W&F 2018/2

»Neue Verantwortung«

Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne

von Werner Ruf

Seit Erscheinen des programmatischen Papiers »Neue Macht – Neue Verantwortung« der Stiftung Wissenschaft und Politik und des German Marshall Fund im September 2013 und der unmittelbar darauf folgenden Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 scheint der Begriff »Verantwortung« zum Mantra des deutschen außen- (und militär-) politischen Diskurses geworden zu sein. Unterstrichen wird dies durch den jüngst von Wolfgang Ischinger und Dirk Messner (2017) herausgegebenen Prachtband »Deutschlands NEUE Verantwortung«, in dem die Autor*innen aus der außenpolitischen Elite zwölf Empfehlungen formulieren, wie denn nun diese »Verantwortung« in praktische Politik umzusetzen sei.

Ursprünglich beschränkte sich die North Atlantic Treaty Organization, wie ihr Name sagt, auf den Nordatlantischen Raum und die Territorien ihrer zur Zeit des Kalten Krieges 16 Mitgliedstaaten. Mittlerweile hat sich das Bündnis auf 29 Staaten vergrößert. Nahezu alle Neumitglieder waren zuvor Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation oder lagen im sowjetischen Einflussbereich. Allein die mit diesem Prozess verbundene Veränderung der geostrategischen Verhältnisse in Europa wirft zwei entscheidende Fragen auf. Erstens, müssen die Erweiterung und das Vorrücken von NATO-Truppen weit nach Osten von Russland nicht zwangsläufig als Bedrohung verstanden werden und sich damit per se destabilisierend auf ganz Europa auswirken? Zu Recht vertreten Parlamentarier*innen der Partei Die LINKE die Gegenposition, die NATO sei aufzulösen und durch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit in Europa zu ersetzen (Neu 2017). So wären in der Tat Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent nachhaltiger herstellbar als durch den Aufbau einer militärischen Drohkulisse. Die Charta von Paris, das Schlussdokument des Gipfeltreffens der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) vom November 1990, hätte dafür eine solide Ausgangsbasis geliefert.

Die »Non-Article 5 Crisis Response Operations«

Zweitens hat die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges offiziell den Anspruch aufgegeben, ein Verteidigungsbündnis zu sein; dies wird belegt durch den im »Strategischen Konzept« von 1999 formulierten Anspruch, hinfort als Weltpolizist tätig zu werden und jede regionale Beschränkung ihrer Zuständigkeit aufzugeben. Zeitgleich mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien legte die NATO auf ihrem 50. »Geburtstagsgipfel« 1999 in Washington ihre neuen Aufgaben fest, darunter die »Non-Article 5 Crisis Response Operations« (NA5CRO), die dann als »Joint Allied Doctrine [Gemeinsame Alliierte Doktrin] 3.4(A)« formell beschlossen wurden (NATO 2000).

Unter Verweis auf die schon seit längerer Zeit von den USA entwickelten Konzepte des »Counter Terrorism« (Terrorismusbekämpfung) und der »Counter Insurgency« (Aufstandsbekämpfung) werden in dem Dokument selbst Streiks und friedliche Demonstrationen zu Gründen für eine Intervention gezählt; außerdem gehört die Unterstützung von bewaffneten oppositionellen Gruppen offiziell zum Instrumentarium von NA5CRO (NATO 2000). Im Gewand einer Doktrin wird hier eine politische Leitlinie für das eigene Handeln formuliert. Damit wird den übrigen Mitgliedern des Internationalen Systems mitgeteilt, womit sie gegebenenfalls zu rechnen haben. Wann, ob und in welchem Umfang die Doktrin angewandt wird, bleibt dabei im Ermessen der politischen Entscheider*innen, wie das beispielsweise auch für die Eisenhower-, die Carter- oder die Hallstein-Doktrin galt. Kurzum: Mit der NA5CRO-Doktrin kehrt das Faustrecht in die internationalen Beziehungen zurück.

Die Anmaßung, Nicht-Artikel-5-Interventionen weltweit und ggf. ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats durchzuführen, macht die von Samir Amin (2017) aufgestellte These plausibel, dass die NATO inzwischen zum Instrument für die militärische Kontrolle des Planeten im Interesse des herrschenden kapitalistischen Systems geworden sei: „[… die USA] posieren als der unangefochtene Führer der Triade [gemeint sind die kapitalistischen Mächte USA, EU und Japan; W.R.], indem sie ihr Militär und die NATO, die sie beherrschen, zur ‚sichtbaren Faust‘ machen, die zur Aufgabe hat, die neue imperialistische Ordnung allen möglichen Widerständigen aufzuzwingen“. Mit dieser Doktrin werden die Grundpfeiler der Charta der Vereinten Nationen zerstört, wie sie in Art. 2.4 und 2.7 (Gewaltverbot, Interventionsverbot) festgelegt sind.

Die Nicht-Artikel 5-Konstruktion impliziert auch, dass die NATO nicht geschlossen handeln muss, wenn sie die NA5CRO-Doktrin bemüht oder umsetzt. Beispielsweise beteiligten sich am Krieg gegen Libyen 2011 – der ja kein Verteidigungsfall nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen war und der auch kein Mandat zur Wiederherstellung des Friedens aufgrund eines Friedensbruchs durch Libyen nach Art. 39 enthalten konnte – trotz Führung durch das NATO-Oberkommando nur die Hälfte (14 vom damals 28) der Mitgliedstaaten. Die Überschreitung des damaligen UN-Mandats (Einrichtung einer Flugverbotszone nach Res. 1973 des UN-Sicherheitsrats) bedeutet, dass wieder Kriege außerhalb der Grundsätze des Völkerrechts und der einschlägigen Bestimmungen der UN-Charta geführt werden: Die Angriffe wurden ohne direkte Berufung auf die NA5CRO-Doktrin, aber gemäß den in dieser Doktrin verankerten beliebigen Kriterien durchgeführt, die allein von den angreifenden Mächten festgelegt werden.

Jüngstes und eklatantestes Beispiel ist der völkerrechtswidrige Angriff der USA, Frankreichs und Großbritanniens auf Syrien am 13. April 2018 mit der Begründung, Syrien für den unterstellten Einsatz von chemischen Waffen gegen die Zivilbevölkerung zu »bestrafen«, während zeitgleich die Inspekteure der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beauftragten »Organisation für das Verbot chemischer Waffen« im Anflug auf Damaskus waren, um zu untersuchen, ob solche Waffen tatsächlich eingesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Doktrin als Türöffner für die Etablierung eines Gewohnheitsrechts, das den Mächtigen als Grundlage für die Bildung beliebiger »Koalitionen der Willigen« für allfällige Angriffe dient. (Siehe dazu die von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages (2018) erstellte Stellungnahme auf S. 54.)

Die NATO (und wohl auch ihre führenden Mitgliedstaaten) scheinen inzwischen zum Instrument des Gestaltungswillens der kapitalistischen Länder zur Durchsetzung ihrer Interessen geworden zu sein. Deshalb entspricht der Wille zum Verbleib in diesem Bündnis auch den Zielen, die die Bundesrepublik Deutschland bereits unmittelbar nach dem Kollaps der Sowjetunion und der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« des damaligen Verteidigungsministers Volker Rühe (1992) festgelegt hatte. Der Zugang zu Rohstoffen und die Sicherung der Seewege wurden dort als vitales Interesse Deutschlands definiert. Multilaterale Interventionen sind in diesem Sinne nicht nur militärisch effizienter, sie suggerieren auch ein höheres Maß an Legitimität.

Deutschland als »Rahmennation«

Unter dem sperrigen Begriff »Rahmennation« verbirgt sich ein langfristiges Planungskonzept, das 2017 vom Bundesverteidigungsministerium ausgearbeitet wurde.1 Es verfolgt laut einer Studie der Stiftung Wissenschaft (SWP) und Politik ein doppeltes Ziel: „Die Bundeswehr soll explizit, neben den Armeen Großbritanniens und Frankreichs, zu einem Rückgrat europäischer Verteidigungsfähigkeit innerhalb der Nato werden. Zugleich soll sie vor allem durch das vieldiskutierte Rahmennationen-Konzept (Framework Nations Concept, FNC) direkt und indirekt zur Entwicklung verbündeter Streitkräfte beitragen – mithin zur Handlungsfähigkeit Europas in der Nato.“ (Glatz/Zapfe 2017, S. 1)

Der Studie zufolge richtet sich die Bundeswehr „strukturell auf hochintensive Operationen zur Bündnisverteidigung aus“ (S. 2). Die sich daraus ergebenden Aufrüstungsziele sollen bis 2032 voll erreicht sein. Als „Rahmennation“ soll die Bundeswehr „Verantwortung für die Entwicklung der Streitkräfte verbündeter Nationen übernehmen. Damit hat dieses Konzept das Potential, Struktur und Charakter europäischer Streitkräfte in der Nato nachhaltig zu verändern.“ (S. 4) Die wesentlichen Steuerungsgruppen der NATO und der am »Rahmenkonzept« mitwirkenden (europäischen) Verteidigungsminister sollen unter deutschem Vorsitz tagen; Berlin soll diese Treffen vor- und nachbereiten. Für die Ostsee soll es ein „deutsch dominiertes Marine-Kommando“ geben; „Deutschland würde somit, für die meisten der kleinen Anlehnungspartner wie für die Nato insgesamt, in den meisten denkbaren Szenarien der Bündnisverteidigung zur unverzichtbaren Nation.“ (S. 5f.)

Immerhin benennt die SWP-Studie die Gefahr, dass bei einigen Verbündeten die Befürchtung aufkommen könnte, hier entstehe eine „deutsch kommandierte europäische Armee“ (S. 6). Anstatt auf solche Ängste einzugehen, wird mit der Finanzkraft Deutschlands argumentiert, das mit der 2015 von der damaligen Großen Koalition eingeleiteten »Trendwende Finanzen« schon 2021 einen Bundeswehrhaushalt von 42,4 Mrd. Euro (gegenüber derzeit 37 Mrd.) vorsehe. (Inzwischen fordert Verteidigungsministerin von der Leyen sogar weitere 12 Mrd. Euro.) Der beabsichtigte Aufbau „europäischer Streitkräfte in der NATO“ (S. 7) trage „wesentlich zur Handlungsfähigkeit der EU bei“ und könne „als Säule einer stärkeren europäischen Verteidigungs-Identität in der Nato […] gerade angesichts der Erschütterungen im trans-atlantischen Verhältnis eine Bedeutung über die Allianz hinaus gewinnen“ (S. 8).

Deutlicher kann die Deutschland zugedachte und offenbar von den NATO-Gremien tolerierte, wenn nicht sogar gewollte, Führungsrolle nicht formuliert werden. Deutschland reklamiert damit eine doppelte, sich gegenseitig verstärkende Führungsfunktion, da es nun sowohl im Namen der NATO wie im Namen der EU auftreten kann.

Mithilfe des Konzepts der »Rahmennation« macht sich Deutschland für die NATO zunehmend unentbehrlich. So erhält Deutschland für den NATO-Aufmarsch im Osten ein neu einzurichtendes Logistik-Zentrum, um die Verlegung von großen Truppenkontingenten und Material an die Ostgrenzen des Bündnisses zu koordinieren. Verteidigungsministerin von der Leyen kommentierte dies mit den Worten: „Deutschland hat angeboten, Rahmennation zu sein, und dafür sind die anderen dankbar.“ (Drewes 2018). Das Kommando-Zentrum soll wohl in Ulm eingerichtet werden.

Der in allen einschlägigen Papieren als Ausgangsbasis für die neuen strategischen Überlegungen unterstellte Abstieg der USA wird genutzt, um eine wachsende deutsche »Verantwortung« und die Stärkung der EU als »europäischen Pfeiler« der NATO zu begründen. Da die EU im derzeitigen militärischen Kräfteverhältnis ohne Rückgriff auf die enormen Arsenale der USA (noch) nicht auskommt, ist der Verbleib der USA im Bündnis jedoch Voraussetzung für die zukünftige Macht­entfaltung der EU und Deutschlands. Die im Rahmen einer »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« eingeleiteten Maßnahmen zur weiteren Militarisierung Europas (unter deutsch-französischer Führung) sind Teil dieser Doppelstrategie, die zwar den Zusammenhalt im Bündnis betont, zugleich aber auf die Stärkung des Einflusses der Europäer im Bündnis zielt (vgl. dazu Wagner 2018).

Deutschland und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU

Der auf den ersten Blick eher nichtssagende Begriff PESCO (Permanent Structural Cooperation) bzw. »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« geht zurück auf den Lissabon-Vertrag der EU, in dem PESCO festgeschrieben ist. Konkrete Ziele dieser Zusammenarbeit sind gemeinsame Rüstungsprojekte und der Aufbau EU-weiter Einheiten und Fähigkeiten, also die Stärkung der »battle groups«, vor allem aber der Autonomie der EU in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen (Wagner 2018).

Unter Verweis auf Art. 42 Ziff. 6 dieses Vertrags benennen die SWP-Autorinnen Beckmann und Kempin (2017) in einem weiteren Planungspapier als Kriterien für PESCO die Zusammenarbeit der Staaten, die 1. „anspruchsvollere Kriterien“ erfüllten, 2. „Missionen mit höchsten Anforderungen“ durchführen könnten und 3. „untereinander weitergehende Verpflichtungen“ eingingen. Sie begrüßen und fordern die Realisierung der von der NATO 2014 beschlossenen Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum Jahr 2024 und betrachten die Einhaltung dieses Ziels geradezu als Aufnahmekriterium für PESCO. 20 % der Wehretats sollen in die Beschaffung von Fähigkeiten fließen. Gleichzeitig soll PESCO der erste Schritt zu einer europäischen – im Fernziel von der NATO unabhängigen – „Verteidigungsunion“ (S. 2) sein. Im Einzelnen soll 1. die Finanzierung der seit 2004 bestehenden »battle groups« ausgeweitet werden, 2. das bisher bestehende Einstimmigkeitsprinzip bei Militäreinsätzen durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt werden und 3. durch diese Maßnahmen der „deutsch-französische Motor auf EU-Ebene […] am Laufen“ (S. 4) gehalten werden.

So fügt sich zusammen, was aus Sicht der Bundesregierung(en) zur deutschen militärpolitischen Emanzipation gehört: Die geplante Erhöhung der Ausgaben auf zwei Prozent des BSP sichert die Führungsrolle der stärksten Wirtschaftsmacht der EU. Damit wird – Stichwort »Rahmennation« – gleichzeitig die Rolle Deutschlands in der NATO gestärkt. Begünstigt wird diese Entwicklung durch den Austritt Großbritanniens aus der EU, hatte London doch immer versucht, den militärischen Aufstieg Deutschlands in der EU zu bremsen. Damit wird eine weitere Ebene eines »Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten« geschaffen, in dem die PESCO-Staaten ein militärisches Eigenleben führen.

Es kann nicht verblüffen, dass im Kontext dieser Debatte auch die Forderung nach einer deutschen Verfügungsgewalt über Atomwaffen auf die Tagesordnung kommt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lancierte in ihrer Rubrik »Fremde Federn« im November 2017 einen Beitrag des deutschen Politologen Maximilian Terhalle, der an der London School of Economis and Political Science lehrt. Er plädiert „für eine europäische Atommacht“: „Zur glaubwürdigen Stärkung der Nato und zur eigenen strategischen Sicherheit muss Berlin deshalb jetzt Verantwortung zeigen, indem es die Aufstellung einer europäischen Atommacht zu seiner Priorität macht. … Deutschland [muss] hierin mit Nachdruck Mitentscheidungsrechte für sich verhandeln.“ Und in dem eingangs bereits erwähnten, programmatisch die deutsche Außenpolitik behandelnden Band »Deutschlands NEUE Verantwortung« (Ischinger/Messner 2017) schreibt Jan Techau (S. 25): „Was tut ein Land, das vielleicht sogar gezwungen ist, die Frage eigener Atomwaffen zu diskutieren? Wie soll nukleare Erpressbarkeit verhindert werden, falls der amerikanische Nuklearschirm eines Tages wegfällt […]? Ist genug Vertrauen im europäischen politischen Markt, um sich ganz auf Frankreich und Großbritannien zu verlassen?“ Dieser Sprachregelung folgend räsonieren unter der Zwischenüberschrift „(Nukleare) Abschreckung: effektiv drohen für den Frieden“ Claudia Major (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Christian Mölling (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) im selben Band über die „Neue Verantwortung in der Verteidigungspolitik“. Sie stellen fest: „Moderne Abschreckung muss die nukleare und konventionelle Dimension anpassen […] Militärische Abschreckung sollte nicht ersetzt, sondern erweitert werden.“(S. 261) Spätestens diese Feststellung macht klar, dass im deutschen sicherheitspolitischen Establishment die Debatte über die Nuklearisierung der deutschen Verteidigungspolitik auf der Tagesordnung angekommen ist.

Solche Überlegungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen, verfügen in Europa doch bisher nur Frankreich und England über eigene Atomwaffen. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU dürfte der deutsche Griff nach einer Mitverfügung über Atomwaffen im Rahmen des Führungsteams Deutschland-Frankreich leichter werden,2 denn die mit PESCO vorgesehene engere Zusammenarbeit im Rüstungsbereich wird sich auf alle Bereiche erstrecken und hat beispielsweise mit der Fusion von Krauss-Maffei-Wegmann und Nexter im Panzerbau schon begonnen.3 Der gemeinsame Flugzeugbau bei EADS ist auf gutem Wege. Die französische Nuklearfirma AREVA und Siemens-Nuclear arbeiten seit vielen Jahren eng zusammen. Von der »atomaren Teilhabe« Deutschlands innerhalb der NATO könnte sich Deutschland auf dem Umweg der Schaffung einer europäischen Atommacht endlich einen direkteren Zugriff auf diese grauenhafte Massenvernichtungswaffe sichern.

Macht statt Verantwortung?

Das Ziel, bis 2024 zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für den Militärhaushalt zur Verfügung zu stellen, bedeutet ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm. Für Deutschland hieße das, dass dieser Etat von derzeit 34 Mrd. US$ auf 70 Mrd. steigen könnte, je nach Entwicklung des BSP sogar auf bis zu 80 Mrd. US$. Der deutsche Rüstungshaushalt würde dann den russischen weit übertreffen, sollte dieser bei den derzeit 66,3 Mrd. US$ verharren. Dies ist nicht unwahrscheinlich, ist doch der russische Militärhaushalt im vergangenen Jahr gegenüber 2016 um 20 % gesunken. Demgegenüber rüstet die NATO insgesamt gewaltig auf und erreichte 2017 900 Mrd. US$ -das sind 52 % der weltweiten Rüstungsausgaben (Zahlen nach SIPRI 2018). Deutschland allein würde dann hinter den USA und China mit seinen Rüstungsausgaben Platz drei in der Welt erreichen.

Doch das Zwei-Prozent-Ziel ist weit mehr als eine gigantische Erhöhung des Rüstungshaushalt, es ist ein hoch ambitioniertes politisches Projekt. Durch die Militarisierung der EU und die wirtschaftliche wie politische Führungsposition, die Deutschland dort einnimmt, übernähme Deutschland letztlich auch die militärische Führung. Damit gewänne es ein noch viel größeres Gewicht in der NATO. Genau hier dürfte der Grund liegen, warum die NATO niemals in Frage gestellt wird: Der Niedergang der USA und die europäische Hochrüstung unter deutscher Führung eröffnen mittelfristig eine geradezu glänzende Perspektive, nämlich die Rolle der EU-Führungsmacht mit dem wachsenden Einfluss in der NATO zu vereinen, schließlich ist Deutschland bereits jetzt zweitgrößter Truppensteller des transatlantischen Bündnisses. In dem Maße, in dem die EU zu einer neuen militärischen Großmacht transformiert wird, bestimmt Deutschland zunehmend über deren immer wieder eingeforderte Autonomie wie über ihr Verhältnis zur NATO. So wird »Verantwortung« zum Großmachtanspruch.

Anmerkungen

1) Es handelt sich um das so genannte Bühler-Papier, das von Generalleutnant Erhard Bühler, Leiter der Abteilung Planung im BMVg, im März 2017 verfasst wurde (Glatz/Zapfe 2017, S. 1).

2) Bereits 1987 hatte der damalige französische Präsident François Mitterrand im Zusammenhang mit der Aufstellung einer deutsch-französischen Brigade Konsultationen über den Einsatz von Atomwaffen angeboten (Loth 1987, S. 289).

3) Auf die Vorteile, die sich hieraus für den Rüstungsexport ergeben, für den es beispielsweise in Frankreich keine Beschränkungen gibt, kann hier nicht eingegangen werden.

Literatur

Amin, S.: Revolution from North to South. Monthly Review, Heft 3/2017.

Beckmann, R.; Kempin, R.: EU-Verteidigungspolitik braucht Strategie. SWP-Aktuell 60, August 2017.

Bundesminister der Verteidigung Volker Rühe (1992): Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, 26.11.1992.

Drewes, D. (2018). Deutschland bekommt ein neues NATO-Kommando. Sächsische Zeitung, 15.2.2018.

Gauck, J. (2014): Eröffnung der 50. Münchener Sicherheitskonferenz – Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“. 31.1.2014; bundespraesident.de.

Glatz, R.L.; Zapfe, M. (2017): Ambitionierte Rahmennation – Deutschland in der Nato. Die Fähigkeitsplanung der Bundeswehr und das »Framework Nations Concept«. SWP-Aktuell 62, August 2017.

Ischinger, W.; Messner, D. (Hrsg.) (2017): Deutschlands NEUE Verantwortung – Die Zukunft der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Berlin: Econ. Siehe dazu auch deutschlands-verant­wortung.de.

Loth, Wilfried (2014): Europas Einigung – eine unvollendete Geschichte. Frankfurt/New York: campus, S. 289.

Major, C.; Mölling, C. (2017): Neue Verantwortung in der Verteidigungspolitik – die Agenda für die neue Regierung. In: Ischinger/Messner, op.cit, S. 259-263.

NATO (2000): Allied Joint Doctrine for Non-­Article 5 Crisis Response Operations, AJP-3.4(A). Ratification Draft.

Neu, A. (2017): NATO – Auflösung ist einfacher als Transformation. WeltTrends Nr. 132, S. 44-47.

Stockholm International Peace Research Institute/SIPRI (2018): Global military spending remains high at $1.7 trillion. Press release, 2.5.2018.

Solty, I. (2015): Die Mär von der reaktiven Zäsur. W&F 4-2015, S. 8f.

Stiftung Wissenschaft und Politik; The German Marshall Fund of the United States (2013): Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Berlin und Washinton.

Techau, J. (2017): Außenpolitik als moralische Zerreißprobe. In: Ischinger/Messner, op.cit., S. 22-25.

Terhalle, M. (2017): Für eine Europäische Atommacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2017, S. 8.

Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) (1990): Charta von Paris für ein neues Europa. Paris, 19.-21.11.1990; osce.org.

Wagner, J. (2018): Trump oder Brexit? Ursachen und Ausprägungen des EU-Rüstungsschubs. W&F 1-2018, S. 28-31.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien. WD 2 – 3000 – 048/18. Siehe Auszüge auf S. 54 dieser W&F-Ausgabe.

Prof. em. Dr. Werner Ruf war von 1982 bis 2003 Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Kassel. Er ist Mitglied im W&F-Beirat.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/2 Wissenschaft im Dienste des Militärs?, Seite 44–47