Nine-eleven: Staatlicher Terror ist die falsche Antwort
von Jürgen Nieth
Die letzte Zeile für W&F 4-2001 war geschrieben und an dieser Stelle befand sich ein Editorial zu »China im Umbruch«, als uns die schrecklichen Bilder von den Terrorangriffen auf Manhattan und Washington erreichten. Bilder, die es unmöglich machten, in der »Tagesordnung« fortzufahren. In diesem Augenblick gehört unser erster Gedanke den unschuldigen Opfern, unsere Solidarität den Angehörigen der Toten und den Menschen in den USA.
Ein Tag nach diesem unfassbaren Verbrechen liegt noch vieles im Dunkeln: Niemand kennt die Zahl der Toten und Verletzten, über die Terroristen wird noch spekuliert. Immer wieder fällt der Name Ussama Bin Laden, des Mannes, der sich in den achtziger Jahren in Afghanistan niederließ um gegen die »Rote Armee« zu kämpfen und der damals von der CIA unterstützt wurde. War es seine Terrorgruppe »al Qaida«, die für dieses schrecklichste Attentat aller Zeiten verantwortlich ist? Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden zwei Wochen vergangen und wir vielleicht alle etwas klüger sein.
Das betrifft auch die Frage, wie die USA und die westliche Welt auf dieses Verbrechen reagieren. Erste Reaktionen aus den Regierungsetagen machen mich sehr besorgt. Da sind die starken Worte Georg Bushs vom „monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse“, dass man nicht mehr unterscheiden will zwischen „den Terroristen ..und jenen (Ländern), die sie beherbergt“ haben. Eine Sorge, die sich auch speist aus den Erfahrungen der letzten Jahre, als z.B. Terrorakte gegen US-Botschaften in Kenia und Tansania mit Bombardements einer Pharmafabrik im Sudan und angeblicher Lager Bin Ladens in Afghanistan beantwortet wurden.
Sorge aber auch um die Situation im inneren unseres Landes, dass bei uns verstärkt Menschen wegen ihrer Religion diskriminiert, wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität völlig ungerechtfertigt mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden und Hass erleiden müssen. Sorge, dass auch hier Politiker absichtlich oder unbedacht Öl ins Feuer gießen; dass jetzt auch bei uns nach einer »Politik der Stärke« geschrieen und die Tendenz zur »gläsernen Gesellschaft« vorangetrieben wird.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich hoffe aus tiefsten Herzen, dass die Verantwortlichen dieses Massenmordes gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden; ich halte es für notwendig, dass im Kampf gegen den Terrorismus die internationale Zusammenarbeit verbessert wird. Ich fände es aber fatal, wenn der Terror extremistischer Gruppen mit staatlichem Terror beantwortet würde, wenn jetzt als »Tätigkeitsnachweis« irgendwo anders in der Welt unschuldige Menschen Opfer von sogenannten Vergeltungsschlägen würden.
So bitter die Erkenntnis auch sein mag, die Anschläge vom 11. September belegen, dass die moderne Welt sich nicht vollständig vor Terrorakten schützen kann. Es waren keine aus »Schurkenstaaten« abgefeuerten atomaren Raketen, gegen die die USA ihr milliardenschweres Raketenprogramm »NMD« planen; es waren keine Chemie- oder Biowaffen, die in so vielen Schreckenszenarien eine Rolle spielen; es war auch kein »Cyberterrorismus«, der immer mal wieder heraufbeschworen wird; es waren offensichtlich nur einfache Messer, die als Waffen eingesetzt wurden.
Wenn aber kein Hundertprozentiger Schutz möglich ist, dann bleibt die Grundsatzfrage, wie den Terrorismus bekämpfen: Mit einer Aufrüstung von Militär und Geheimdiensten oder durch eine Politik, die dem Terror die Massenbasis nimmt?
Ich denke, die Geschichte zeigt, mit Polizei, Geheimdiensten und Militär kann eine Terrorgruppe ausgeschaltet werden, nicht aber der Terrorismus. Wer den Terrorismus dauerhaft bekämpfen will, muss dort Veränderungen anstreben, wo Menschen aus Enttäuschung, Perspektivlosigkeit oder nach erlittener Gewalt zur Rekrutierungsebene für Terroristen werden. Das wird nicht von heute auf morgen möglich sein, denn dafür bedarf es einer grundsätzlichen Kehrtwende in der Politik der Industrienationen:
- Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die aufhört mit der Ausbeutung des Südens durch den Norden und einer Verelendung ganzer Regionen entgegenwirkt;
- Es heißt Abschied nehmen von der »Arroganz der Mächtigen«, hin zu einer Politik des Ausgleichs, die die Interessen der anderen Länder – auch die religiösen und kulturellen – ernst nimmt und nicht länger diskriminiert;
- Die zivile Konfliktbearbeitung muss stärker in den Mittelpunkt der internationalen Politik gestellt werden. Das beinhaltet auch den Druck auf »Freunde und Verbündete«, wenn diese auf eine Politik der Stärke statt auf die der Vernunft setzen.
Leider scheint die US-Regierung nach wie vor in Schwarz-Weiß zu denken, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen (siehe oben). Bleibt zu hoffen, dass wenigstens die europäischen Regierungen mehr Besonnenheit an den Tag legen: Solidarität mit den Betroffenen, alle Hilfe bei der Suche nach Terroristen, ja – aber keine Beteiligung an militärischen Aktionen!
Jürgen Nieth