W&F 2023/2

»Neue« Pazifismen?

Eine internationale Bestandsaufnahme

von Julia Nennstiel

In der (englischsprachigen) Friedens- und Konfliktforschung sind explizit pazifistische und antimilitaristische Beiträge gegenwärtig kaum sichtbar. Aber es gibt diese Beiträge – und sie unterscheiden sich in einigen Punkten von dem, was klassisch und auch in aktuellen politischen Debatten zumeist mit den Begriffen des »Pazifismus« oder »Antimilitarismus« assoziiert wird. Dieser Beitrag wagt eine Bestandsaufnahme aktueller wissenschaftlicher Debatten.

Im öffentlichen Diskurs wird Pazifismus meist assoziiert mit gesinnungsethisch (etwa durch ein absolutes Tötungsverbot) begründeter Ablehnung von Krieg und physischer Gewalt, verbunden mit der Forderung nach mehr Diplomatie. Jüngere pazifistische und antimilitaristische Forschungsbeiträge – selbst solche, die explizit mit den Begriffen des Pazifismus oder Antimilitarismus arbeiten – entsprechen diesem Bild aber eher selten. Diese explizit pazifistische und antimilitaristische Forschung umfasst eine angesichts ihrer geringen Gesamtzahl überraschende Breite an Themen und Thesen, die wahrzunehmen sich gerade auch angesichts der stärkeren öffentlichen Debatte um Pazifismus seit Beginn des Ukraine-Kriegs lohnt.

Im Folgenden möchte ich die genannte Diversität skizzenhaft umreißen. Als Grundlage dienen Forschungspublikationen der letzten fünf Jahre, die sich explizit pazifistisch oder antimilitaristisch positionieren. Zentrale Diskurslinien werden anhand von vier miteinander verwobenen Themenbereichen dargestellt: 1. die politische (Un-)Wirksamkeit militärischer Gewalt, 2. deren moralische Legitimierung, 3. indirekte Gewalt und die Wirkung von Militär/Militarismus in »Friedenszeiten« und 4. reflexive Kritik pazifistischer und antimilitaristischer Forschung. Aufgrund der unterschiedlichen konzeptionellen und theoretischen Ausgangspunkte der berücksichtigten Forschungsbeiträge bleibt deren Darstellung dabei notwendigerweise segmenthaft.

Politische (Un-)Wirksamkeit militärischer Gewalt

Ein zentrales Thema neuerer pazifistischer Arbeiten ist die (Un-)Wirksamkeit militärischer Gewalt als politisches Mittel. Aus konsequentialistischer Perspektive und unter Bezugnahme auf (auch nicht pazifistische oder antimilitaristische) sozialwissenschaftliche Forschung untersuchen sie Wirkungsmechanismen und Folgen bewaffneter Gewalt sowie mögliche Alternativen.

Dies geschieht erstens in Form von Kritik an übersimplifizierten Vorstellungen hinsichtlich der Wirkung militärischer Gewalt auf das Verhalten ihrer Adressaten. Oft werde Gewalt gegen (staatliche oder nichtstaatliche) Gruppen mit Gewalt gegen Individuen verglichen und suggeriert, Gewalt könne das Gegenüber von unerwünschtem Verhalten abbringen, indem sie ihm die dazu nötigen Mittel nimmt und so die Handlung physisch-materiell unmöglich macht (Wallace 2020, S. 54f.). Das Verhalten einer militärischer Gewalt ausgesetzten Gruppe hänge jedoch maßgeblich von gruppeninternen sozialen, psychologischen und diskursiven Faktoren ab und nicht allein von ihren materiellen Kapazitäten (Wallace 2018, S. 240f.; Wallace 2020, S. 55). Die Wirkung von Gewalt auf diese Faktoren sei dabei höchst ambivalent. Der Tod von Mitgliedern bspw. könne den kollektiven Willen einer Gruppe zu weiterer Gewaltaustragung schwächen, ebenso gut aber verbleibende Mitglieder zusammenschweißen, Gewalt fördernde psychologische und diskursive Faktoren innerhalb der Gruppe verstärken und sie veranlassen, länger und gewaltsamer zu kämpfen (Jackson 2019, S. 219f.; Wallace 2020, S. 55). Dies sei in zahlreichen zwischen- und innerstaatlichen Konflikten zu beobachten.

Ähnlich kritisch analysiert werden die Auswirkungen militärischer Gewalt auf dasjenige, für das vermeintlich gekämpft wird. Entgegen der theoretischen Trennung von Militärischem und Zivilem reichten militärische Konflikte samt ihrer Folgen weit in zivile Bereiche hinein, mit Tod und (psychischer wie physischer) Verwundung von Zivilist*innen, auseinandergerissenen sozialen Netzwerken, Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und demokratischer Institutionen sowie der Zerstörung von Umwelt und ökonomischer Infrastruktur (Llewellyn 2018, S. 262f.). So konterkarierten selbst mit einem militärischen Sieg endende Kriege oft letztlich die erstrebten politischen Ziele (Jackson 2019, S. 218f.), weil gerade das, was sie vermeintlich schützen sollen – Lebewesen, Strukturen, Werte –, durch das militärische Vorgehen selbst recht zuverlässig beeinträchtigt oder zerstört werde (Castrodale 2018, S. 71f.; McCormack und Gilbert 2022, S. 184f.).

Neben der politischen (Un-)Wirksamkeit militärischer Gewalt untersuchen pazifistische Arbeiten, wie trotzdem (ggf. auch wider besseres Wissen) die hohen Erwartungen an militärische Gewalt als »letztes« politisches Mittel aufrechterhalten werden. Unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung erzeuge militärische Gewalt den Eindruck, dem Gegner werde mit »Stärke« begegnet und die eigene Vulnerabilität reduziert (Wallace 2020, S. 56). Dies mache ein Plädoyer zugunsten militärischer Konfrontation im Kontext der Demonstration politischer »Handlungsfähigkeit« im Zweifel deutlich attraktiver als etwa die nüchterne Einschätzung, ein Konflikt sei – mit und ohne Krieg – nicht zufriedenstellend aufzulösen und Unsicherheiten seien nicht zu eliminieren (vgl. Moses 2018, S. 56f.; Wallace 2020, S. 61). Gleichzeitig begünstige es die Überschätzung der Leistungsfähigkeit militärischer Gewalt und das Ausblenden ihrer (absehbaren) Konsequenzen (Dixon 2022, S. 394).

Diese Kritiken an militärischer Gewalt verbinden einige Autor*innen mit dem Verweis auf unbewaffneten Widerstand als alternative Möglichkeit der Konfliktaustragung. Damit widersprechen sie der Annahme, die Ablehnung von Krieg bedeute Passivität und Unterwerfung (Jackson 2018, S. 167). Sofern das Ziel in der Veränderung politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Strukturen oder des Verhaltens anderer besteht und nicht in Zerstörung per se, gebe es keinen prinzipiellen Grund, auf militärische Gewalt zu setzen (Wallace 2018, S. 241). Tatsächlich belegten zahlreiche Beispiele, wie durch politische und ökonomische Nichtkooperation, Proteste und/oder unbewaffnete Intervention etwa soziale und politische Anliegen durchgesetzt oder als illegitim wahrgenommene Herrschaft(-sversuche) gestürzt oder abgewehrt wurden (Jackson 2019, S. 216f.; vgl. Wallace 2020, S. 55-59). Dabei habe sich, entgegen weit verbreiteter Vorstellungen, unbewaffneter Widerstand teils auch gegen höchst repressive Gegner durchgesetzt (Jackson 2018, S. 168). Dass er nicht immer »vollständigen Erfolg« erzielt, könne angesichts der (In-)Effektivität militärischer Gewalt kein Grund sein, ihn in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen als Alternative auszublenden. Schließlich betrügen seine ökologischen, ökonomischen und vor allem humanitären, politischen und sozialen »Kosten« in den allermeisten Fällen nur einen Bruchteil der Kosten militärischer Gewalt (s. oben; vgl. Wallace 2018; Wallace 2020, S. 56).

Moral(ist)ische Kategorien zur Legitimierung militärischer Gewalt

Einen weiteren Gegenstand pazifistischer Analysen bilden moralische Kategorien und Muster, durch die militärische Gewalt gerechtfertigt und ihre Infragestellung delegitimiert wird.

Im Fokus steht der Anspruch auf zweifelsfreie moralische Überlegenheit. Militärische Gewalt und die Ausnahme vom grundsätzlichen Tötungsverbot werde oft mit der vorgeblich klaren Moralität der eigenen Ziele gerechtfertigt oder für geboten erklärt (Dexter 2019, S. 249f.). Die Annahme, die Sicht des Anderen könne einfach eine andere Perspektive darstellen, statt allein auf ideologischem Wahn, Manipulation oder Ähnlichem zu beruhen, werde als absurd oder verräterisch abgelehnt (Moses 2018, S. 49ff.; vgl. Ford 2020, S. 122). Die Beobachtung aber, dass die meisten Parteien in den meisten Konflikten (inklusive der eigenen Partei in vergangenen, oftmals nicht gerne erinnerten Kriegen) eben diese epistemisch-normative Überlegenheit für sich und die eigenen Ziele beanspruch(t)en, gebiete Skepsis gegenüber dem in jedem Krieg erneut erhobenen Anspruch, als einzige Partei das Richtige zu erkennen und sich dafür einzusetzen (Jackson 2019, S. 222). Mit dieser Kritik der Moralisierung militärischer Gewalt verfolgen einige Autor*innen explizit keine »korrekte« Antwort auf Konflikte (Hutchings 2018, S. 186f.; Hutchings 2019, S. 196f.), sondern eine diskursive Intervention mit dem Ziel, jede (Re-)Präsentation militärischer Gewalt als moralisch eindeutige und unausweichliche Antwort auf einen Konflikt gesellschaftlich kontrovers und hinterfragbar zu halten (Moses 2018, S. 49-57; vgl. Dexter 2019, S. 248, 255f.; Ford 2020, S. 125ff.).

Zur Analyse konkreter diskursiver Elemente dieses allgemeinen Musters der Moralisierung leisten feministische und postkoloniale Perspektiven einen zentralen Beitrag.

Ein solches der Moralisierung zugrundeliegendes Gedankengebäude seien androzentrisch und (post-)kolonial vorgeprägte Dichotomien. Kriege würden häufig als Kontrast von befreiender/beschützender versus unterdrückender Gewalt oder von fortschrittlicher versus rückständiger Maskulinität dargestellt, assoziiert jeweils mit westlichen Staaten/Militärs auf der einen Seite und nicht-westlichen Staaten/Militärs sowie insbesondere nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen auf der anderen (Heathcote 2018, S. 393; Wallace 2018, S. 240; Wright 2020, S. 664ff.; McCormack und Gilbert 2022, S. 182-185). Diese dichotom-hierarchische Unterscheidung erleichtere die moralische Idealisierung der eigenen Kriegsführung, indem sie die gemeinsame Realität (bspw. von Kriegsverbrechen oder der Instrumentalisierung von Menschen) beider Seiten verdecke (Dixon 2022, S. 389ff.).

Einhergehend mit dieser Dichotomisierung werde kategorien-interne Heterogenität weitgehend ausgeblendet. Ein Beitrag aus der Perspektive der »Disability and Mad Studies« verdeutlicht etwa, wie Kämpfer*innen anhand ihrer Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Konfliktpartei definiert, in zu schützende und zu zerstörende Körper kategorisiert und darauf reduziert werden (Castrodale 2018, S. 68f.; vgl. Christoyannopoulos 2022, S. 9f.). Andere (soziale, berufliche, politische) Identitäten der Menschen sowie ihr (möglicherweise gespaltenes) Verhältnis zur eigenen Gruppe verschwänden hinter ihrer Rolle als »Teil« der Konfliktpartei und würden damit für die moralische Bewertung ihrer Tötung irrelevant gemacht (vgl. Hutchings 2019, S. 197). Auch die eigene Seite werde tendenziell anhand eines staatszentrischen Narrativs diskursiv homogenisiert und von internen Differenzen befreit. So werde die Moralisierung der eigenen militärischen Gewalt unterstützt durch das Ausblenden von Nuancen und Unordentlichkeiten der Realität, die das moralische Bild zu verkomplizieren drohen (vgl. Christoyannopoulos 2022, S. 8-12).

Unter den Beiträgen finden sich auch Analysen der Kooption feministischer Kritik, um militärische und militarisierte Strukturen und Projekte zu legitimieren. Sie zeichnen etwa nach, wie Kriege gerechtfertigt werden mit dem post-/kolonialen Narrativ, sie dienten der Befreiung der Frauen von unterdrückender, rückständiger Männlichkeit (Heathcote 2018, S. 392f.), oder untersuchen, wie das Thema »Gender« auf gleiche Repräsentation von Frauen in Armeen oder internationalen Organisationen reduziert wird, während die androzentrisch-militaristischen Strukturen und Praktiken dieser Institutionen unangetastet blieben (Heathcote 2018, S. 390f.; Wibben 2018, S. 137; vgl. Otto 2020, S. 26-30; Wright 2020, S. 666ff.). In beiden Fällen diene der Rekurs auf feministische Kritik dazu, militärischen Einsätzen und militarisierten Institutionen die Autorität schützender Gewalt zu verleihen, sie in ihrem moralischen Fundament zu stabilisieren und gleichzeitig feministisch-antimilitaristische Kritik gegen diese Einsätze und Institutionen zu entschärfen (Wright 2020, S. 653).

Schließlich verweisen einige Beiträge auf die Rolle selektiver Wahrnehmung, um das Bild der eigenen militärischen Gewalt als moralisch gerechtfertigt oder sogar löblich aufrechtzuerhalten. So zeigt die Perspektive der »Disability and Mad Studies« auch auf, wie gerade westlich-»fortschrittliche« Militärs versuchen, durch sanierende Sprache in Bezug auf Tötung und Verletzung sowie technologische Entwicklungen das Zerstörende und Be-hindernde von Kriegen auszublenden (Castrodale 2018, S. 70f.; vgl. McCormack und Gilbert 2022, S. 190f.). Ein weiteres fortdauerndes koloniales Muster zeige sich in der ungleichen moralischen Gewichtung der Folgen militärischer und militarisierter Gewalt je nach Nähe zum europäisch-nordamerikanischen Zentrum. Dieser postkoloniale »Rabatt« für das westliche Zentrum präge in subtiler Form auch den Friedensbegriff selbst, wenn der jahrzehntelange Frieden im europäischen Raum gelobt und gleichzeitig ignoriert wird, wie von diesem Raum militärische Gewalt »andernorts« ausgeht.

Indirekte Gewalt und Militär in »Friedenszeiten«

Einen dritten Schwerpunkt bilden Forschungsbeiträge, die sich systematisch mit strukturellen Formen von Gewalt und Militär jenseits bewaffneter Konflikte befassen. Sie widersprechen der populären Kritik, Pazifismus lehne einzig direkte physische Gewalt ab und übersehe Unterdrückung und indirekte Gewalt (vgl. Dexter 2019, S. 247).

So widmen sich einige pazifistische Beiträge dezidiert patriarchaler Herrschaft und struktureller Unterdrückung. Sie betonen, dass die mit Pazifismus assoziierte Ablehnung direkter Gewalt allein diese Verhältnisse nicht ändern könne (Hutchings 2018, S. 185ff.; vgl. Llewellyn 2018, S. 260f., 263f.), doch militärische Gewalt auch nicht. Denn sie greife nicht als isolierte Handlung von außen in Verhältnisse ein (Jackson 2019, S. 216; Ryan 2019, S. 13f.), sondern sei unvermeidbar Teil eines Kriegs»systems«, das neben Streitkräften und Rüstungsindustrie auch etwa die gesellschaftliche Akzeptanz militarisierter Normen umfasst (Christoyannopoulos 2022, S. 9, 12f.), und somit intrinsisch mit patriarchaler Herrschaft und struktureller Unterdrückung verwoben sei (Hutchings 2018, S. 183-187; Ryan 2019, S. 17-24; vgl. Llewellyn 2018, S. 264-267). Die pazifistische Ablehnung militärischer Gewalt basiere demzufolge dezidiert nicht auf der Vernachlässigung struktureller Gewalt, sondern vielmehr auf der Einschätzung, dass militärische Gewalt sie nicht reduziert, sondern im Gegenteil aufrechterhält und reproduziert.

Andere Beiträge kritisieren die Existenz des Militärs als Institution explizit unabhängig von der Frage nach der Vertretbarkeit von Krieg und militärischer Gewalt und betonen, dass selbst dann, wenn Krieg (bedingt) befürwortet würde, sich daraus keineswegs eine Rechtfertigung der Existenz eines Militärs ergebe (Dobos 2022). Die vielfältigen negativen Folgen und Gefahren, die Militär und militarisierte Strukturen auch zwischen beziehungsweise vor Kriegen verursachten – stellvertretend sei hier nur an ihre ökonomischen und ökologischen Kosten, die Militarisierung (zivil-)gesellschaftlicher Normen und Institutionen sowie an das Risiko eines coup d’état oder außenpolitischer Provokation erinnert (Dobos 2020) –, sollten Anlass geben, die Existenz des Militärs unabhängig vom Wert seines Einsatzes infrage zu stellen.

Im Zusammenhang mit Kritiken an militarisierten Praktiken und Strukturen warnen postkoloniale wie feministische Autor*innen explizit vor Analysen ohne Berücksichtigung räumlicher und zeitlicher Interdependenzen. Sie unterstreichen etwa, dass Militarismen im Globalen Süden nicht nur historisch aus kolonialen Verhältnissen erwachsen sind (Gani 2021, S. 555-560), sondern auch aktuell fortwährend reproduziert werden, etwa durch post-/koloniale Wirtschafts- und Governance-Strukturen (Chisholm und Ketola 2020), durch die u.a. von internationalen Organisationen propagierte Norm eines fortschrittlichen Staates als eines polizeilich-militärisch »starken« (Parashar 2018) und durch transnationalen Waffenhandel (vgl. Stavrianakis 2019, S. 64f.,75f.). Selbiges gelte für Militarismen im Globalen Norden, deren post-/koloniale Prägung sich in ihrem Selbstbild als Zähmer des unzivilisierten, gefährlichen Anderen ebenso niederschlage wie in dem anhaltenden Interesse zur gewaltsamen Aufrechterhaltung eurozentrischer ökonomischer und politischer Strukturen weltweit (Gani 2021, S. 550-555).

Selbstreflexion

Einen neuen Diskussionsstrang bildet die reflexive Kritik pazifistischer und antimilitaristischer Forschung. Dazu zählt die Problematisierung militarisierter wissenschaftlicher Institutionen und des »methodologischen Militarismus« selbst in der (eigenen) antimilitaristischen Forschung (Altınay 2019). Daneben wird die reflexive Kritik maßgeblich vorangetrieben durch feministische und postkoloniale Arbeiten.

Sie machen auf (mindestens) zwei Fragen aufmerksam. Die erste betrifft ausschließende Momente in der pazifistischen und antimilitaristischen Wissensproduktion: Wessen Wissen ist das Wissen des Pazifismus oder Antimilitarismus? Wer produziert es? Beispielsweise zeigt eine Autorin auf, wie das westlich geprägte konzeptionelle Verständnis dessen, was Pazifismus ist und wie er zu diskutieren sei, viele Perspektiven, die Pazifismen anders artikulierten, exkludiere und »unhörbar« mache (Sharify-Funk 2019). Dies fordere eine grundlegende und fortwährende Kritik dessen, wer als pazifistische oder antimilitaristische Forscher*in »sprechen«kann.

Die zweite Frage betrifft die Adressat*innen pazifistischen und antimilitaristischen Wissens: An wen richtet sich pazifistische und antimilitaristische Forschung? Wen spricht sie an? Den meisten Studien zu Krieg, Konflikt und Frieden sei ein Sprechmodus gemein, der sich an die »wohlwollenden Mächtigen« richtet, etwa euroatlantische wissenschaftliche und politische Eliten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder liberale Militärs (Hutchings 2019, S. 195). Will pazifistische und antimilitaristische Forschung nicht nur direkter, sondern auch struktureller und epistemischer Gewalt etwas entgegensetzen, so sei von zentraler Bedeutung, dass sie diesen Adressat*innenkreis nicht übernimmt, sondern gerade diejenigen einbezieht, »über« die in herkömmlichen (sicherheits- und friedens-)politischen Diskursen gesprochen wurde, ohne sie selbst »an«zusprechen.

Literatur

Altınay, A. G. (2019): Undoing academic cultures of militarism. Turkey and beyond. Current Anthropology 60(19), S. 15-25.

Castrodale, M. (2018): Disabling militarism. Theorising antimilitarism, dis/ability and dis/placement. In: Ellis et al. (Hrsg.): Manifestos for the future of critical disability studies. London: Routledge, S. 65-76.

Chisholm, A.; Ketola, H. (2020): The cruel optimism of militarism. Feminist curiosity, affect, and global security. International political sociology 14(3), S. 270-285.

Christoyannopoulos, A. (2022): A pacifist critique of the red poppy. Reflections on British war commemorations’ increasingly hegemonic militarism. Critical Military Studies (online first).

Dexter, H. (2019): Pacifism and the problem of protecting others. International Politics 56, S. 243-258.

Dixon, P. (2022): “The road to hell is paved with good intentions”. New cosmopolitanism and pacifist warriors. New Political Science 44(3), S. 377-395.

Dobos, N. (2020): Ethics, security, and the war-machine. Oxford: Oxford Univ. Press.

Dobos, N. (2022): Military abolitionism. A critical typology. International Studies Quarterly 66(2), sqac018.

Ford, K. (2020): A pacifist approach to countering extremism. Global Society 34(1), S. 112-127.

Gani, J. (2021): Racial militarism and civilizational anxiety at the imperial encounter. From metropole to the postcolonial state. Security Dialogue 52(6), S. 546-566.

Heathcote, G. (2018): Security Council Resolution 2242 on Women, Peace and Security. Progressive gains or dangerous development? Global Society 32(4), S. 374-394.

Hutchings, K. (2018): Pacifism is dirty. Towards an ethico-political defence. Critical Studies on Security 6(2), S. 176-192.

Hutchings, K. (2019): From just war theory to ethico-political pacifism. Critical Studies on Security 7(3), S. 191-198.

Jackson, R. (2018): Pacifism. The anatomy of a subjugated knowledge. Critical Studies on Security 6(2), S. 160-175.

Jackson, R. (2019): Pacifism and the ethical imagination in IR. International Politics 56, S. 212-227.

Llewellyn, J. (2018): Building emancipatory peace through anarcho-pacifism. Critical Studies on Security 6(2), S. 259-272.

McCormack, K.; Gilbert, E. (2022): The geopolitics of militarism and humanitarianism. Progress in Human Geography 46(1), S. 179-197.

Moses, J. (2018): Peace without perfection. The intersections of realist and pacifist thought. Cooperation and Conflict 53(1), S. 42-60.

Otto, D. (2020): Rethinking peace in international law and politics from a queer feminist perspective. Feminist Review 126, S. 19-38.

Parashar, S. (2018): Discursive (in)securities and postcolonial anxiety. Enabling excessive militarism in India. Security Dialogue 49(1-2), S. 123-135.

Ryan, C. (2019): War, hostilities, terrorism: A pacifist perspective. In: Kustermans et al. (Hrsg.): Pacifism’s appeal. Cham: Palgrave Macmillan, S. 11-40.

Sharify-Funk, M. (2019): Toward a global understanding of pacifism. Hindu, Islamic, and Buddhist contributions. In: Kustermans et al. (Hrsg.): Pacifism’s appeal. Cham: Palgrave Macmillan, S. 103-136.

Stavrianakis, A. (2019): Controlling weapons circulation in a postcolonial militarised world. Review of International Studies 45(1), S. 57-76.

Wallace, M. (2018): Standing ‘bare hands’ against the Syrian regime: The turn to armed resistance and the question of civilian protection. Critical Studies on Security 6(2), S. 237-258.

Wallace, M. (2020): Wrestling with another human being: The merits of a messy, power-laden pacifism. Global Society 34(1), S. 52-67.

Wibben, A. (2018): Why we need to study (US) militarism. A critical feminist lens. Security dialogue 49(1-2), S. 136-148.

Wright, H. (2020): “Masculinities perspectives”: Advancing a radical Women, Peace and Security agenda? International Feminist Journal of Politics 22(5), S. 652-674.

Julia Nennstiel studierte an der Universität Manchester Internationale Beziehungen (M.A.) mit Schwerpunkt Kritische Sicherheits- und Militärstudien. Aktuell promoviert sie zur Rolle und dem Verhalten von Streit- und Sicherheitskräften in Kontexten ziviler Widerstandsbewegungen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/2 Klimakrise, Seite 39–42