W&F 1986/1

Neue Spin-off-Studie: „Sehr gewagte Annahmen...“

von Redaktion

Mit Datum vom 30.11.1985 publizierte die überwiegend für das BMVg arbeitende Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft die Literaturrecherche „ZIVILER NUTZEN MILITÄRISCH MOTIVIERTER FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG“, die im Auftrag des Forschungsministeriums erstellt wurde (B-SZ 1456/01 v. 30.11.1985, Ottobrunn). Überprüft wurden 65 Datenbanken, ausgewertet rund 200 Literaturhinweise, die zu etwa 2/3 aus den USA stammen; sie betreffen Luft-, Raum-, Schiffahrt und fortgeschrittene Produktionstechnologien, Mikroelektronik sowie Computertechnik. Im folgenden bringen wir Auszüge bzw. fassen wesentliche Aussagen zusammen.

Definition

„Als militärische FuE werden im folgenden jene FuE-Aktivitäten bezeichnet, die mit Finanzierung aus dem Wehretat direkt von militärischen Stellen bzw. im Auftrag militärischer Stellen von Universitätsinstituten, von sonstigen staatlichen Institutionen oder von Unternehmen durchgeführt werden. Ausgehend von dieser Definition ist zunächst festzustellen, daß es keinen strukturellen Unterschied zwischen militärischen und zivilen FuE-Aktivitäten gibt. Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, daß Forscher in militärischen Labors anders vorgehen als in zivilen. Unterschiede zwischen militärischer und ziviler FuE ergeben sich in Bezug auf

  • die Ziele, die mit FuE verfolgt werden,
  • die Art der Projekte, die in Angriff genommen werden,
  • die Rahmenbedingungen für die jeweiligen FuE-Aktivitäten.

Militärische FuE verfolgt immer militärische Ziele. Insofern gibt es im militärischen Bereich keine eigentliche Grundlagenforschung, denn auch in einem frühen Stadium werden die Forschungsthemen nach dem Kriterium „militärisch relevante Technologien“ selektiert und entsprechend gefördert.“ (S. 1) „Militärische FuE unterliegt erheblich höherer Geheimhaltung als zivile FuE. Diese Geheimhaltung bezieht sich nicht nur auf Vorgehensweise und Ergebnisse, sondern oft auch auf die Tatsache selbst, daß gewisse Forschungsprojekte durchgeführt werden. Im zivilen Bereich beschränkt sich die Geheimhaltung, wenn überhaupt vorhanden, vorwiegend auf den FuE-Zeitraum.“ (S. 2)

Die IABG konzediert hinsichtlich der Literatur, daß für „militärische Institutionen bzw. für sonstige an militärischer FuE beteiligte Kreise … ein möglicher Technologietransfer in den zivilen Bereich zu einem wichtigen Argument geworden (ist), um militärische FuE zu rechtfertigen bzw. die hierfür zur Verfügung gestellten öffentlichen Finanzmittel aufzustocken. Dementsprechend ist davon auszugehen, daß ein Teil der Literatur durch diese Interessenlage geprägt ist.“

1. Luftfahrttechnologie

Hier gab es traditionell eine intensive Wechselwirkung; „zumindest in der Anfangsphase“ (S. 10) bestand kein großer Unterschied zwischen milit. und ziviler FuE. Seit den 60er Jahren sind allerdings die Entwicklungskosten für zivile Flugzeuge stark angestiegen, „was auf einen geringeren Transfer aus dem militärischen Bereich hindeutet“ (S. 12). Insgesamt muß von einem „erheblichen militärisch-zivilen Technologietransfer“ ausgegangen werden (S. 10). Zum Beleg zieht IABG vor allem die RAD-CAP-Studie von NASA, DOD und DOT heran, welche für den Zeitraum von 1925 – 1972 51 Innovationskarrieren verfolgt und (freilich ohne detaillierte Belege – Red.) von einer „große(n) Anzahl von Innovationen“ (S. 11), sprach, die aus dem militärischen in den zivilen Bereich transferiert worden seien.

Das Motiv dieses Technologietransfers sind die Kosten- und damit Profitvorteile: „Die Senkung der Entwicklungskosten im zivilen Luftfahrtbereich (geschieht) durch

  • direkten Transfer militärischer Technologie und Hardware;
  • Mitbenutzung staatlicher Produktions- und Testanlagen;
  • Anwendung ähnlicher, manchmal identischer Designs im militärischen und zivilen Bereich, wobei die entsprechenden Kosten vom militärischen Bereich getragen wurden;
  • Mitarbeit in zivilen Projekten von Experten, die ihr know-how in militärischen Projekten erwarben;
  • rationelle Produktionsverfahren, die im Rahmen von militärischen FuE-Projekten entwickelt wurden.“ (S. 12)

„Es besteht bei militärisch geforderten Technologien eine offensichtliche Zeitverzögerung zwischen militärischer und ziviler Anwendung der Technologien, die auf Geheimhaltungsbestimmungen seitens des Militärs oder aber auf geringe Relevanz für den zivilen Bereich zurückzuführen ist.“ (S. 12)

Diese Verzögerung betrug im Schnitt 2 Jahre. Weiterhin ist „offenbar die Verzögerung zwischen militärischer und ziviler Anwendung abhängig (…) vom strategischen Wert der Technologie. So ist beispielsweise die Verzögerung für jene Technologien am größten, die von militärischer Seite unmittelbar nach der Entwicklung übernommen werden … So ist festzustellen, daß bei einigen strategisch wichtigen Entwicklungen, wie beim Turbojetantrieb oder beim Bordcomputer, die Verzögerung zwischen militärischer und ziviler Anwendung über 10 Jahre beträgt.“ (S. 13) Nach Aussage des OSTP 1982 gilt, „daß es in den Phasen der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung im Prinzip relativ geringe Unterschiede zwischen militärischen und zivilen Aktivitäten gibt. Unterschiede können sich hier allerdings dann ergeben, wenn gewisse Technologien aus Geheimhaltungsgründen dem zivilen Bereich vorenthalten bleiben. Größere Unterschiede treten allerdings im Bereich der Entwicklung und Demonstrationsphase auf, da hier die differierenden Anforderungsprofile an zivile und militärische Systeme zu berücksichtigen sind und Tests unter Bedingungen, die diesen Anforderungsprofilen entsprechen, durchgeführt werden müssen. Einige der wichtigsten Unterschiede sind in diesem Zusammenhang:

  • „Militärische Flugsysteme müssen unter Bedingungen operieren (etwa Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit, Flughöhe), die für zivile Flugzeuge nicht relevant sind, weil sie im Vergleich zum normalen Operationsmodus unrentabel wären.
  • Militärische Flugsysteme haben in der Regel geringere Lebenserwartungszeiten als zivile.“(10)

Daher „ist davon auszugehen, daß in einigen der technologischen Bereiche, die für die zivile Luftfahrt immer wichtiger werden, wie etwa der Umweltschub und die Wirtschaftlichkeit, insbesondere in bezug auf den Energieverbrauch, nur mit geringem Transfer aus dem militärischen Bereich zu rechnen ist. Zwar gibt es auch militärische Forschung im Umweltschutzbereich, aber sie beschränkt sich vor allem auf passive Maßnahmen. Aktive Maßnahmen, etwa im Lärmbereich, werden unterlassen und sind offenbar auch unerwünscht, weil (13/14) sie im allgemeinen zu höheren Gewichten und zu Leistungsvermindenung führen.“ „(…) in Bereichen wie etwa dem des Umweltschutzes ist, wenn überhaupt, nur mit einem geringen Transfer aus der militärischen FuE zu rechnen. Dieses hängt damit zusammen, daß geringere Emissionen bei vielen militärischen Systemen nur auf Kosten von Leistungsminderungen erreicht werden können. Das militärische Primat führt dann dazu, daß Umweltaspekte im Bereich der entwickelten Technologien und Produkte weitgehend unberücksichtigt bleiben.“ (S. 43)

„Der Hubschrauber gilt als primär zivile technologische Entwicklung und die Anforderungen an zivile und militärische Hubschrauber waren in der Vergangenheit auch sehr ähnlich. Die militärischen Hubschrauber haben sich in letzter Zeit jedoch stark verändert, wobei die Richtung auf Spezialisierung hin deutet: Von allgemein einsetzbaren zu Kampf-, Aufklärungs- und Frachthubschraubern. Somit driften militärische und zivile Hubschrauber in Bezug auf Anforderungsprofil und Designmerkmale auseinander. Zwar sind die Anforderungsprofile bezüglich der notwendigen Lufttauglichkeit ähnlich, sie differieren jedoch im Bereich der Absturzfähigkeit. Hier müssen militärische Hubschrauber erheblich höhere Standards einhalten, was zu einer entsprechenden Verteuerung und zu einer Leergewichtanhebung von 7-10 % führt. Es wird daher befürchtet, daß die Entwurfsnormen bei militärischen Hubschraubern in Zukunft höhere Vibrationsschwellenwerte und höhere Geräuschemissionen erlauben werden, um so die Kosten wieder in den Griff zu bekommen. Anforderungsprofile im Bereich der Aufgabenerfüllung sind für beide Systeme sehr unterschiedlich, insbesondere in Bezug auf

  • Umweltbedingungen (Temperatur Feuchtigkeit usw.)
  • Flughöhe
  • Nutzlasten.

Diese unterschiedlichen Anforderungsprofile führen zu unterschiedlichen Designspezifikationen, etwa bei

  • Anordnung der verschiedenen Subsysteme und Komponenten
  • Festigung der Kabine
  • Materialkonfiguration und Belastbarkeit des Rotors.

All dieses bewirkt, daß in der Praxis in zunehmendem Maße spezielle Entwicklungen für militärische und zivile Hubschrauber nötig werden.“ (S. 13 ff.)

2. Schiffahrts- und Produktionstechnologie

In der Schiffahrtstechnologie sei man „weniger erfolgreich gewesen“ (S. 16). Auch im Bereich der internationalen technologischen Konkurrenzfähigkeit konnte wenig erreicht werden.“ (S. 17) Bemühungen zum Transfer fortgeschrittener Produktionstechnologien haben „eine geringe Breitenwirkung gehabt … Erfolge gab es offenbar nur in kleinen Marktsegmenten.“ (19)

3. Mikroelektronik und Computertechnik

Auch die IABG-Studie schließt sich der zum Beispiel von DeGrasse vertretenen Ansicht an, daß die zentralen Innovationen (Transistor, integrierte Schaltungen, Speichertechnologie, Mikroprozessor etc.) aus dem zivilen Bereich kommen und die Bedeutung des Militärs bis Anfang der 60er Jahre in der Abnahme der (extrem teuren) Produkte bestand. Seitdem kommt auch die Marktnachfrage überwiegend aus dem zivilen Bereich. Daß zivile Neuentwicklungen nicht mehr im militärischen Bereich genutzt wurden, war der Gipfelpunkt dieser Entwicklung. Das 1977 konzipierte und 1980 begonnene VHISC-Programm reagierte darauf; es sollte keinen technology push liefern, sondern die zivile Technologie (VSLI) in den militärischen Bereich integrieren.

Das Programm soll daher in erster Linie potentielle Anwendungen der Mikroelektronik im militärischen Bereich fördern. Nur ein geringer Anteil des Programms war und ist darauf ausgerichtet, grundlegende technologische Innovationen zu initiieren, hier insbesondere in den Bereichen des Entwurfs und der Fertigung integrierter Schaltungen, der Materialforschung, der Systemarchitektur und vor allem der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Entwicklung der Computertechnologie war schon in der Frühphase vom Militär stark unterstützt worden. Unmittelbar nach Kriegsende entwickelte die US-Army in Zusammenarbeit mit der University of Pennsylvania den ersten digitalen Computer ENIAC, der für die Lösung ballistischer Probleme eingesetzt wurde. Ende der 40er förderte die US-Navy den vom MIT entwickelten Computer WHIRL-WIND I, der als erster Computer für Realzeitanwendungen eingesetzt werden konnte. Die US-Air Force unterstützte Anfang der 50er Jahre die Gründung des Lincoln Laboratory, aus der wichtige technologische Entwicklungen wie der erste Magnetspeicher kamen. Der erste Computer auf Transistorbasis endlich wurde Mitte der 50er für militärische Zwecke entwickelt. „Die weitere Entwicklung des Computers ab 1960 wurde nicht mehr nennenswert von militärischer Seite gefördert.“ (S. 26) Im Bereich der Software dagegen gibt es nach Ansicht der IAGB-Studie weitgehende Überlappungen der militärischen und zivilen Anforderungsprofile und daher – auch dank der Geheimhaltungsprobleme – einen Transfer.

4. Raumfahrt

Das Gesetz, welches die NASA ins Leben rief, verpflichtet sie, Aktivitäten zur Verbreitung der hier gewonnenen Technologie zu unternehmen. Die IABG-Studie referiert eine Reihe prominenterer Spin-off-Studien, die sich mit der Raumfahrttechnologie befassen: Welles & Watermann (1964); Midwest Research Institute (1971); Chase Econometric Associates Inc. (1977); Mathematica (1976); Mathtech (1977).

Die IABG-Studie kritisiert an diesen Untersuchungen:

  • es würden teilweise „sehr gewagte Annahmen gemacht, ohne sie näher zu begründen“
  • die Schätzungen über den Beitrag der NASA seien „teilweise unrealistisch“
  • die Auswahl sei parteiisch, da vornehmlich positive Fälle berücksichtigt werden, so daß keine problemlose Generalisierung möglich sei
  • echte Kosten-Nutzen-Analysen seien die Ausnahme
  • es wird nicht nach Alternativen gefragt
  • die ökonometrischen Analysen hantieren mit „sehr instabilen“ Beziehungen als Basis.

Insgesamt sei der empirische Gehalt der Untersuchungen „unbefriedigend (…) Viele der nicht näher begründeten Annahmen erweisen sich als notwendige Hilfskonstruktionen. Wichtige Informationen sind nicht vorhanden und sie sind, wenn überhaupt, nur schwierig zu erhalten.“ (S. 34) Eine quantitative Bestimmung des Technologietransfers auf der Ebene aggregierter Output-Indikatoren bereite „erhebliche Schwierigkeiten“ (S. 35), was erfolgreiche Nachweise auf der Ebene von Einzelfällen nicht ausschließe. Andererseits gibt es durchaus Nachweise im Bereich der Input-Indikatoren (NASA-Tech-Transfer Division 1982, Herzfeld 1980, Register 1984).

Die neue Analyse des Denver Research Institute (1981) ergibt, daß von den bis 1980 von der NASA entwickelten Technologien keine Anwendungsmöglichkeiten haben 34 %, Anwendung nur für Informationszwecke 54 %, Anwendung zur Verbesserung bereits existierender Technologien 11 % und Anwendung zur Entwicklung neuer Produktionstechnologien, Erzeugnisse und Verfahren ganze 1 % (37), d. h. daß die NASA zwar einen „ausgezeichneten Informationsdienst betreibt, daß jedoch die Entwicklung neuer Produktionstechnologien, Erzeugnisse und Verfahren anhand von NASA-Technologien und Erfahrungen verhältnismäßig selten sind und die Ausnahme bilden.“ (S. 37)

Hinsichtlich der militärischen Raumfahrt gibt es einen gemeinsamen Gesamtbedarf hinsichtlich der Grundkenntnisse über den Weltraum (z.B. Atmosphäre etc.), der Trägersysteme, Kontrollsysteme, Raketensubsysteme, Lande-, Start- und Kontrollinfrastruktur. Hier gibt einen starken TT vorwiegend aus dem zivilen in den militärischen Bereich. Daneben gibt es jedoch anwendungsbezogene Raumfahrttechnologien (etwa Satellitenkommunikations- und Navigationstechnologie) und sonstige informationssammelnde und -verarbeitende Technologien, an die zum Teil stark divergierende Anforderungen gestellt werden. Z.B. gibt es im Bereich meteorologischer Satelliten zwei getrennte Systeme, obwohl doch eine weitreichende Gleichartigkeit vorliegt. Im Bereich der Navigationstechnologie gibt es das GPS, das zwar auch für zivile Verwendungen vorgesehen ist; um es gegen absichtliche Störungen zu schützen, wird jedoch eine vergleichsweise komplizierte Breitbandtechnik verwandt. Die Anforderungsparameter für Positionsgenauigkeit, Verfügbarkeit für Signale, Flächenabdeckung, maximale Zeitdauer zwischen 2 aufeinanderfolgenden Lagebestimmungen usw. sind für das militärische System erheblich weitgehender. Für die Weltraum-Waffensysteme gebe es freilich kein ziviles Pendant (S. 40).

5. Resümee

Abschließend resümiert die IABG-Studie, daß ein Technologietransfer dann stattfindet, wenn es einen korrespondierenden Anwendungsbereich mit ähnlichem Leistungsprofil gibt und die Technologie nicht besonders sensibel ist und daher keine Verzögerung stattfindet. Ein Transfer ist vor allem in einer frühen Phase zu erwarten; er wird später immer unwahrscheinlicher (S. 41). Man kann in diesem Sinne auch unterscheiden zwischen Unterstützungstechnologien (z.B. Kommunikation), Waffenträgertechnologien (z.B. Flugzeug) und Waffentechnologien (z.B. Kanone) – mit absteigender Chance zum Transfer, da es immer weniger funktional äquivalente zivile Bereiche gibt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1986/1 1999: Ende der Atomwaffen?, Seite