»Neue Kriege«: Neues Völkerrecht?
von Thomas Bruha
Recht, das gilt innerhalb der Staaten gleichermaßen wie für das Recht der Weltgemeinschaft, unterliegt dem Wandel. Neue wirtschaftliche und ökologische Gegebenheiten, neue Kommunikationstechnologien und andere wissenschaftlich-technische Entwicklungen, kollektive Lernprozesse nach dem Zusammenbruch von Unrechtsregimen und den Gräueln verheerender Kriege sind einige der Ursachen, die genannt werden können. So haben die schrecklichen Erfahrungen mit der Naziherrschaft und dem menschlichen Leid infolge zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die entscheidenden Anstöße für die weltweite Ächtung des Krieges, für ein umfassendes Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen, für die Absicherung der Menschenrechte auf internationaler Ebene, für den Multilateralismus in Gestalt der mittlerweile universellen Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen gegeben und damit einen Paradigmenwechsel bewirkt, den man mit dem Konzept »Frieden durch Recht« umreißen kann. Recht und Unrecht in den internationalen Beziehungen wurden nun sehr viel deutlicher unterscheidbar als dies noch im 19. Jahrhundert und mit Abschwächungen auch noch zu Zeiten des Völkerbundes zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg möglich war. Zugleich wurde mit der Schaffung des »Bretton Woods Systems« der Grundstein für das gegenwärtige WTO-Regime offener und liberaler Weltwirtschaft gelegt, das inzwischen ebenfalls als quasi-universell bezeichnet werden kann.
Mit der sich rasant vollziehenden Globalisierung und der Beendigung des bisherigen Ost-West-Konflikts – symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 – bahnt sich ein weiterer Paradigmenwechsel an. Zunächst nur auf der Ebene der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung und mit Blick auf globale Umweltprobleme zur Kenntnis genommen, erfasst die Globalisierung nahezu alle Bereiche staatlicher und transnationaler Interaktion. Auch die Gewalt ist mittlerweile globalisiert. Dies haben die Terrorakte vom 11. September 2001 in New York und Washington in aller Schärfe deutlich gemacht. Neue, in globalen Netzwerken operierende Gewaltakteure der Terrororganisation Al Qaida haben den bislang schon vorliegenden Erscheinungsformen »privater Gewalt« eine neue Dimension hinzugefügt. Die Zeiten, in denen die Staaten faktische »Monopolisten des Krieges« waren, sind vorbei. Warlords, käufliche Privatarmeen und jetzt eben auch globale Terrornetzwerke führen zusammen mit der gewachsenen Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und dem Zerfall staatlicher Strukturen in vielen Teilen der Welt dazu, dass die Sicherheitsstrukturen sich fundamental verändert haben.
Als zweiter Faktor des sich abzeichnenden Paradigmenwechsels ist der amerikanische Hegemonialismus der verbleibenden Supermacht USA zu nennen. Er hat unter der gegenwärtigen Bush-Administration einen Höhepunkt erfahren, reicht in seinen Ursprüngen jedoch weiter zurück. Er setzt die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebildete Weltrechtsordnung unter einen erheblichen Anpassungsdruck. Offen und mit den als traumatisch empfundenen oder als solche bezeichneten Ereignissen des 11. September begründet, wird ein Recht auf weit ins Vorfeld der akuten Bedrohung verlagerte Bekämpfung der von Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und verbrecherischen Regimen ausgehenden Gefahren reklamiert. Ihren bekanntesten Niederschlag haben diese Rechtsbehauptungen in der als »Bush-Doktrin« bekannten Legitimationsfigur »prä-emptiver« Kriegsführung gefunden. Diese Doktrin ist in verschiedenen »Nationalen Sicherheitsstrategien« vor- und ausformuliert, welche dem Kongress seitens der amerikanischen Regierung nach dem 11. September vorgelegt worden sind. Der gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats geführte Krieg gegen den Irak, beginnend am 20. März dieses Jahres, kann als Prototyp dieser neuen Art »vorbeugender Kriege« bezeichnet werden.
Beide, der nicht-staatliche transnationale Terrorismus und seine Bekämpfung sowie der »klassisch« zwischenstaatliche Krieg gegen den Irak, stellen neue Erscheinungsformen kriegerischer oder kriegsähnlicher Gewalthandlungen dar, welche die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Weltrechtsordnung auf eine harte Belastungsprobe stellen. Geht es beim transnationalen Terrorismus und seiner Bekämpfung darum, das im Kern auf zwischenstaatliche Konflikte zugeschnittene Völkerrecht auf Gewaltakte im Verhältnis zwischen Staaten und (terroristischen) Privaten anzuwenden bzw. zu prüfen, inwieweit dieses überhaupt geeignet ist, die neuen »transnationalen bewaffneten Konflikte« angemessen zu erfassen, so steht im Fall des Krieges gegen den Irak der Geltungsanspruch des universellen Völkerrechts gegenüber den Machtansprüchen und Sicherheitsinteressen der sich hegemonial gerierenden Supermacht USA auf dem Spiel. In diesem Fall geht es zugleich um die für jede Rechtsordnung essentielle Frage, welches Maß der Verschränkung des Rechts mit der Macht einzugehen ist, damit Recht auch Effektivität entfalten und auf allseitige Akzeptanz stoßen kann. Im Völkerrecht, das keine dem staatlichen Recht oder auch nur dem Recht der EU vergleichbaren Mechanismen kollektiver Erzwingbarkeit verbindlicher Regeln kennt, ist diese Verbindung von Macht und Recht existentiell. Ein Ausstieg der USA aus dem Friedenssicherungsrecht der UN-Charta würde praktisch dessen Bedeutungslosigkeit sowie das Ende der Weltorganisation bedeuten.
Globaler transnationaler Terrorismus
Was die vom Völkerrecht mit Blick auf die »Neuen Kriege« zu erbringenden Anpassungsleistungen betrifft, so steht der globale transnationale Terrorismus, weitgehend verkannt, für eine zu Tage getretene positive Anpassungsfähigkeit der Völkerrechtsordnung. Nur einen Tag nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat der UN-Sicherheitsrat diese als eine Friedensgefährdung im Sinne des Artikel 39 der UN-Charta bezeichnet und damit in rechtsfortbildender Weise auch eine von privaten nicht-staatlichen Akteuren ausgehende kriegsähnlich Handlung unmittelbar dem Chartaregime kollektiver Sicherheit unterworfen. Indem in derselben Resolution sowie späteren Entschließungen des Rates ausdrücklich das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta genannt wird, hat der Sicherheitsrat ferner zu erkennen gegeben, dass die Terroranschläge auch als eine das Selbstverteidigungsrecht auslösende Angriffshandlung angesehen werden können. Ausdrücklich bestätigt hat er das Vorliegen einer Selbstverteidigungssituation allerdings nicht. Ob dies nur für den Fall gelten sollte, dass hinter den Anschlägen ein »Hintergrundstaat« oder – wie im Fall der Al Qaida – ein staatsähnliches de facto Regime (Taliban) ausgemacht werden kann, ist unter Völkerrechtlern daher umstritten.
Weitgehend anerkannt wird hingegen, dass das Selbstverteidigungsrecht im Hinblick auf den »unsichtbaren« terroristischen Gegner, die gesteigerte und im Fall des 11. September als strategisch einzustufende Gefährdung durch praktisch durch nichts abzuschreckende Selbstmordattentäter, die weltweite Vernetzung mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in einem den Besonderheiten der neuen Gefahren angepassten Sinne zu deuten ist. So war der terroristische Angriff mit der Selbsttötung der Täter und der Ermordung tausender unschuldiger Opfer nicht am 11. September 2001 beendet. Die USA konnten sich daher zurecht auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der UN-Charta berufen, um in der Folge weitere Angriffe abzuwehren. Auch die Zurechnungskriterien für einen mitverantwortlichen »Hintergrundstaat« der terroristischen Gewalt wird man angesichts der kriegsähnlichen Gefahren des globalen Terrorismus für niedriger ansehen müssen als bei herkömmlichen Terrorakten. So wurde die Aktion »Enduring Freedom« in Afghanistan gegen die Mitglieder der Terrororganisation Al Qaida sowie die ihnen Schutz gebenden Milizen des Taliban-Regimes von der Weltgemeinschaft hingenommen, weil eine hinreichende Verstrickung (»safe haven«) angenommen wurde. Weniger Übereinstimmung besteht unter Völkerrechtlern allerdings hinsichtlich der Frage, wie weit das Selbstverteidigungsrecht zeitlich und in seinen Zielsetzungen gereicht hat. Richtiger Weise wird man die »nachhaltige Beseitigung« der Gefahr durch den gewaltsamen Sturz des Taliban-Regimes nicht mehr als vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt ansehen dürfen. Dieses steht nur als »Notrecht« zur Verfügung, solange der Sicherheitsrat nicht die für die Abwehr des Angriffs erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Die indirekte Billigung der Aktion »Enduring Freedom« durch die Mitglieder des Sicherheitsrates ist also, was das über die Abwehr des terroristische Angriffs hinausgehende Ziel des Regimewechsels betrifft, in eine Ermächtigung des Sicherheitsrates gemäß Kapitel VII der Charta zu deuten. Nur dieses, nicht das Selbstverteidigungsrecht, kann der Fortsetzung der Aktion »Enduring Freedom« (nomen est omen) völkerrechtliche Legitimität verleihen. Das ist unter Völkerrechtlern aber durchaus strittig.
Auf rechtlich wenig gesichertem Boden bewegt man sich auch bei der Frage, wie eine zulässige Militäraktion gegen den Terrorismus unter den Gesichtspunkten des humanitären Völkerrechts einzustufen ist. Dieses kennt nur internationale und nicht-internationale bewaffnete Konflikte. Die Bekämpfung des transnationale Terrorismus passt weder so recht in die eine noch in die andere Kategorie. Für die völkerrechtliche Betrachtung unproblematisch scheint nur die Bekämpfung terroristischer Akteure auf eigenem Staatsgebiet sowie auf dem Staatsgebiet anderer Staaten mit Zustimmung der dortigen Regierung zu sein. In solchen Fällen liegt in der Regel eine Polizeiaktionen vor. Sie ist an den Maßstäben des jeweils geltenden nationalen Rechts sowie an den internationalen Grundrechtsgarantien auszurichten bzw. an diesen zu messen. In allen anderen Fällen ergeben sich aber schwierige Fragen der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Konventionen, welche noch der Klärung bedürfen. Sicher ist nur, dass den Terroristen nicht der Status eines Kombattanten im Sinne des Kriegsvölkerrechts zuerkannt werden darf. Die Kombattanteneigenschaft ist ein privilegierter Status, der das Recht zu Tötungshandlungen in bewaffneten Konflikten einschließt. Diesen Status Terroristen zu gewähren, hieße ihre verbrecherischen Aktivitäten zu legalisieren. Andererseits sind aber auch Terroristen Menschen, die nicht für »vogelfrei« erklärt werden können. Die Internierung und Behandlung der terroristischer Aktivitäten beschuldigter Gefangener im kubanischen Gefangenenlager Guantanamo durch die USA verstößt gegen eine Reihe menschen- und kriegsrechtlicher Prinzipien.
Irak-Krieg
Der Krieg gegen den Irak hat mit der Bekämpfung des Terrorismus zunächst einmal wenig zu tun. Verbindungen des mittlerweile gestürzten Regimes des Saddam Hussein zur Al Qaida oder seine Verstrickung in andere Terrorakte haben sich nicht nachweisen lassen. Die am zweiten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 gehaltene Rede Präsident Bushs an die Nation, in der zum Thema »America’s actions in the war on terror« ausführte: „The war on terror is a lengthy and a different kind of war, fought on many fronts in many places. Iraq is now the central front“, ist daher dem Bereich politischer Rhetorik zuzuordnen. Der eigentliche Hintergrund des Krieges ist vielmehr die Beseitigung eines als unakzeptabel angesehenen Sicherheitsrisikos sowie die Absicht, durch entschlossenes Handeln künftige staatliche oder nicht-staatliche Aggressoren sozusagen »generalpräventiv« abzuschrecken. Daneben mögen andere Motive (Befriedung der Region, Schaffung günstigerer Voraussetzung für die Lösung des Palästina-Problems, Sicherung der Versorgung mit Öl, u.a.) eine Rolle gespielt haben.
Der Krieg gegen den Irak war evident illegal. Weder lag eine Mandatierung oder auch nur Billigung durch den Sicherheitsrat vor noch eine Angriffssituation, welche das Selbstverteidigungsrecht auslöst. Schließlich kann der Krieg auch nicht als eine »humanitäre Aktion zur Befreiung der irakischen Bevölkerung« gerechtfertigt werden. Träfe diese erweiterte Deutung des ohnehin umstrittenen Rechtsinstituts der humanitären Intervention zu, wären »humanitären Befreiungskriegen« zur Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie weltweit Tür und Tor geöffnet. Vom völkerrechtlichen Gewaltverbot bliebe nicht viel übrig. Schließlich stellt der Irak-Krieg auch nicht den »Normalfall« einer einmaligen Durchbrechung des Völkerrechts dar, nach der man gewissermaßen wieder »zur Normalität zurückkehrt«. Der Einsatz militärischer Gewalt zur Beseitigung des der »Achse des Bösen« zugerechneten Regimes des Saddam Hussein steht vielmehr für den generellen hegemonialen Machtanspruch der USA, notfalls auch gegen den Willen der Staatengemeinschaft ihre nationalen Sicherheitsinteressen weit im Vorfeld von Gefährdungen zu sichern. Die Bush-Doktrin so genannter prä-emptiver Kriege löst das Selbstverteidigungsrecht letztlich von seiner defensiven Zielsetzung und interpretiert es in eine offensiv einsetzbare Präventionsstrategie um. Die Verwendung des Begriffs der »Prä-emption« hat den Zweck, eben dies zumindest sprachlich zu verschleiern. In der amerikanischen Völkerrechtslehre steht das Konzept der »Prä-emption« für die Abwehr eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs („the necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment of deliberation“, sog. Caroline Formel aus dem Jahr 1841). Maßnahmen »präventiver Kriegsführung«, auf welche die Bush-Doktrin praktisch hinausläuft, sind hiervon jedoch zu unterscheiden. Sie können auch nach bisheriger amerikanischer Völkerrechtslehre nicht auf das Selbstverteidigungsrecht gestützt werden. Das erklärt, warum der Begriff der »Prävention« an den entsprechenden Stellen der »Nationalen Sicherheitsstrategie« so peinlich vermieden wurde.
Völkerrecht und Völkerrechtsbruch
Angesichts der evidenten Rechtswidrigkeit des Irak-Krieges ist auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, welche Auswirkungen sich auf das Völkerrecht als konsentierter Rechtsordnung der Weltgemeinschaft ergeben. Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass der Völkerrechtsbruch, auch wenn er von der gegenwärtigen Hegemonialmacht begangen worden ist, unter Mitwirkung einer Reihe von »willing nations«, darunter auch der eine oder andere gegenwärtige oder künftige EU-Staat, das Völkerrecht nicht gewissermaßen »über Nacht« verändert. Völkerrecht, so treffend der Berliner Völkerrechtler Philip Kunig, „entsteht nicht in Momentaufnahmen. Es ist flüssiger als anderes Recht, aber auch zähflüssig“. Sicher kann Zustimmung zu von anderen geäußerten Rechtsbehauptungen auch aus Verhaltensweisen und aus Verschweigungen erwachsen. Seine Illegalität hat der Krieg gegen den Irak aber bisher nicht verloren. Neue Doktrinen sind durch ihn bisher nicht zu Recht erstarkt.
Insoweit spielt auch eine große Rolle, wie sich die Weltgemeinschaft in Gestalt der Vereinten Nationen gegenüber dem Krieg gegen den Irak verhalten hat. In einem von dem Medien ausführlichst begleiteten diplomatischen Prozess ist im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen intensiv über die von den USA sowie Großbritannien und Spanien geforderte »zweite« Irak-Resolution gestritten worden, mit der ein mehr oder weniger deutlich formuliertes Mandat zum Einsatz bewaffneter Gewalt gegenüber dem Irak erteilt worden wäre. Zurecht hat die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates diesem Ansinnen widersprochen. Auch für die Vereinten Nationen gilt, dass Gewaltmaßnahmen kriegerischen Ausmaßes immer die »ultima ratio« aller verfügbaren Mittel sein darf. Indem der Sicherheitsrat der Versuchung widerstanden hat, dem bereits beschlossenen Krieg das Deckmäntelchen der Multilateralität und zweifelhafter Legalität zu geben, haben sie dem Völkerrecht und den Vereinten Nationen einen Dienst erwiesen.
Von dieser Haltung ist der Sicherheitsrat auch nicht mit der einstimmig angenommen Resolution 1483 vom 22. Mai 2003 dieses Jahres abgewichen. Zwar verzichteten seine Mitglieder mit Ausnahme Syriens auf einen förmlichen Protest gegen den Krieg, weil andernfalls die USA und Großbritannien der Entschließung nicht zugestimmt hätten. Jedoch ist mit ihr keinerlei Anerkennung der Rechtmäßigkeit des Krieges erfolgt. In der auf Kapitel VII der UN-Charta gestützten Resolution werden die USA und Großbritannien lediglich als „Besatzungsmächte unter einheitlicher Führung“ („die Behörde“) zur Kenntnis genommen und ihre damit verbundenen Rechte und Pflichten unter anwendbarem Kriegsvölkerrecht anerkannt. Zur Frage der Legalität oder Illegalität des vorangegangenen Krieges verhält sich die Resolution neutral. Zugleich hat die Resolution den erforderlichen Kontakt zwischen den Besatzungsmächten und den Vereinten Nationen gewahrt. Deren Rolle bleibt zwar weit hinter der früherer »Post-conflict peace building«-Prozesse zurück (Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Ost-Timor). Sie hält jedoch die Tür zur schrittweisen Verstärkung der UN-Befugnisse offen, was mittlerweile auch durch Resolution 1511 des Sicherheitsrates vom 16. Oktober 2003 erfolgt ist. Zufriedenstellen können die immer noch marginalen Befugnisse der Vereinten Nationen im Irak aber bislang bei weitem noch nicht.
Beendigung der rechtlichen Debatte über den Irak-Krieg?
Bleibt die Frage, ob man aus politischen Gründen nicht die Akte über die Frage der Rechtmäßigkeit des Irak-Krieges schließen und sich auf die gegenwärtige Situation im Irak und dessen Wiederaufbau sowie die Aufgabe einer eventuellen Fortentwicklung des Völkerrechts konzentrieren sollte. Zunächst zu den aktuellen Verhältnissen im Irak: Die anhaltenden Anschläge gegen die Besatzungstruppen und sonstige »ausländische Einheiten«, unter ihnen auch die neutralen Missionen der Weltgemeinschaft, offenbaren die ganze Problematik des völkerrechtswidrigen Krieges. Von einer raschen Akzeptierung der geschaffenen Fakten auf irakischem Boden, ja begeisterten Begrüßung der Invasionstruppen, kann keine Rede sein. Die nahezu täglichen Gewaltanschläge gegen die auswärtigen Besatzungstruppen nehmen Formen eines Partisanenkrieges an. Es ist eingetreten, was Kenner des Nahen Osten befürchtet haben: Der Krieg gegen den Irak hat sich in einen Krieg im Irak verwandelt. Die überwiegend als Selbstmordaktionen begangenen Maßnahmen des Widerstandes gegen die Besatzungsmächte als bloße »Akte des Terrors« abzutun, bedeutet, gegenüber dieser Realität die Augen verschließen zu wollen – und sei es auch nur die der Öffentlichkeit im eigenen Lande.
Aber auch mit Blick auf die Fortentwicklung des Völkerrechts würde man es sich zu einfach machen, den Mantel des Vergessens oder auch nur Schweigens über die Frage der Rechtmäßigkeit des Irak-Krieges zu breiten. Über die Fortentwicklung des Völkerrechts kann sinnvoller Weise erst gesprochen werden, wenn man sich Klarheit über die Beurteilung der neuen Gegebenheiten und Vorgänge nach geltendem Recht verschafft hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass Völkerrecht letztlich im Diskurs entsteht. Was zunächst lediglich als Recht behauptet oder wie im Fall des Iraks einfach praktiziert wurde, kann durch Zustimmung oder stillschweigende Hinnahme der Staatengemeinschaft unversehens zu Recht erstarken. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Feststellung Wert zu legen, dass sich die USA und Großbritannien im Sicherheitsrat zur Rechtfertigung des Krieges nicht auf das Selbstverteidigungsrecht (und damit die »Bush-Doktrin«), sondern auf eine angeblich vorliegende Ermächtigung durch frühere Resolutionen des Sicherheitsrates berufen haben. So falsch diese Rechtsbehauptungen sind, so begrüßenswert sind sie jedoch unter dem Gesichtspunkt der Geltung des Rechts. Wer dermaßen rechtlich argumentiert, erkennt implizit die Geltung des Rechts an. Auch kann auf die Rechtsbehauptungen der USA und Großbritanniens Bezug genommen werden, um einer Deutung der Haltung der Staatengemeinschaft zum Irak-Krieg als stillschweigende Billigung »prä-emptiver« Kriege im Sinne der »Bush-Doktrin« zu widersprechen.
Fazit
Entgegen einem verbreiten Eindruck in der Öffentlichkeit hat das Völkerrecht im Hinblick auf die »Neuen Kriege« eine erstaunliche Anpassungsbereitschaft, aber auch Resistenz gegenüber Tendenzen erwiesen, die auf eine Aufkündigung des Grundkonsenses der auf dem Gewaltverbot aufbauenden Völkerrechtsordnung hinauslaufen würden. Wo es ohne Beeinträchtigung der nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Prinzipien möglich war, ist das Völkerrecht flexibel den neuen Formen bewaffneter Gewalt und dem damit einhergehenden Wandel der Sicherheitsstrukturen angepasst worden (globaler transnationaler Terrorismus). Das schließt vorübergehende rechtliche Ungewissheiten und Regelungslücken nicht aus. Diese zu beheben bzw. zu füllen ist eine rechtliche und rechtspolitische Aufgabe, welche am neuen Paradigma multipolarer Gewaltstrukturen (Privatisierung der Gewalt, transnationale bewaffnete Konflikte) zu orientieren hat.
Ein Paradigmenwechsel ist auch mit den neuen hegemonialen Machtstrukturen verbunden. Hier stehen Völkerrecht und Vereinte Nationen vor der Aufgabe, sich politischen Unterwerfungsansprüchen zu widersetzen, wie im Fall des Irak-Krieges. Ein Recht zum Krieg gibt es nicht mehr. Nur noch Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates und eng begrenzte Ausnahmen zulässiger Gewalt. Dabei sind auch Kompromisse einzugehen, mögen sie vorübergehend auch irritierend sein, wie die Hinnahme der geschaffenen Fakten im Irak durch die Resolutionen 1483 und 1511 des Sicherheitsrates aus diesem Jahr. Auch auf dem Weg der Wiederfindung eines Einklangs zwischen Recht und Macht vermitteln Momentaufnahmen kein verlässliches Bild. Sie können sogar täuschen. Entscheidend ist, dass unvermeidliche Kompromisse mit dem richtigen Ziel eingegangen werden. Dieses muss die Sicherung des Rechts und des Multilateralismus in den internationalen Beziehungen sein. Dazu müssen die Institutionen der Weltgemeinschaft allerdings auch auf die berechtigten Sicherheitsinteressen der Staaten (und ihrer Bürger) im Hinblick auf neue Gefahren eingehen. Tun sie dies nicht, wird die Prävention an den Vereinten Nationen vorbei betrieben. Zugleich kehrt der Krieg als Mittel der Politik zurück, in der Sprache wie im Handeln.
Literaturhinweis:
Siehe zu den angesprochen Fragen die Schwerpunkthefte des Archiv des Völkerrechts »11. September 2001 – ein Jahr danach« mit Beiträgen von Thomas Bruha, Stefan Oeter, Markus Kotzur, Thilo Marauhn (Heft 4/2002) sowie »Irak-Krieg und Völkerrecht« mit Beiträgen von Michael Bothe, Wolff Heintschel von Heinegg, Thomas Bruha, Daniel Thürer, Philip Kunig (Heft 3/2003).
Prof. Dr. jur. Thomas Bruha, Direktor am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg und am Institut für Integrationsforschung des Europa-Kolleg Hamburg