W&F 1989/4

November 1989:

Deutsche Nationalstaatsphantasien und der rauhe Wind der Wirklichkeit…

von Till Bastian

Deutschland ist im November 1989 plötzlich in aller Munde – aber wo liegt es, wer weiß das Land zu finden, wer seine Zukunft zu umreißen? Hat dieses Phantom – für die einen ein reaktionäres Konstrukt, für die anderen ein patriotisches Wunschbild – wirklich ein Bleiberecht in der nahen Zukunft, gar noch als vereinte, als wiedervereinte Heimstatt aller Deutschen in Ost und West? Triumphiert das Zusammengehörigkeitsgefühl einer zu Unrecht totgesagten Nation am Ende doch über einen von den Siegermächten aufgezwungenen Staatenpluralismus, der an die Verhältnisse vor der Reichsgründung 1871 anknüpfen sollte? Sind durch die Bundestagsabgeordneten, die gemeinsam „Einigkeit und Recht und Freiheit“ singen, nicht alle die widerlegt und in die Schranken verwiesen, die sich mit deutscher Mehrstaatlichkeit nicht bloß abfinden wollten, sondern an dieser gar noch positive Seiten zu entdecken wähnten? Gemach – der nationale Taumel sich überstürzender Schlagzeilen könnte sich am Ende als rasch verblassendes Feuerwerk erweisen.

Dies hat schon Bundeskanzler Kohl zu seinem Leidwesen erfahren müssen, als er in Berlin vor jenen, die die plötzlich geöffneten DDR-Grenzen feierten, als Sachwalter der Wiedervereinigung auftrumpfen wollte und sich unerwartet einem gellenden Pfeifkonzert ausgesetzt sah. Mindestens so nachhaltig wie die unüberhörbaren Mißfallenskundgebungen der in diesem Punkte erstaunlich einigen Ost- und West-Berliner müssen dem Kanzler an jenem Novemberabend freilich auch die Worte seines Vorredners Genscher in den Ohren geklungen habe, der sich vor dem Schöneberger Rathaus temperamentvoll und eindeutig zur Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze bekannt hatte und hierfür donnernden Applaus erntete. Hatte der Bundeskanzler doch aus Anlaß seines Polen-Besuches samt jenem mißglückten Tagesausfluges zum Annaberg erfahren müssen, daß auch eine nicht-kommunistische polnische Regierung keineswegs bereit ist, eine präpotente Neigung zu demonstrativer Deutschtümelei widerstandslos zu dulden. Lehrt aber nun der Herbst 1989, zeigt die Massenflucht aus der DDR einerseits, die dramatische Veränderung in diesem Land andererseits nicht überdeutlich, daß die deutsche Frage doch noch offen ist, ja plötzlich gebieterisch ganz oben auf der Tagesordnung steht? So hatte es der Kanzler sich wohl für seinen Sprechzettel zurechtgelegt, und damit ist er gewiß nicht der einzige gewesen. Und ebenso gewiß werden auch diejenigen, die den Wandel der Dinge etwas pathetisch zu beurteilen pflegen, beeindruckt sein von jenem plötzlichen, von niemandem vorhergesehenen Umschwung, der sich in atemberaubender Schnelligkeit in der DDR vollzogen hat. Wenn es derzeit eine »deutsche Frage« gibt – dann die nach einer gedeihlichen Zukunft für die Menschen in der DDR. Über die tagespolitisch motivierte patriotische Schwelgerei hinaus, die schon auf die Wahlkämpfe des Jahres 1990 zielt, hat all dies mit »Wiedervereinigung« wenig zu tun, wie ein Blick auf die Tatsachen zeigt. Klar ist eines – die herrschenden Verhältnisse in der DDR waren unerträglich geworden. Über eine Viertelmillion Menschen zog im Jahr 1989 eine möglich Konsequenz und verließ das Land – zum kleineren Teil legal, überwiegend jedoch auf abenteuerlichen Wegen, und dies in solcher Menge, daß die Öffnung der ungarischen wie der tschechoslowakischen Grenze erzwungen werden konnte. Daß aber tiefgreifende Reformen im Lande selber eingeleitet werden mußten, unter denen die am 9.11.1989 plötzlich gewährte Reisefreiheit nur ein (allerdings bedeutender) Schritt ist – das ist wohl weniger den Ausgereisten, als den Gebliebenen zu danken, weniger den 280.000 Geflüchteten als der Millionen von Demonstranten, die drohend-trotzig am 4. November in Berlin und anderswo skandierten: Wir bleiben! Wir sind das Volk!

Nationalbewußtsein im großdeutschen Sinne läßt sich aus alledem kaum herleiten. Die einen wollen Bürger der BRD werden, die anderen solche der DDR bleiben. „Am Ende der ersten und stürmischen Etappe des großen Wiedersehensfestes, das am Wochenende mit so vielen Hoffnungen begangen wurde, steht eine ungute Erkenntnis“, mußte Fritz Ullrich Fack noch nicht einmal eine Woche nach der Öffnung der DDR-Grenze sichtlich enttäuscht konstatieren: „An einer Wiedervereinigung sind viele Landsleute drüben offenbar nicht übermäßig interessiert. Nicht nur die Oppositionsgruppen äußern sich überwiegend ablehnend; auch die Besucher vom Wochenende zeigten, auf das Thema angesprochen, wenig Interesse.“ 1

Hohle Wiedervereinigungsrhetorik

Es will also scheinen, als gehe die ganze hohle Wiedervereinigungsrhetorik arg an den Menschen vorbei – in der DDR wie in der BRD, wo das »Politbarometer« des ZDF am 20.11.1989, nach knapp zwei Wochen offener DDR-Grenze, berichtete, daß die Zahl der Bundesbürger, die für die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze eintreten, deutlich zugenommen, die Anzahl jener, die sich eine baldige Einheit Deutschlands wünschten, hingegen abgenommen habe – bei zugleich deutlich abgeflachter Sympathiekurve für die CDU/CSU. Daß die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes in der DDR zwar rundweg zu begrüßen ist, aber andererseits eine Fülle konkreter Probleme aufwirft, auf die hüben und drüben niemand so recht vorbereitet ist und die sich durch Appelle an ein wolkiges, in überkommener Form gar nicht mehr existentes Nationalgefühl nicht übertünchen lassen – das hätte die Regierung, schwebte sie nicht in den abgehobenen Regionen einer weltfremd-traditionellen »Deutschlandpolitik«, allerdings vorweg ahnen können. Schon die in die BRD hereinschwappende Welle von Aussiedlern aus Polen und der UdSSR, die 1988 und 1989 hoch aufbrandete, überforderte offenbar das so häufig beschworene Zusammengehörigkeitsgefühl. Von der »Aktion Willkommen«, mit der die CDU-Ortsvereine laut Vorschlag von CDU-Bundesgeschäftsführer Peter Radunski im September 1988 die Neuankömmlinge begrüßen wollte, damit diese sich „als Deutsche unter Deutschen schnell heimisch und wohl fühlen“ 2, war, insbesondere nach den Wahlerfolgen der fanatisch fremdenfeindlichen Republikaner im ersten Halbjahr 1989, rasch keine Rede mehr. Im November 1989 beschloß der Bundestag, Aus- und Übersiedlern nur noch ein pauschales Eingliederungsgeld statt Arbeitslosen- und Krankengeld zu gewähren – „als wesentlich gilt, aufkommenden Neid in der Bevölkerung den Boden zu entziehen“, wußte eine Lokalzeitung hierzu anzumerken.3 Wie ein anderes Blatt schon vorher festgestellt hatte, war die „krampfhafte Willkommensoffensive ... schon bei den ersten paar hunderttausend Aussiedlern zusammengebrochen.“ 4

Das wohlstandsorientierte Leistungs- und Besitzdenken der Konkurrenzgesellschaft bildet offenkundig nicht den Nährboden, auf dem das Nationalbewußtsein unbeschadet hätte überwintern können. Unter der satirischen Überschrift „Deutsche unter sich“ hatte das Wochenblatt „Die Zeit“ im Oktober 1989, als zum Aussiedlerstrom sich noch massenhaft die über die Tschechoslowakei und Ungarn emigrierten DDR-Übersiedler zugesellten, über wachsende Spannungen zwischen beiden Gruppierungen berichtet: „Um- und Aussiedler schätzen einander nicht.“ 5

Ein neues Bewußtsein von der grenzübergreifenden Nationalgemeinschaft sprießt also offenkundig nicht aus der Saat des derzeit so heftigen politischen Wandels; ob man dies bedauert oder begrüßt – an der empirischen Sachhaltigkeit dieser Feststellung ist kaum ein Zweifel. „Wer aus der DDR kommt, wird hierzulande von vielen nur gerne gesehen, wenn er wieder geht“, résummierte der SPIEGEL Ende November 1989 eine eigene Umfrage und konstatierte „eine weitverbreitete Aversion gegen einen weiteren Zustrom.“ 6

Die offenkundige, manchmal in Menschenverachtung umschlagende Unwilligkeit vieler Bundesbürger, für die Öffnung der DDR-Grenzen eigene Lasten zu übernehmen, die gleichzeitige, sehr berechtigte Sorge, durch den gewaltigen Zustrom der Aus- und Übersiedler werde das soziale Netz bis zum Zerreißen überdehnt sowie Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit drastisch verschärft – diese von nationalem Hochgefühl weit entfernte Stimmungslage geht Hand in Hand mit einer hinter Phrasen versteckten Hilf- und Tatenlosigkeit nicht nur der Regierungspolitiker, sondern auch weiter Kreise der Opposition.

Kein Zurück zum Nationalstaat

Wahrscheinlich ließe sich das durch offene Grenzen erleichterte Miteinander der Deutschen in ihren beide Staaten weit besser und leichter gestalten, litte die offiziöse Bonner Politik nicht tief an eben jenem hohlen Wieder-Vereinigungs-Pa<->thos, das immer schon Papiermaché gewesen ist und heute umso hilfloser wirkt, je vollmundiger es verbreitet wird. Was sie denn nun mit einer sich reformierenden DDR politisch-praktisch anfangen sollen, scheint der Bonner Regierung im Spätherbst 1989 nicht eben klar zu sein – vielleicht dämmert es aber dem einen oder der anderen, daß just dieses Miteinander sinnvoll zu organisieren weit schwieriger ist als nationale Phrasen gebetsmühlenhaft zu wiederholen. Daß der Mehrheit der Regierten freilich an praktisch-pragmatischen Schritten weit mehr gelegen ist als an nebulösen Visionen, zeigte die bereits zitierte SPIEGEL-Umfrage recht deutlich auf. Nur 27% der Befragten erwarteten eine Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen in Richtung »Wiedervereinigung« – aber 44% hoffen: „die Beziehungen werden weit besser sein als früher, etwa so wie zu Österreich und der Schweiz.“ 7 Und dies wäre ja keine schlechte, sondern eine außerordentlich vernünftige Perspektive.

Den Bürgern der Bundesrepublik ist, so will es scheinen, schon jetzt klar und deutlich, was die Regierungpolitiker allenfalls hinter vorgehaltener Hand zuzugeben bereit sind: In einem generell zusammenrückenden Europa, innerhalb dessen die Grenzen durchlässiger werden und in dem zumindest im EG-Bereich die partielle Auflösung staatlicher Souveränität in einen übergeordneten Verbund bereits fest ins Auge gefaßt ist, wird es, zumal wenn dramatische Veränderungen im Sinne demokratischer Reformen auch in ehemals festgefügten, jetzt aber auseinanderstrebenden »Ostblock« um sich greifen und sogar die DDR erfassen und in rapidem Tempo durcheinanderschütteln, gewiß keinen Raum für deutsche Sonderwege im Sinne eines „Zurück zum Nationalstaat“ (sei er groß- oder kleindeutsch geprägt) geben können. Die Ratlosigkeit der Politiker, ihre Wiedervereinigungsrhetorik mit konkreten Inhalten zu füllen, ist hierfür der allerbeste Beleg.

Selbstbestimmungsrecht für das Volk der DDR

Welches Fazit läßt sich somit bilanzieren? Die Demokratisierung der DDR – wie auch anderer östlicher Staaten – ist ein höchst erfreulicher, friedenssichernder Prozeß – er bedarf konkreter, tatkräftiger Unterstützung, die (wie dies auch 81% der Bundesbürger wollen) nicht mit bevormundenden Auflagen, nicht mit Besserwisserei und Einmischung verknüpft sein darf.8Gerade hier erweist sich der Gang der Dinge als Nagelprobe dafür, wie ernst das zuvor immer wieder lauthals geforderte Selbstbestimmungsrecht der Völker denn tatsächlich genommen werden wird, wenn es einmal hart auf hart kommt. Dem Volk der DDR das Pathos einer dort offenbar keineswegs populären Wiedervereinigung anschwatzen zu wollen, hat ja mit diesem Selbstbestimmungsrecht nicht das Geringste zu tun. Es erweist sich zudem in diesem ereignisreichen Herbst, daß – wie ich dies andernorts9 schon dargelegt habe – gerade dieses Selbstbestimmungsrecht desto besser gefördert werden kann, wenn ihm nicht gewaltsam und offenbar gegen das Mehrheitsinteresse in Ost und West die überkommene Last eines überlebten gesamtdeutschen Nationalstaats-Sentiments aufgepfropft wird. Wenn zwischen der BRD und der DDR ein so weitgehend entkrampftes, zwischenstaatliches Verhältnis zustande kommen sollte wie zwischen der Bundesrepublik und den deutschsprachigen Nachbarvölkern in der Schweiz und in Österreich; wenn dieser Wunsch vieler Bundesbürger in politische Fakten gegossen werden könnte – dies wäre in der Tat ein vorwärtsweisender, friedensstiftender Schritt von größter Tragweite. Die hilflose Reaktion der Bundesregierung auf die vom neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow vorgeschlagene, weitgehende »Vertragsgemeinschaft« zwischen den beiden deutschen Staaten, läßt hier freilich ebenso wenig Gutes erhoffen wie die wütenden Attacken des Bundeskanzlers auf den populären, unbefangen und sehr zu Recht vom „Volk der DDR“ sprechenden Berliner Bürgermeister Momper, der die gegenwärtige Gestimmtheit seiner Mitbürger offenbar weit besser erfaßt hat als der in nebulös-unverbindlichen Wendungen von „geschichtlichen Ausblicken“ räsonnierende Helmut Kohl.

Aber nicht alleine die Bundesregierung – der Kanzler allen voran – scheint ratlos, weil ihr zu dämmern beginnt, daß eine sich zielstrebig reformierende DDR allem Wiedervereinigungsgerede erheblich größeren Widerstand entgegensetzt als die ehemalige alterstarrsinnige, sich in Beton und Stacheldraht abgrenzende SED-Führung. Auch die NATO-Strategen wissen offenkundig nicht, wie sie reagieren sollen auf eine Entwicklung, die den liebgewordenen Feindbildern jede Substanz, der überkommenen NATO-Strategie mit ihrem Trugbild von der „Invasion aus dem Osten“ jede Grundlage raubt. Wie der SPIEGEL berichtete, führte die NATO am 12. November 1989 – während Hunderttausende von DDR-Bürgern die Bundesrepublik und West-Berlin besuchten, während hochrangige Politiker der Sowjetunion die demokratischen Veränderungen im sozialistischen deutschen Staat ausdrücklich begrüßten und während last not least die Vorbereitungen für das erste Gipfeltreffen Gorbatschow-Bush auf Hochtouren liefen – an sieben VAX 8000-Großcomputern im US-Simulationszentrum Einsiedlerhof bei Ramstein „die größte Kriegs-Simulation der Allianzgeschichte durch.“ 10 Im Zentrum der angenommenen »Feindlage« stand natürlich, unberührt vom Gang der Weltgeschichte, der tapfere Abwehrkampf der NATO-Truppen gegen die weit überlegenen Aggressoren aus dem Osten (wie lange es in diesem Planspiel dauerte, bis Mitteleuropa atomar zu Tode verteidigt wurde, ist leider nicht bekannt geworden...). Wie das Nachrichtenmagazin zutreffend schreibt, können solche heroischen Inszenierungen, bei denen ganze Völker zwecks Verteidigung westlicher Werte (von denen die Länder Osteuropas sich die demokratischen Ideale und das Leitbild der Menschenrechte bereits auf friedlichem Wege zielstrebig anzueignen beginnen) auf dem »nuclear battlefield« hingemordet werden, von der Sinnkrise der NATO kaum ablenken: „Alle Pläne der Allianz-Strategen werden zu Makulatur, wenn Demokratien nach westlichem Muster jenseits der Grenzen entstehen, an denen zur Zeit noch die Vorneverteidigung des Westens beginnen soll. Neue taktische Atomwaffen in Europa, deren Notwendigkeit noch beim Bündnis-Gipfel im Mai nach einem Streit zwischen Bonn und Washington bestätigt wurde, sind undenkbar geworden.“ 11 Hier tut sich denn auch in der Tat eine »gesamtdeutsche« Perspektive auf, die freilich einen anderen Blickwinkel eröffnet, als jenen, den Bundeskanzler Kohl und NATO-Generalsekretär Wörner im Auge haben: Werden Bürger der DDR und der BRD im Jahr 1992 gemeinsam, Schulter an Schulter, gegen die bevorstehende NATO-"Nachrüstung« demonstrieren? Eine Menschenkette gegen neue Atomwaffen – quer durch das Brandenburger Tor?

Für ein gutnachbarliches Verhältnis

Der NATO-"Doppelbeschluß« von 1979, der gegen erheblichen Widerstand die Aufstellung neuer Atomwaffen durchsetzen konnte und so eine neue Rüstungsrunde einläutete, ist insofern ein Pyrrhussieg gewesen, als er die gesamte Abschreckungsdoktrin der Kritik aussetzte und ihr schlagartig und unerwartet die öffentliche Anerkennung raubte – ein Schock, von dem sich die NATO-Strategen bis heute nicht erholt haben. Für die Parteigänger einer nationalstaatlich konzipierten Wiedervereinigung könnte sich die Demokratisierung der DDR als ein ähnlicher Pyrrhussieg erweisen. Ein gutnachbarschaftliches Verhältnis auch der deutschen Partikularstaaten innerhalb eines ohnehin zusammenwachsenden Europas – das ist die Aufgabe, die friedenspolitisch zu bewältigen gilt. Und wer weiß, ob der Geist massiven zivilen Ungehorsams, der die Entwicklung in der DDR so nachdrücklich geprägt hat, nicht auch im Nachbarstaat BRD seine ansteckende Wirkung zeitigt? Für überkommene Nationalstaatsphantasien gibt es im Rahmen dieser Entwicklung allerdings keinerlei Bedarf. Niemand hat dies besser erkannt als der hellhörige Außenminister Genscher, der im Interview zu bedenken gab: „Das Wort »Wiedervereinigung« ist zu einem Zeitpunkt geprägt worden, zu dem man von einem Europa der Nationalstaaten ausging. Heute haben wir uns in unserem Förderalismus gut eingerichtet, zum Zentralstaat will niemand zurück. Wir erleben einen zunehmenden Souveränitätsverzicht innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und, wie ich hoffe, zugunsten eines mit vollen Rechten ausgestatteten europäischen Parlaments.“ 12

Mit diesen bemerkenswerten Worten können auch die Akten geschlossen werden, in denen das Phantom der traditionellen »deutschen Frage« ein für allemal abgelegt ist. Diese Frage ist nicht mehr offen, weil sie sich so (als Vision von der Wiedergeburt der deutschen Reichsnation, sei sie nun klein- oder gar großdeutsch) nicht mehr stellen wird. Offen bleibt einzig die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben in einem neu erstehenden Mitteleuropa, ja in Europa überhaupt. Daß sich dabei auch neue Perspektiven für die beiden deutschen Staaten eröffnen – wie für andere Länder auch – ist selbstverständlich.

Anmerkungen

1) FAZ, 15.11.1989 Zurück

2) SZ, 16.9.1988 Zurück

3) Schwäbische Zeitung, 17.11.1989 Zurück

4) Westfalenpost, 6.4.1989 Zurück

5) Die Zeit, 13.10.1989 Zurück

6) Der SPIEGEL 47/1989 Zurück

7) Ebenda Zurück

8) Auch diese Zahl laut ZDF-Politbarometer, 20.11.1989 Zurück

9) Z.B. in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7/88, Blätter für deutsche und internationale Politik 11/88 Zurück

10) Der SPIEGEL, Nr. 47/1989 Zurück

11) Ebenda Zurück

12) Der SPIEGEL, Nr. 39/1989 Zurück

Dr. Till Bastian ist Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite