W&F 2014/2

Nordirland

Sieht so Frieden aus?

von Corinna Hauswedell

Aus internationaler Sicht gibt es gute Gründe, Nordirland auch sechzehn Jahre nach dem Belfaster Abkommen1 für eine Erfolgsgeschichte konstruktiver Konfliktbeilegung zu halten. Im Lande selbst hingegen mehren sich kritisch-warnende Stimmen. Soeben ist der dritte »Northern Ireland Peace Monitoring Report«2 erschienen. Dort ist im Rückblick auf das vergangene Jahr, das durch den »Flaggenprotest« und eine extensive Saison der Paraden und Märsche erschüttert wurde, von den Gefahren eines »Culture War« die Rede.

Wenn man durch die Belfaster Innenstadt schlendert, hat man keine Probleme, nette Angebote zum Shoppen oder Cappuccino-Trinken zu finden. Straßencafés und Bars, Flusspromenade am Lagan, Titanic Center und die Glaskuppel des Victoria Square, von der aus man einen großartigen Blick über die ganze Stadt hat – hier ist Friedensdividende sichtbar und spürbar angekommen. In Sachen Szene und Kult scheint die Hauptstadt im Norden der Insel zuweilen sogar Dublin den Rang abzulaufen. Jeden Monat gibt es ein anderes Festival – Musik, Film, Theater.

Und Derry-Londonderry, Nordirlands zweitgrößte Stadt, war 2013 »City of Culture« – so zeichnet das Vereinigte Königreich Städte aus, die durch ihr gelebtes Bekenntnis zu kultureller Vielfalt auffallen. Mehr als 200.000 Besucher nahmen allein im August 2013 an einem attraktiven Festivalprogramm teil, das sowohl eher typisch britische als auch irisch-keltische Angebote bereit hielt. Und nicht zu vergessen die große Politik. Undenkbar sei es noch vor zehn Jahren gewesen, so Premier David Cameron, ein internationales Gipfeltreffen hier abzuhalten: Das Lough Erne Hotel im nordirischen County Fermanagh diente den G8-Oberhäuptern im Juni 2013 als »show case« für den Erfolg eines Friedensprozesses – auch wenn die Verlockungen für Business in der nordirischen Provinz noch eher die Gestalt Potemkin’scher Dörfer hatten. Sicherheit wird aufgrund der hauseigenen »Terrorismus«-Erfahrungen groß geschrieben – und kaum irgendwo im Königreich ist die Kriminalitätsrate so niedrig wie in Nordirland. Soweit also so gut!?

Flaggenprotest …

Das vergangene Jahr hielt aber auch andere Botschaften bereit: Am 3. Dezember 2012 hatte der Belfaster Stadtrat nach längerem Streit auf Antrag der Alliance-Partei und in Analogie zur Praxis auf dem Parlamentsgebäude in Stormont beschlossen, die Nationalflagge des Königreichs und Nordirlands, den Union Jack, nur noch an 18 statt wie bisher an 365 Tagen im Jahr auf dem Rathaus zu flaggen. Die Folge waren mehrtätige Straßenschlachten zwischen aufgebrachten loyalistisch-protestantischen Gruppen und der Polizei. In ihrer medialen Inszenierung erinnerten die Bilder durchaus an die heißen Tage der »Troubles« vor mehr als zwanzig Jahren. Auch wenn die Proteste an Intensität und Umfang seit dem Frühjahr deutlich abnahmen, gab es im ganzen letzten Jahr Flaggenproteste. Insgesamt wurden dabei über 100 Polizisten verletzt, mussten mehr als 350 Rechtsbrüche geahndet werden.

Am 3. Dezember 2013 wurde ein weiterer Jahrestag in den loyalistischen Kalender aufgenommen: ein Jahr Flaggenprotest! Von den bis zu 10.000 erwarteten Demonstranten erschienen zwar nur ca. 1.500; aber inzwischen hatte eine heiße Saison der traditionellen Märsche (parades) die Provinz weiter verunsichert: Gegenüber 2005 hat sich die jährliche Zahl der Paraden und Traditionsumzüge mehr als verdoppelt, auf eine Rekordhöhe von insgesamt 4.637 Veranstaltungen. Davon waren 61% von protestantisch-loyalistischen Organisationen wie dem Orange Order, den Apprentice Boys u.a. organisiert, knapp 4% von katholisch-republikanischen Gruppierungen, das übrige Drittel von Bürgergruppen und -vereinen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten (Nolan 2014, S.157).

… und der Ruf nach internationaler Hilfe

Der Flaggenprotest, eine überdimensionierte Marsch-Saison mit erheblichem Droh- und Einschüchterungspotenzial sowie das große ungelöste Thema, wie mit der Aufarbeitung der gewaltschweren nordirischen Vergangenheit umzugehen sei, überforderte die seit 2007 im »power sharing« regierende Belfaster Exekutive. Im Juli riefen die beiden Regierungsparteien, die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) und die republikanische Sinn Fein, zur Beilegung dieser Konflikte ein internationales Vermittlerteam zu Hilfe: Mit dem renommierten US-Diplomaten Richard Haass kam ein Nordirland-Kenner, der schon zwischen 2001 und 2003 bei der Umsetzung des Belfaster Abkommens geholfen hatte; die Harvard-Professorin Meghan O’Sullivan war bereits als US-Sicherheitsberaterin im Irak und in Afghanistan tätig gewesen. Aber auch nach fast sechs Monaten mit über hundert Sitzungen, die sich mit mehr als 600 Eingaben aus der Zivilgesellschaft befassten, gelang es nicht, die Zustimmung aller nordirischen Parteien für die Vorschläge der Vermittler zu erhalten, die in dem Dokument »An Agreement amongst the Parties of the Northern Ireland Executive on Parades, Select Commemorations and Related Protests; Flags and Emblems; and Dealing with the Past«3 niedergelegt und veröffentlicht wurden.

Möglicherweise enthielt das Paket, das hier geschnürt werden sollte, zu viele verschiedene Einzelthemen von zu unterschiedlichem Gewicht für die Kontrahenten. Während die nationalistisch-republikanischen Parteien SDLP und Sinn Fein bereit waren, der Gesamtlinie der Vorschläge zu folgen, lehnten die Unionisten, UUP und DUP, das Dokument ab – ironischerweise nicht zuletzt mit einem Hinweis auf die Zustimmung der anderen Seite. Die gewöhnlich auf politische Kompromisse orientierte Alliance-Partei unterstützte selektiv lediglich den Teil zur Vergangenheitsbewältigung (vorgesehen sind u.a. die Einrichtung einer Historischen Untersuchungseinheit, eine unabhängige Informationskommission, ein Archiv und eine politische Steuerungsgruppe) (Nolan 2014, S.173f). Als am schwersten verdaulich erwiesen sich – vor allem für die Unionisten – die Vorschläge für den Umgang mit Flaggen und Emblemen.

»Culture War«? Was Unionisten und Loyalisten umtreibt

Hinter dem Streit um die Symbole steht das größere Thema ungelöster nationaler und kultureller Identität. Das macht die Sache so schwer traktierbar, insbesondere für diejenigen Nordiren, die sich aus unterschiedlich plausiblen Gründen eher als Verlierer der jüngeren (Friedens-) Geschichte sehen.

In ihren Ansprachen zum 12. Juli 20134 beklagten Vertreter des protestantischen Orange Order, dass sie sich einem »Culture War« ausgesetzt fühlten. „Die Republikaner führen einen Kulturkrieg, in dem sie alle Symbole britischer Identität entfernen wollen“, so Edward Stevenson, Großmeister des Orange Order in Derry-Londonderry am 12.7.2013 (Nolan 2014, S.161). Gerald Solinas, der als Sozialarbeiter in dem aus Anlass des Flaggenkonflikts gegründeten Twaddel Avenue Protest Camp in Nord-Belfast arbeitet, bringt die loyalistische Befindlichkeit auf diesen Punkt: „Das Einholen unserer Flagge auf dem Rathaus und die Dämonisierung unserer kulturellen Ausdrucksformen in den Paraden geht uns sehr nahe. Es ist im Grunde, als ob jemand in dein Haus kommt und die Möbel umräumt. Es hinterlässt ein sehr ungemütliches Gefühl …“ 5

Das Belfaster Abkommen von 1998 hatte ja ein Paradox geschaffen: Hinsichtlich des konstitutionellen Hauptkonfliktthemas bescherte es den Unionisten einen »Sieg«: Nordirland würde bis auf weiteres zu Großbritannien gehören. Diese allerdings wollten den Sieg nicht als solchen verbuchen. Die Nationalisten andererseits, die auf eine Vereinigung mit Irland gehofft hatten, hätten dieses Ergebnis eigentlich als Niederlage empfinden können. Sie arrangierten sich aber und kamen zu einer eher positiven Gesamtbewertung der politischen und sozialen Anerkennung, die mit dem Abkommen verbunden war. Daraus wiederum entwickelten die Unionisten bald eine neue Akzentuierung ihrer Besorgnisse und Bedrohtheitsgefühle, nach dem Motto: Da die Republikaner Nordirland nicht aus Großbritannien herauslösen konnten, wollen sie nun wenigstens soweit als möglich das Britische aus Nordirland entfernen.

Die Realitäten, die Paul Nolan in seinem neuen Report analysiert, sind komplexer, als es diese eingängige Semantik vermuten lässt. Die nordirischen Protestanten konfrontieren sich selbst mit einer Art kulturellem „Zwei-Fronten-Krieg“ (Nolan 2014, S.160): Einerseits wollen sie die zunehmenden Anteile irischer Kultur im öffentlichen Leben (Sprache, Straßenschilder, Kunst- und Musikszene etc.), die ja im Sinne des Gleichheitsgebots des Friedensabkommens vorgesehen sind, eindämmen. Andererseits grenzen sie sich mindestens ebenso heftig von einem modernen britischen Gesellschaftsentwurf ab, der Anti-Diskriminierung und Minderheitenschutz heute in vielen Lebensbereichen der britischen Insel proklamiert und praktiziert. Daran reibt sich das loyal-konservative Verständnis der Unionisten von »Britishness« so sehr, dass von einem doppelten Identitätsverlust gesprochen werden kann: Man fühlt sich weder im englischen Mainland noch in der eigenen Provinz länger zuhause – eine »self-fulfilling prophecy«.

Nur noch Minderheiten in Nordirland?

Im Hintergrund dieser Wahrnehmungen finden manifeste demografische und ökonomische Veränderungen statt, wie sie bereits in den Bevölkerungsstatistiken des Zensus von 2011 festgestellt wurden und in den Peace Monitoring Reports 20136 und 2014 tiefergehend analysiert werden: Innerhalb eines Jahrzehnts (2001-2011) ist der Anteil der Protestanten in der Bevölkerung von Belfast um 12% auf 42,3% (119.000) gesunken, der Anteil der Katholiken dagegen um 4,3% auf 49% (136.000) gestiegen. Andere ethnische Gruppen mit einem relevanten Migrantenanteil aus Mittel- und Osteuropa haben sich verdoppelt und machen jetzt 9% der Belfaster Bürger aus; auch sie haben zu dem veränderten Mix beigetragen, der den relativen protestantischen Anteil drastisch sinken ließ (Nolan 2014, S.22f).

Bereits 2013 enthielt der Peace Monitoring Report deshalb eine pointierte Feststellung: Nordirland sei jetzt eine Gesellschaft, die nur noch aus Minderheiten bestehe (Nolan 2013, S.5 und 34/35). Interessanterweise sind die Selbstzuordnungen zwischen religiöser Zugehörigkeit und nationaler Identität, die der Zensus 2011 erstmals erlaubte, bei weitem nicht mehr so eindeutig, wie dies in den Jahrzehnten zwischen 1970 und 2000 der Fall war. Trotz eines Gesamtanteils von 48% Protestanten bezeichnen sich nur weniger als 40% heute als britisch; bei einem Katholikenanteil von 45% beanspruchen sogar nur 25% eine irische Identität, und weniger als 20% favorisieren ein vereinigtes Irland. Erstmals taucht eine neue Kategorie auf: 21% der Bevölkerung bezeichnen sich als »Northern Irish« und befürworten eine umfassendere nordirische Selbstverwaltung bzw. Autonomie.

Diese Daten in ihrer Diversität und politischen Konsequenz zu reflektieren, könnte geeignet sein, die Irrationalität mancher unionistischer Sorgen und Ängste zu relativieren bzw. zu beseitigen. Nicht jeder demografische Wandel muss auch mit Majorisierungsabsichten einhergehen, und kulturelle Identitäten sind nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen, die wiederum nicht passiv erlitten werden müssen, sondern gestaltbar sind. Zunächst aber erscheint die Verschiebung zwischen den beiden großen ethnischen Gruppen und der an der Alterspyramide ablesbare, unumkehrbare Trend – in allen Altersgruppen bis 39 sind die Katholiken bereits in der Mehrheit – als das Fanal, vor dem radikale protestantische Führer wie der inzwischen milde gewordene Reverend Ian Paisley immer gewarnt haben.7

Die Scheu vor der Klassenfrage

Neben den demografischen Veränderungen verweisen auch die ökonomischen Daten auf Ungleichheiten, die an der Oberfläche vor allem die jungen männlichen Protestanten zu Verlierern stempeln. Der strukturelle Umbruch (Abschied von den alten Industrien wie Schiffbau, Textil etc.) in den 1980er/90er Jahren traf die Protestanten deshalb relativ stärker, weil sie priviligierten Zugang zu diesen Arbeitsplätzen gehabt hatten. Die Erschütterungen seit der globalen Finanzkrise verschärfen in einer Region, die besonders stark am fiskalischen Tropf der EU bzw. Großbritanniens hängt, vorhandene Trends von Fehl- und Unterinvestitionen. Sie zeitigen aber auch Ähnlichkeiten mit der Wirtschaftslage in anderen Teilen der EU, z.B. was die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahre betrifft, die in Nordirland bei etwa 24% liegt (Nolan 2014, S.88f). In der nordirischen Post-Konflikt-Gesellschaft hält sich jedoch aufgrund der Spaltung entlang ethno-nationaler Lager eine besonders hartleibige Negation sozialer bzw. klassenbedingter Ursachen von Ungleichheit.

Dabei sind die Daten frappierend: Die schlechtesten Chancen am Arbeitsmarkt und auf höhere Bildung und Ausbildung hat der protestantische Junge aus der Arbeiterklasse (das schaffen nur 20%), die besten hat das katholische Mädchen aus der Mittelschicht (77%) (Nolan 2014, S.96f). Dazwischen liegen die Welten einer unbeackerten Bildungsreform, die bisher an beiderseitigen Blockaden scheitert: Soll z.B. die »11+ Regel«, die nach wie vor Mittelschichtkinder (beider Lager) beim Übergang zu weiterführenden Schulen begünstigt, ganz fallen? Wie kann das streng separierte Schulwesen mit der Perpetuierung getrennter kultureller Narrative (nur 7-8% gehen auf so genannte integrierte Schulen) endlich aufgeweicht werden? Wollen und können die Protestanten den Bildungseifer und -erfolg der Katholiken (drei von fünf Studierenden sind katholisch) »aufholen«?

Für Nolan und andere Beobachter der politischen Zuspitzungen im vergangenen Jahr liegt der Zusammenhang von »Benachteiligung« in den sozial besonders schwachen Schichten und einer Bereitschaft, sich aus Identifikations- und Erfolgsnot dem loyalistischen gewaltgeneigten Machismo anzuschließen, auf der Hand.8 Der Anteil sehr junger protestantischer Männer, die in den Flaggenprotesten oder bei den vielen neuen Marschrouten durch Gewalttätigkeiten auffielen, war überproportional hoch (Nolan 2014, S.13).

Wiederum könnte das richtige Lesen der Daten und Analysen aus dem Monitoring Report eine Chance bieten, sich von den alten Lagermentalitäten zu verabschieden und die Ursachen für Diskriminierung jenseits der ethnischen Spaltung dort zu suchen, wo politische und ökonomische Eliten versagen: bei einer humanen und gerechten Gestaltung des sozialen Wandels.

Verdunstet die Moral des Friedensabkommens? Die Schwäche der Konkordanz

Denn gleichzeitig, auch das konstatiert der Peace Monitoring Report 2014 in seinen zehn Kernpunkten, waren die Aktivitäten zur Verständigung (reconciliation) an der Basis, gerade auch dort, wo direkt angrenzende protestantische und katholische Arbeiterwohngebiete in Belfast durch »peace walls« (Mauern, Drahtzäune, Trennwände) vor einander »geschützt« werden, 2013 unvermindert hoch. Regelmäßige Treffen, gemeinsame »walking groups« oder kleine Feste z.B. der Frauengruppen an der Shankill Road und der Falls Road waren keine Ausnahmen (Nolan 2014, S.14). Das Problem liegt eher »oben«, dort, wo die nordirischen Parteipolitiker sich mit der Power-sharing-Konstruktion in einer so genannten Konkordanzdemokratie9 eingerichtet haben. Sie gewährleistet zwar eine gewisse Stabilität, aber durch die gegenseitige Vetomöglichkeit und das Fehlen einer starken Opposition entsteht kein Spielraum, um die notwendigen Reformen ernsthaft anzupacken. „Die Mechanismen der Konkordanzdemokratie funktionieren gut, solange es um den Schutz und die Befriedigung der Interessen der Konfliktparteien geht. Sie zeigen aber Schwächen, wenn Aufgaben der gesellschaftlichen Integration (z.B. im öffentlichen Wohnungsbau, im Bildungswesen, in der Infrastruktur) auf die Tagesordnung rücken.“ (Robin Wilson)10

Die Akteure in Nordirland sind es gewohnt, mit den Ambivalenzen eines unvollkommenen Friedens zu leben. Und die Gefahr, dass es zu wirklichen Rückfällen in die alten Gewaltformen des Bürgerkriegs kommen könnte, wird von allen Seiten als sehr unwahrscheinlich eingeschätzt. Weder haben die dissidenten Gruppen der Republikaner dafür das materielle Potenzial, noch sind die identitätsschwachen, loyalistischen Paramilitärs dazu politisch in der Lage. Insofern kann man einer Negativ-Statistik »Was 2013 alles nicht geschah« durchaus etwas Positives abgewinnen: 2013 wurde kein Polizist getötet, kein Katholik von einem Protestanten umgebracht und auch kein Protestant von einem Katholiken, und niemand starb bei einer Bombenexplosion. Der Zugewinn an Sicherheit geht bisher aber eben nicht mit einem Zugewinn an Handlungsfähigkeit der gewählten Repräsentanten in den »bread and butter issues« einher. Was in der ersten Phase nach der Umsetzung des Belfaster Abkommens als konstruktive Zweideutigkeit (constructive ambiguities) gelten konnte, erweist sich nun zusehends als Hindernis: Das Demokratiedefizit der Konkordanzdemokratie begünstigt das mentale Verharren in den alten Gräben, der Konfliktinhalt lebt fort. Es scheint, als habe sich der moralische Impuls des Neuanfangs, den das Belfaster Abkommen darstellte, verbraucht.11

Besonders krass traten diese Widersprüche und das Unvermögen der Exekutive im Mai vergangenen Jahres in Erscheinung. Damals veröffentlichte das Büro des Ersten Ministers und des Stellvertretenden Ersten Ministers (OFMDFM) das bemerkenswerte Dokument »Together: Building a United Community«12 und proklamierte es als Meilenstein für die Entwicklung guter Beziehungen in der nordirischen Gesellschaft. Wenig später sah sich das Büro in einem hilflosen Akt aber genötigt, zur Beilegung der Krise dieser Beziehungen eine ausländische Vermittlungsinstanz anzurufen. Papier ist geduldig, aber die politischen Eliten übernehmen nicht wirklich die Verantwortung, ihre Wähler auf dem Weg der notwendigen Veränderungen mitzunehmen oder sich von ihnen zuweilen gar den Weg zeigen zu lassen. Die Schaufenster unterwegs sehen schon ganz gut aus, aber die Regale sind noch halb leer. Es überrascht in dieser Situation nicht, dass eine externe Mission wie die von Haass/O’Sullivan im vergangenen Jahr scheiterte. Die Zeiten, in denen die Krise so existenziell war, dass man ohne Patenschaften von außen nicht auskam, sind – Gott sei Dank – in Nordirland vorbei. Die nordirischen Akteure sind jetzt selbst gefragt, haben aber immer noch Angst vor der eigenen Courage – und vor der eigenen Klientel. Die Warnung von Richard Haass, Nordirland könne seinen Status als „Modell für Konfliktlösung“ (Nolan 2014, S.11) verlieren, muss man deshalb nicht teilen. Modell ist nicht, wer immer hübsch gekleidet ist, wir sind hier nicht auf dem Laufsteg.

Monitoring kann Diskurs initiieren

Negative und positive Entwicklungen in eine plausible Balance zu bringen, könnte eine wichtige Funktion für das unabhängige Monitoring von Friedensprozessen sein. Der Report, wie er in Nordirland nun zum dritten Mal vorgestellt wurde, mit seinen Kernindikatoren Sicherheit, soziale Gleichstellung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und politischer Fortschritt, sucht im internationalen Vergleich bisher seinesgleichen, weil er die diagnostische Datensammlung mit normativ geleiteter Analyse und der Bereitstellung von Handlungswissen verbindet. Er versteht sich als eine Art Gesundheitscheck für die fragile Post-Konflikt-Gesellschaft, aus dem Frühwarnung und Prävention abgeleitet werden können, um Rückfälle oder Neuerkrankungen vermeiden zu helfen.

Man darf gespannt sein, wie die nordirische Öffentlichkeit, »oben« und »unten«, ihren dritten Monitoring Report diskutieren wird und ob sich vielleicht ein Modell für das Monitoring von Frieden im internationalen Kontext aus den nordirischen Erfahrungen ableiten lässt.

Sieht so Frieden aus?

Ja. So kann Frieden aussehen, wenn man sich damit nicht zu»frieden« gibt. Die Frustration nach dem Scheitern der Vermittlungen war dem nordirischen Sozialdemokraten Mark Durcan anzumerken, als er im Februar vor dem britischen Unterhaus sagte: „Wir haben einen schmutzigen Krieg für einen schmutzigen Frieden eingetauscht.“ 13

Anmerkungen

1) Das Belfast Agreement oder Good Friday Agreement wurde nach langen Verhandlungen am 10. April 1998 (Karfreitag) zwischen den nordirischen Parteien und Großbritannien und Irland geschlossen und beendete den 30-jährigen Bürgerkrieg (Troubles). Es regelte u.a. Bürgerrechte, Entwaffnung, neue Polizei und Justiz und eine teil-autonome gemeinsame Regierungsform. Das Abkommen erhielt die Zustimmung der Bevölkerung in zwei Referenden. Wortlaut des Abkommens unter cain.ulst.ac.uk/events/peace/docs/agreement. htm.

2) Paul Nolan (2014): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Three. Community Relations Council, Belfast.

3) Verfügbar unter cfr.org.

4) Am 12. Juli wird traditionell mit Paraden der Sieg des protestantischen englischen Königs Wilhelm III von Oranien gefeiert, den dieser im Jahre 1690 bei der Schlacht am Boyne über den mit den Iren verbündeten katholischen ehemaligen englischen König Jakob II errang.

5) Martina Purdy: Catholics now outnumber Protestants in Belfast. BBC News, 3.4.2014.

6) Paul Nolan (2013): Northern Ireland Peace Monitoring Report Number Two. Community Relations Council, Belfast.

7) Corinna Hauswedell (2011): Reverend Ian Paisley in Nordirland – Vom Konflikttreiber zum Friedensermöglicher. In: Bernd Oberdorfer/Peter Waldmann (Hrsg.): Machtfaktor Religion. Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Köln/Weimar/Wien: Böhlau-Verlag, S.201–220.

8) Corinna Hauswedell (2012). Das protestantisch-loyalistische Milieu in Nordirland – Reaktionäre Radikalisierung und ethno-sozialer Identitätsverlust. In: Stefan Malthaner und Peter Waldmann (Hrsg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen. Frankfurt/New York:Campus, S.307-337.

9) John McGarry and Brendan O’Leary (2004): The Northern Ireland Conflict. Consociational Engagements. Oxford: Oxford University Press.

10) Zitiert nach Bernhard Moltmann (2013): Ein verquerer Frieden. Nordirland fünfzehn Jahre nach dem Belfast-Abkommen von 1998. HSFK Report 5/2013, S.29.

11) Ibid., S.30f.

12) Office of the First Minister and Deputy First Minister; ofmdfmni.gov.uk.

13) Social Democratic and Labour Party (SDLP): Press Releases – Durkan: SDLP warned secret deals would blight peace process. 27.2.2014. sdlp.ie.

Dr. Corinna Hauswedell leitet Conflict Analysis and Dialogue (CoAD) in Bonn und ist seit April 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2014/2 Gewalt(tät)ige Entwicklung, Seite 43–46