W&F 1992/2

Neue Wege in der Friedenspädagogik

Plädoyer für offensivere Schritte und Strategien in der Friedenserziehung

von Jugendakademie Walberberg

Die Jugendakademie Walberberg veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Gruppenberatung (Wien), der Université de Paix (Namur), der Peace Education Commission (London) u.a. Ende März eine friedenspädagogische Fachtagung mit dem Thema „Grenzüberschreitungen“. Die Teilnehmer/innen aus 11 Nationen verabschiedeten am Schluß der Tagung folgende Entschließung:

Die Friedenserziehung kann inzwischen eine langjährige Mitwirkung im friedenspolitischen Bereich vermerken. Sie hat nicht nur Visionen einer Weltgesellschaft entwickelt, die zu großen Hoffnungen Anlaß geben, sondern auch konkrete Anstöße für das alltägliche Zusammenleben der Menschen vermittelt.

Aber die vielen Impulse, die in den siebziger und achtziger Jahren in die Friedenserziehung einflossen, haben am Übergang zum letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts merklich nachgelassen. Selbst der Golfkrieg und die derzeit zahlenmäßige Erhöhung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Welt, z.B. in Kurdistan, in Serbien und Kroatien, in Teilen der GUS, haben kaum neue Anfragen an die Friedenspädagogik hervorgerufen. Dabei ist die Liste der ganz ungelöst erscheinenden Fragen von Tag zu Tag größer geworden: Krieg, Hunger, Vertreibung, Unterdrückung, Folter, Arbeitslosigkeit, Leben in einer krank-machenden Umwelt …

Friedenserziehung kann nicht auf diese offenen Fragen eine sachgerechte und endgültige Antwort geben. Die Instrumentarien in Politik, Wirtschaft und Kultur sind nach wie vor unverzichtbar. Selbst IWF, Weltbank, UNO und GATT stehen hier nicht grundsätzlich zur Disposition. Sie sind allerdings dringend reformbedürftig, da sie in ihren gegenwärtigen Strukturen eher Abbild der herrschenden Weltmacht-Verhältnisse als welt-demokratische Institutionen darstellen. Erst nach solchen Reformen könnte von diesen Instrumentarien eine menschenrechtsverträgliche Politik ausgehen.

Gewiß sind in den letzten beiden Jahrzehnten viele kritische Analysen und alternative Programme zu den offiziellen Maßnahmen in Politik und Wirtschaft erstellt worden. Hervorragende Papiere haben die Ströme der kriminellen Rüstungsexporte bloßgelegt, Ursachen und Verursacher der Zerstörung des Regenwaldes sind beim Namen genannt worden, die immer weiter klaffende Schere zwischen Reich und Arm ist in nüchternen und unwidersprochenen Zahlen dokumentiert, die Gründe einer Jahrhunderte alten Abstinenz in der Begegnung der Religionen wurden inzwischen ausgiebig publiziert. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese guten und wichtigen Darstellungen und Grundlagen von der Friedenserziehung und Friedensarbeit in entsprechender Weise aufgenommen und vor allem in praktische Handlungsmodelle umgesetzt worden sind. Dabei geht es – um es noch einmal zu betonen – nicht darum, auf die „Liste der ganz ungelösten Fragen“ definitive Antworten zu präsentieren, als vielmehr um eine unmißverständlichere Form der Methodik und Konsequenz, mit der sich Friedenserziehung und Friedensarbeit in das öffentliche Geschehen einmischen sollte.

Drei „Grenzüberschreitungen“ sind hier von besonderer Bedeutung:

  1. Die Überwindung der Grenze, der Distanz zum anderen, Andersdenkenden, Fremden;
  2. Die grenzüberschreitende Offenheit Europas in seinen internationalen Beziehungen und in seiner Praxis der »offenen Tür«;
  3. Aufhebung der Grenzen des Anstands und diplomatischer Rücksichtnahme, um mit den Betroffenen zu schreien, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Die Begegnung mit Menschen, die unbekannt sind, fremd aussehen, andere Lebensgewohnheiten haben, birgt Spannung in sich. Das kann interessant und aufregend sein. Zuviel Spannung kann aber auch Angst machen.

Nur durch konkrete Erfahrungen in der Begegnung mit anderen können Hemmungen, Ängste und Konflikte abgebaut und Grundlagen für ein multikulturelles Zusammenleben geschaffen werden.

Hierfür ist die Bereitstellung von »Räumen der Begegnung« buchstäblich erforderlich. Das vorhandene Bildungskonzept basiert noch viel zu sehr auf der Qualifizierung der einzelnen Person für deren gesellschaftliche oder wirtschaftliche Verwertbarkeit und viel zu wenig auf Stärkung eigenständiger Persönlichkeiten und auf der Kommunikation von Menschen verschiedener Nationalitäten und unterschiedlicher Gruppen.

Mehr Begegnung und Bewegung, offenere Kommunikation, konkrete Erfahrungen miteinander, Weckung von Neugierde und Interesse füreinander …, das multikulturelle Zusammenleben durch persönliches Handeln einen Schritt näher bringen – mit diesen pädagogischen, technischen, organisatorischen Aufgaben sollte sich Friedenspädagogik noch phantasievoller und konkreter befassen und hierfür die notwendigen Räume der Begegnung fordern und schaffen. Dazu gilt es, dem in allen europäischen Ländern anzutreffenden Fremdenhaß und der Verfolgung von ausländischen Menschen und von Minderheiten im eigenen Land viel deutlicher als bisher (als einzelner sowie als Gruppe) zu begegnen. Auch in dieser Hinsicht sollte die Friedenserziehung Ideen und Handlungsformen für eine unmißverständliche Präsenz und Einnmischung entwickeln.

Mit dem Blick auf das Jahr 1993 baut Europa derzeit eine eigene Identität auf, die einem eurozentrierten Nationalbewußtsein nahe kommt. Zugleich werden im Asylrecht, in der Wirtschafts- und Handelspolitik, in der Militär- und Außenpolitik neue Maßnahmen und Ziele verankert, die zur Schaffung einer »Festung Europa« wesentlich beitragen. Für diejenigen, die »draußen« sind, sei es in Osteuropa, in Afrika, Lateinamerika oder in Asien bringt die neue europäische Entwicklung eine neue unzumutbare Hürde, eine noch härtere Grenze.

Diese Tendenzen stehen im krassen Gegensatz zu den demographischen Entwicklungen in der Weltbevölkerung, zu den tiefgreifenden Veränderungen in der Situation unseres Planeten: ökonomisch, ökologisch, kulturell etc.

Friedenserziehung in Europa muß sich mit diesen Tendenzen und Entwicklungen kritisch auseinandersetzen und überall da Grenzüberschreitungen wagen, wo Menschen ausgegrenzt, verachtet, abgeschoben werden.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ – heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Unzählig sind die Verletzungen dieses Grundsatzes weltweit seit seiner offiziellen Verkündigung im Jahr 1948. Nicht nur einzelne Menschen sind hieran beteiligt, sondern viele Staatsführungen selbst und ihre polizeilichen und militärischen Helfershelfer. Die Berichte von Amnesty international und anderer Menschenrechtsorganisationen sind Jahr für Jahr voll von dieser grausamen Wirklichkeit. Sie wird uns täglich durch die Medien vor Augen geführt.

Dennoch pflegen die meisten Staaten mit den meisten Staaten sogenannte ordentliche und fruchtbare Beziehungen. Das diplomatische Spiel kennt keine Grenzen, es sucht stets den eigenen Vorteil des Landes und sei es auf Kosten der Würde, des Friedens oder des Lebens vieler Menschen in der Welt.

Zu sehr verstummt auch hier vielfach eine Friedenserziehung, sei es aus einem Ohnmachtsgefühl, sei es aus mangelnder Phantasie, mit den Opfern zu schreien.

Was brauchen wir:

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine „Bewegungspädagogik“ (W.V. Lindner) verstehen, die möglichst intensiv und zugleich in möglichst kurzer Zeit – in Untergruppen – eine Vertrauensbasis schafft, die zu Aktionen befähigt.

Friedenserziehung muß sich mehr als bisher als eine „entwickelte Protestkultur“ (W. Wette) verstehen, die sich deutlich und selbstbewußt in die Politik einmischt („Das Volk sind wir“).

Friedenserziehung muß sich in Reflexion und Aktion als Anwalt der Armen, der Unterdrückten der weitverbreiteten „Kultur des Schweigens“ (Paulo Freire) verstehen und ihnen eine laute Stimme verleihen.

Friedenserziehung muß nicht nur intellektuell, sondern auch emotional deutlicher die tiefe Besorgnis angesichts der lebensbedrohenden Weltentwicklung zeigen und öffentlich bekennen, daß „im Ungehorsam gegenüber falschen Autoritäten“ (E. Fromm) die wahrscheinlich einzige Möglichkeit besteht, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.

Kritische Distanz, Verweigerung und Ungehorsam müssen deshalb in der Friedenserziehung mehr denn je einen Lernort erhalten. Nicht durch Gehorsam sind die Probleme im Weltmaßstab zu lösen, sondern nur in der Aufkündigung der Ziele und Strukturen unserer Todeskultur. Zu diesen „Grenzüberschreitungen“ müssen sich Friedenserziehung und Friedensarbeit unverzüglich aufmachen.

Walberberg, den 29.3.1992

Kontaktadresse: Jugendakademie Walberberg D-5303 Bornheim 3

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/2 Nord-Süd Dialog?, Seite