformat zielführend sein, das offen und anwendbar wäre für die »Staaten dazwischen«, die weder einem westlichen noch einem östlichen Bündnis angehören möchten.10 Diese Option könnte einen Rahmen bieten für eine souveräne außen- und sicherheitspolitische Orientierung dieser Staaten sowie Verhaltensregeln aufstellen, wie die NATO und Russland mit ihnen umzugehen haben.

Anmerkungen

1) Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) ist das von Russland geführte Militärbündnis, dem einschließlich Russland sechs postsowjetische Staaten ange­hören.

2) Zu der ersten Gruppe gehören Staaten, die sich vor allem der OSZE nach wie vor verbunden fühlen, wie die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, die Schweiz und Finnland; zu der zweiten Gruppe östliche EU-Staaten, wie Polen und die baltischen Staaten.

3) Hier geht es vor allem um den landgestützten Marschflugkörper 9M729, siehe dazu Goncharenko 2018.

4) Das russische Verteidigungsministerium und Generalstabschef Walerij Gerasimow werfen umgekehrt den Amerikanern vor, durch das in Osteuropa (Rumänien und zukünftig Polen) stationierte Aegis-Raketenabwehrsystem gegen den INF-Vertrag zu verstoßen: Dessen Abschussrampen könnten auch offensiv genutzt werden und atomar bestückte Marsch­flugkörper mittlerer Reichweite abfeuern (siehe ?????? ??????? ?? ????????? ??? ???????? ?????; interfax-russia.ru, 5.12.2018).
Siehe dazu auch Katarzyna Kubiak, NATO-Raketenabwehr – Stand und Herausforderungen, auf S. 21 dieser W&F-Ausgabe.

5) Außenpolitiker von CDU/CSU und SPD schlugen vor, Russland solle die umstrittenen Marschflugkörper so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht mehr erreichen könnten. Im Gegenzug sollen die USA ihre Raketenabwehrsysteme in Rumänien und die geplanten in Polen für russische Kontrollen öffnen (Mit diesem Vorschlag wollen deutsche Politiker den INF-Vertrag retten; welt.de, 3.2.2018).

6) Zudem führt Russland periodisch sogenannte Übungen zur Einsatzbereitschaft (snap exercises) im Westlichen Militärbezirk durch, um kurzfristig die Kampfbereitschaft zu testen (ohne 42 Tage Ankündigungsvorlauf, wie vom Wiener Dokument der OSZE über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 vorgesehen). Allein 2017 wurden mehr als hundert solcher Übungen registriert.

7) Siehe Antwort des Pressesprechers von Präsident Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, während einer Pressekonferenz am 29. November 2018: ?????? ???????????????? ?????? ????????? ????????? ??????? ???? ? ????; interfax-russia.ru.

8) So wird nirgendwo aufgeschlüsselt bzw. definiert, was für Ereignisse genau unter gefährliche Zwischenfälle militärischer Art“ fallen, wie sie zum Beispiel in Paragraph 17 des Wiener Dokuments Erwähnung finden. Kulesa et al. 2018 (S. 3) führen Zwischenfälle auf, wie z. B. gefährliche Verletzungen fremden Luftraums, Beinahekollisionen zwischen zivilen und militärischen Flugzeugen, Sucheinsätze von U-Booten in fremden Hoheitsgewässern, Abfangeinsätze im internationalen Luftraum u.a.

9) Die drei kaukasischen Staaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie die Ukraine, die Republik Moldau und Belarus sind mittlerweile Teil der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union.

10) Umfragen zufolge trifft das auf die Mehrheit der Gesellschaften in Georgien, Armenien und der Republik Moldau zu. Lediglich Ukrainer und Weißrussen sprechen sich mehrheitlich für einen Anschluss an NATO respektive OVKS aus (siehe Umfragedaten von 2017 in Charap et al. 2018, S. 26).

Literatur

Babayan, N. (2016): The In-Betweeners – The ­Eastern Partnership Countries and the Russia-West Conflict. Transatlantic Academy Paper Series 4/2016.

Charap, S.; Shapiro, J.; Demus, A. (2018): Rethinking the Regional Order for Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

Douglas, N. (2017): Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant? ZOiS Spotlight 11/2017, 24.5.2017, zois-berlin.de.

Felgenhauer, P. (2018): Russia’s Attack of Ukrainian Naval Ships in Black Sea- First Shots of Possible Winter War? Eurasia Daily Monitor, Vol. 15, Nr. 168.

Goncharenko, R. (2018): Ein nicht so geheimes Geheimnis – die russische Raketen 9M729. Deutsche Welle, 5.12.2018; dw.com.

Kremlin/ Presidential Executive Office (2018): Meeting of ambassadors and permanent representatives of Russia; en.kremlin.ru, 19.7.2018.

Kulesa, L.; Frear, T.; Raynova, D. (2016): Managing Hazardous Incidents in the Euro-Atlantic Area: A New Plan of Action, European Leader­ship Network, Policy Brief, November 2016.

Kulesa, L.; Raynova, D. (2018): Russia-West Incidents in the Air and at Sea 2016-2017 – Out of the Danger Zone? European Leadership Network, Euro-Atlantic Security Report, October 2018.

Kulesa, L. (2018): Challenges and opportunities for deterrence and arms control in the Baltic Sea area. European Leadership Network, Commentary, 1 October 2018.

OSCE (2018): The OSCE Structured Dialogue. 9.10.2018; osce.org.

NATO (1997): Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation vom 27. Mai 1997.

Richter, W. (2016): Sub-regional arms control for the Baltics – What is desirable? What is feasible? Deep Cuts Working Paper, No. 8, July 2016; deepcuts.org.

Schmidt, H.-J. (2017): Hoffnungsvoller Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle? Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, PRIF Blog, 10. Juli 2017; blog.prif.org.

Zapfe, M. (2016): »Hybrid« threats and NATO’s Forward Presence – The Alliance’s Enhanced Forward Presence in the Baltics and Poland could face serious challenges in »sub-conven­tional« scenarios. Center for Security Studies at ETH Zurich, Policy Perspectives, Vol. 4, Nr. 7, September 2016.

Dr. phil. Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS) in Berlin. Sie befasst sich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen im postsowjetischen Raum sowie in ihrem derzeitigen Forschungsprojekt mit der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Machtstrukturen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2019/1 70 Jahre NATO, Seite 10–13