W&F 2011/2

Georgien/Abchasien

Opferidentitätenfalle in Konflikten

von Anna Lübbe

Am Beispiel des seit zwei Jahrzehnten sich hinziehenden Sezessionskonflikts wird gezeigt, wie Großgruppen kollusiv in einen existentiellen, kaum mehr lösbaren Widerstreit geraten können, wenn im Geschichtsbild der beteiligten Gruppen wurzelnde Empfindlichkeiten getriggert werden. Es werden Ansätze diskutiert, um Konfliktsysteme, die sich in einer solchen psychopolitischen Dynamik festgefahren haben, wieder zu mobilisieren.

Abchasien liegt im Nordwesten Georgiens an der Schwarzmeerküste. Es ist eine von mehreren Regionen Georgiens, die durch multiethnische Zusammensetzung gekennzeichnet sind. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden Abchasiens Sezessionsbestrebungen wach, und Georgien entwickelte einen starken Ethnonationalismus (»Georgien den Georgiern«). Die Abchasen setzten in einem Krieg 1992-1994 ihre De-facto-Unabhängigkeit durch. Die Auseinandersetzungen waren mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden von Flüchtlingen verbunden. Vor allem Russland und die Vereinten Nationen bemühten sich um Befriedung, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Interessenlage aber mit unterschiedlichen Zielvorstellungen (Gruska 2005).

Durch die unblutige »Rosenrevolution« im Jahr 2003 kam in Georgien eine junge, nationalistische und westorientierte Führungselite unter dem Präsidenten Saakashvili an die Macht. Im August 2008 begann Saakashvili einen Krieg mit dem Ziel, Abchasien und das ebenfalls abtrünnige Südossetien zurück zu erobern. Der Krieg dauerte fünf Tage, führte zum Kriegseintritt Russlands auf der abchasischen und südossetischen Seite und endete mit einer harschen Niederlage Georgiens. Westliche Politiker und Medien kritisierten Russlands harte Reaktion scharf, militärisch griff der Westen aber nicht ein. Russland erkannte nun Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten an. Offizielle Bemühungen, unter Beteiligung der Konfliktparteien einschließlich Russlands und unter der Leitung von Vereinten Nationen, OSZE und Europäischer Union die Situation zu klären – die so genannten »Genfer Gespräche«, mittlerweile in der 15. Runde –, taten sich bereits schwer festzulegen, wer als Verhandlungspartner auftreten darf. Bereits in den Jahren vor der militärischen Eskalation vom August 2008 hatte es wiederholte Vermittlungsbemühungen unterschiedlicher Akteure gegeben (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Die Positionen in der Statusfrage blieben aber unbeweglich.

Die Mediationsresistenz des Konflikts hat viele Gründe. In der Konfliktforschung werden zunehmend auch psychologische Faktoren für die Verhärtung von Großgruppenkonflikten herausgearbeitet (Volkan 2007; Kelman 2009; Kaufman 2001; Simon 2004; Wallach 2006; Lübbe 2009; 2010). Ein für ethnopolitisierte Großgruppenkonflikte typischer Blockademechanismus sei am georgisch-abchasischen Beispiel aufgezeigt.

Mediationsresistenz des Konflikts

Bei dem Konflikt zwischen Georgien und Abchasien handelt es sich um einen ethnopolitisierten Konflikt in dem Sinne, dass die Freund/Feind-Unterscheidung entlang ethnischer Grenzen verläuft. Die Konfliktforschung hat einige Faktoren ausgemacht, die eine Eskalation von Großgruppenkonflikten entlang ethnischer Gruppengrenzen zu begünstigen scheinen (Kaufman 2001; Volkan 2007). Dazu gehört eine schwache gesamtstaatliche Integrationskraft, typischerweise bei Staatenbildung auf tribalistischer Grundlage. Im Kaukasus kommt die ethnisierende Wirkung der sowjetischen Nationalitätenpolitik hinzu (Gruska 2005). Ein weiterer Faktor ist die Destabilisierung durch eine politische Übergangssituation, im Kaukasus durch den Zerfall der Sowjetunion. Hinzu kommt eine ethnopolitisierende Propaganda durch Großgruppenführer, die in unsicheren und konfliktträchtigen Zeiten ihre Stunde finden. Durch die Ethnopolitisierung bekommt der Konflikt einen existenziellen, die Identität der Parteien betreffenden Charakter. Wie tragen solche Identitätsaspekte im georgisch-abchasischen Fall zur Mediationsresistenz des Konflikts bei?

Bestandteil gelingender Mediation ist ein Übergang von den unvereinbaren Positionen der Konfliktparteien zu den dahinter liegenden Bedürfnissen. Der Übergang ist blockiert, wenn er sich den beteiligten Kollektiven in der ihre Politiken dominierenden Wahrnehmung als Selbstaufgabe darstellt, weil die Positionen existentiell besetzt sind. Im georgisch-abchasischen Konflikt betrifft das die Statusfrage. Die Positionen lauten auf georgischer Seite: Abchasien ist und bleibt ein Teil Georgiens, und auf abchasischer Seite: Abchasien gehört nicht und wird nie wieder zu Georgien gehören. Eine größere Vielfalt an Optionen mit dann möglicherweise auch konsensfähigen Lösungen könnte sich allenfalls auf der Ebene der Bedürfnisse eröffnen (Sicherheit, Autonomie, gerechte Verteilung von Lasten und Ressourcen, usw.). Ist der Übergang von den Positionen zu den Bedürfnissen blockiert, weil die Positionen existenziell unverzichtbar erscheinen, bleibt die Welt, in der die Parteien leben, eine, in der es nur Sieg oder Niederlage geben kann.

Um die Fixierung der Parteien auf ihre Positionen in der Statusfrage zu verstehen, muss man die mediationstypische Zukunftsorientierung verlassen und die historische Dimension eröffnen. Vamik Volkan (2004; 2007) hat herausgearbeitet, dass als kollektive Traumata bewertete historische Erfahrungen einer ethnischen Schicksalsgemeinschaft in aktuellen Konflikten reaktiviert werden und dann unbewusst die Wahrnehmung der gegenwärtigen Lage prägen. Wie also konstruieren die Konfliktparteien vor dem Hintergrund ihrer identitätsprägenden Geschichtsbilder ihre Realität?

Selbsterfüllend wirkende Opferidentitäten

Mit Gründung der Sowjetunion erhielt Abchasien im März 1921 zunächst gleichen Status wie Georgien als Sozialistische Sowjetrepublik. Der weitere Verlauf stellt sich aus abchasischer Sicht als eine Geschichte zunehmender Dominierung dar. 1931 wurde Abchasien zur autonomen Republik innerhalb von Georgien degradiert. Durch die stalinistische Deportations- und Zwangsassimiliationspolitik waren die Abchasen nahe daran, als Volk mit eigener Identität ausgelöscht zu werden. Es wiederholten sich damit Erfahrungen aus dem Zarenreich, als nach brutal unterdrückten Aufständen Tausende Abchasen ins Exil fliehen mussten, ein kollektives Trauma, das den Abchasen noch gut erinnerlich ist (Kaufman 2001). Die postsowjetische Übergangsphase und die damit einhergehende Propaganda waren geeignet, diese Opferanteile der abchasischen Identität zu reaktivieren. Konnte sich Abchasien mit dem Ende der Sowjetunion befreien und für unabhängig erklären, entwickelt sich seither – so die Opfererwartung – eine erneute Gefahr der ethnischen Auslöschung. Das Aufgeben der Position »Unabhängigkeit von Georgien« fällt in der die abchasische Politik dominierenden Wahrnehmung zusammen mit dem Ende einer eigenständigen abchasischen Identität.

Die im Konflikt wirksamen Erwartungen Georgiens resultieren aus identitätsprägenden Elementen des georgischen Geschichtsbildes. Viele Male in seiner Geschichte hat Georgien seine Unabhängigkeit ganz oder teilweise an umgebende Großmächte verloren: Osmanen, Perser, Russen und andere haben im Lauf der Jahrhunderte Georgien besetzt; immer wieder fand es sich im Grenzbereich konkurrierender Einflusssphären übermächtiger Nachbarn (Kaufman 2001). Nach dem Ende des russischen Zarenreiches erlebte Georgien eine kurze Phase der Unabhängigkeit; schon 1921 verlor es seine Freiheit – und das abchasische Gebiet – wieder an die Sowjetunion. Die zentrale georgische Angst richtet sich darauf, nie ein unabhängiger Staat in stabilen Grenzen sein zu dürfen – entweder unfrei oder fragmentiert, das scheint die Alternative zu sein. Auch die georgische Existenzangst wird durch die postsowjetische Entwicklung aktiviert: Kaum hat Georgien seine Eigenstaatlichkeit wiedergewonnen und möchte seine Freiheit für eine Annäherung an den Westen nutzen, unterstützt Russland den Separatismus georgischer Gebiete. Aus dieser Perspektive sind Abchasien, Südossetien und andere ethnische Minderheiten in Georgien russische Marionetten, die Georgien fragmentieren sollen, sobald es sich von der russischen Unterdrückung zu befreien wagt (Kaufman 2001; Gruska 2005). Für Georgien ist das Aufgeben seiner Position in der Statusfrage gleichbedeutend mit dem Zerfall des georgischen Staates.

Das Beispiel zeigt, wie sich identitätsprägende kollektive Traumata in aktuellen Konflikten eskalierend und blockierend auswirken können: Im ethnopolitisierten Konflikt werden im Geschichtsbild der ethnischen Schicksalsgemeinschaft wurzelnde, existentielle Ängste salient. Geschichts»bild« deshalb, weil die Narrative, mit denen ethnische Schicksalsgemeinschaften ihre Identität konstruieren, mit Geschichte selektiv und mythifizierend umgehen. Geschichte wird immer wieder neu und anders erzählt, je nachdem, wer sie wann in welchem Kontext und zu welchen Zwecken erzählt. Insofern sind kollektive Identitäten nichts ahistorisch Feststehendes, sondern zeitbedingt und wandelbar. In ethnopolitisierten Zeiten kommt es zu einem unbewussten »time collapse« (Volkan 2004): In der Wahrnehmung kann zwischen vergangenen, im Narrativ der Gruppe als Traumakapitel verbuchten Erfahrungen und dem gegenwärtigen Konflikt nicht mehr angemessen unterschieden werden. Durch diese Verknüpfung erscheinen bestimmte Positionen als existentiell unverzichtbar und ihre Aufgabe als Selbstaufgabe. Wenn sich in einem Konflikt zwei Parteien mit erstens unvereinbaren und zweitens derart existenziell belegten Positionen treffen, ist der Konflikt blockiert. Der mediationstypische Übergang zur ergebnisoffeneren Ebene der Bedürfnisse und des kooperativen Suchens nach kreativen Lösungen findet nicht statt. Die Beteiligten stecken in der Opferidentitätenfalle.

Internationale Aspekte

Wenn sich die bisherige Analyse auf das Verhältnis zwischen Abchasien und Georgien konzentriert hat, so sollen damit nicht die internationalen Faktoren des Konflikts ignoriert werden, insbesondere die russische und amerikanische Konkurrenz im Südkaukasus vor dem Hintergrund von hegemonialen und Energieinteressen (Kaufmann 2007). Die konkurrierenden Großmächte haben zur Verfestigung der kompromisslosen Haltung der unmittelbar betroffenen Parteien beigetragen, indem ihre Unterstützung auf beiden Seiten Hoffnungen auf eine Durchsetzung der jeweiligen Maximalforderungen weckten. Und die zwischen Ost und West gespaltene Interessenlage torpediert auch die internationalen Vermittlungsbemühungen (Gruska 2005; Kaufmann 2007). Es erscheint aber nicht hilfreich, den Konflikt als Stellvertreterkrieg anzusehen. Die Wahrnehmung, Spielball konkurrierender Großmächte zu sein, ist selbst eine Opferperspektive, die eigene Verantwortungsanteile und Handlungsmöglichkeiten ausblendet. Die Anlehnung an Großmächte erspart die eigenverantwortliche Verständigung mit dem Konfliktpartner, macht erneut abhängig und lässt die Ermächtigungspotentiale regionaler Kooperationen, also auch mit Armenien und Aserbaidschan, ungenutzt.

Ansätze zur Mobilisierung der Blockade

Vor der Diskussion von Ansätzen für eine Mobilisierung der beschriebenen Blockade sei klargestellt, dass die Opferidentitätenfalle hier nicht als die alleinige Ursache für den Konflikt oder für seine Hartnäckigkeit angesehen wird. Solche verfestigten Konfliktsysteme sind durch zirkuläre Kausalitäten mit zahlreichen, sich gegenseitig stabilisierenden Faktoren und Subsystemen gekennzeichnet. Will man den komplexen Interdependenzen gerecht werden, muss auf mehreren Ebenen angesetzt und geduldig der Boden für stabile Veränderungen bereitet werden. Versuche, an dem zu arbeiten, was in konflikthaften Großgruppenbeziehungen unbewusst wirksam ist, finden in der Regel in Dialogprojekten statt (Ropers 2004).

grassroot-Dialogprojekte

Als ein Beispiel für ein Dialogprojekt, das explizit kollektiv-traumatische Vergangenheit bearbeitet, seien Dan Bar Ons »To Reflect and Trust«-Gruppen genannt. Bar On brachte Nachkommen von Holocaust-Opfern und Nachkommen von Holocaust-Tätern in »story telling«-Projekten zusammen. Er fand heraus, dass sie alle unter der unverarbeiteten Vergangenheit litten. Um die Verbindung zu heutigen politischen Folgen herzustellen, integrierte er später auch palästinensische Jugendliche mit in diese Dialogprojekte (Bar On 2008). Dialogprojekte werden häufig mit jungen Menschen veranstaltet, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie dafür leichter erreichbar sind. Oft sind das dann, anders als in den Workshops von Bar On, einfach Begegnungsprojekte, in denen die Erfahrung gemacht werden soll, dass die »feindlichen Anderen« so anders und so feindlich nicht sind.

Vamik Volkan hat geltend gemacht, dass in solchen Begegnungsprojekten die konfliktrelevanten Aspekte der jeweiligen Gruppenidentitäten, an denen das einzelne Gruppenmitglied teil hat, nicht transformiert würden, und zwar auch nicht in der einzelnen Person. Die Gruppenidentität werde quasi an der Tür – des Ferienlagers zum Beispiel – abgelegt wie ein Mantel. Bei den gemeinsamen Aktivitäten lassen sich dann leicht Freundschaften schließen, und zuhause legt man den Mantel und damit den das andere Kollektiv betreffenden Hass rasch wieder an. In der Konsequenz hat Volkan mit Dialogprojekten gearbeitet, in denen die zuvor von einem multidisziplinären Team analysierten, konfliktrelevanten Aspekte der Gruppenidentitäten absichtlich getriggert wurden – etwa indem man sich am Schauplatz eines einschlägigen kollektiven Traumas traf – und dann bearbeitet werden konnten (Volkan 2004).

Diese Überlegungen sprechen bereits das Transferproblem an. Dabei geht es über die Frage hinaus, wie in den an Dialogprojekten beteiligten Personen stabile Einstellungsänderungen bewirkt werden können, um die Frage, wie man eine gesellschaftliche Breitenwirkung erreicht. Ein Transfer-Ansatz besteht darin, in den Dialogprojekten die Teilnehmer selbst gemeinsam ein Transferprojekt erarbeiten zu lassen (Ropers 2004). Das kann von einer an die Medien beider Kollektive gerichteten Presseerklärung über eine Vorstellung des im Projekt Erfahrenen zuhause in Bildungseinrichtungen bis hin zur Gründung einer Nichtregierungsorganisation gehen. Beim Transfer kommt es also auf die Handlungsmöglichkeiten der Dialogprojekt-Beteiligten in ihren jeweiligen Kollektiven an. Ein nahe liegender Ansatz für die Erzielung einer großgruppenkonfliktrelevanten Breitenwirkung ist deshalb die Arbeit mit möglichst einschlägig einflussreichen Teilnehmern.

Makropolitische Ansätze

Die direktesten Handlungsmöglichkeiten haben regelmäßig die politischen Führungseliten. Diese sind allerdings für jegliche Art von Arbeit, die nicht strategisch, sondern dialogisch orientiert ist, schwierig zu erreichen. „Strategisch“ meint auf die Durchsetzung von vornherein festliegender und auch fest bleibender Agenden ausgerichtet, während „dialogisch“ eine suchende Haltung bezeichnet, die offen ist für eine mit Einstellungsänderungen einhergehende Veränderung von Agenden im Lauf der Auseinandersetzung. Gerade die psychopolitische Neulanderoberung braucht Offenheit für die Begleiterscheinungen von Selbst-, Fremd- und Weltbildveränderungen. In den Berichten aus Dan Bar Ons Workshops (Bar On 2008) ist beeindruckend, wie die teilnehmende Jugendliche in Phasen von Verleugnung und Verwirrung gerieten, bevor sie nach und nach nur dieses akzeptieren konnten: dass auch die Gegenseite wirklich leidet.

Ein Ansatz auf der Makro-Ebene, der in Reaktion auf diese Probleme entwickelt und auch praktiziert wird, ist die informelle Diplomatie (Fisher 2005; Kelman 2009). Das sind Beratungs- oder Dialogprojekte mit Teilnehmern aus Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaft sowie Personen aus dem Umfeld politischer Entscheidungsträger. Diese Personen, oft selbst ehemalige Funktionsträger, werden darin unterstützt, gewonnene Einsichten an geeigneter Stelle in die Makropolitik einfließen zu lassen. Gegenüber offiziellen diplomatischen Begegnungen ist in informellen Workshops eine Beziehungsarbeit, die den grundlegenden Ängsten und Bedürfnissen der Konfliktparteien gerecht zu werden versucht, eher möglich. Ansätze dazu gibt es bereits, und gab es auch im Kaukasus, genannt sei für den abchasischen Fall der Stadtschlaining-Prozess (Wolleh 2006). Für dergleichen muss sich im Kaukasus nach der Eskalation vom August 2008 erst wieder ein Gelegenheitsfenster öffnen.

Gerade Krisenzeiten bringen in Kollektiven oft Persönlichkeiten an die Spitze, die für dialogisches Arbeiten besonders unzugänglich sind, während gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in zunehmendem Bewusstsein der hohen Kosten einer fortdauernden Konfrontation durchaus verständigungsorientiert sein können. Ich habe Gespräche zur Kaukasuskrise begleitet, die von der INGO-Konferenz des Europarats – der zivilgesellschaftlichen Säule des Europarats – organisiert wurden. Die Teilnehmer stammten hauptsächlich aus Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks der vom Konflikt betroffenen Regionen, einschließlich Russlands. Es war beeindruckend zu erleben, wie offen und konstruktiv die Gespräche verliefen. Die Teilnehmer, und besonders die Teilnehmerinnen, zeigten sich mit ihrer Betroffenheit und ihren Bedürfnissen, und der enorme Schmerz, den das Trauma des Krieges hinterlassen hat, stand bei zahlreichen Äußerungen aller Seiten deutlich im Raum. Dadurch wurde jenseits aller Freund/Feind-Dichotomien ein Boden des gemeinsamen Menschseins spürbar.

Im weiteren Verlauf der Gespräche wurde deutlich, dass auf dieser zivilgesellschaftlichen Ebene eine hohe Kooperationsbereitschaft und auch praktischer Ideenreichtum herrschen, gleichzeitig aber Frustration wegen der Aussichtslosigkeit, damit die Führungsebenen zu erreichen, und zwar besonders die autoritäre Führungselite Georgiens. Die georgische Führungsebene ist, auch zur innenpolitischen Stabilisierung ihrer eigenen Position, ganz auf die angeblichen Notwendigkeiten der internationalen Politik und die Statusfrage konzentriert. Den Bedürfnissen der Bevölkerung und der drängenden Frage, wie Georgien zu einem Land werden kann, in dem sich ethnische Minderheiten aufgehoben statt bedroht fühlen, wird nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Auch dieses prekäre Verhältnis von Führung und Zivilgesellschaft (Kaufmann 2007) ist ein den Konflikt stabilisierender Faktor.

Unterstützung zivilgesellschaftlicher MultiplikatorInnen

Solange also die Makroebene für dialogische Ansätze nicht erreichbar ist, bietet sich weiter die Arbeit mit zivilgesellschaftlichen MultiplikatorInnen an: Medienleute, Menschen aus Bildungswesen, Kunst und Wissenschaft, religiöse Autoritäten, Angehörige von Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen etc. In Gebieten mit chronifizierten Großgruppenkonflikten, die durch schwache oder autoritäre Staatlichkeit, Ethnisierung, Gewaltökonomien und multiple soziale Probleme gekennzeichnet sind, liegt viel Transformationspotential in zivilgesellschaftlichen Kräften, die in der Gesellschaft meinungs- und einstellungsbildend wirken können. Zivilgesellschaftliche Institutionen haben einen dichteren Kontakt zur Bevölkerung, ein oft auch kooperatives Verhältnis zu ähnlichen Initiativen auf Seiten der anderen Konfliktpartei und nicht zuletzt einen höheren Anteil an Frauen. Damit sind sie eine innersystemische Ressource, die zu unterstützen sich lohnt (Kaufmann 2007). Marco de Carvalho und Jörgen Klußmann (2010) haben in Afghanistan großgruppenkonfliktbezogene Klärungsanliegen dieser Zielgruppe systemisch bearbeitet, also zum Beispiel das Anliegen eines lokalen Mediators zur Frage „Wie können Paschtunen und Tadschiken wieder friedlich im Dorf miteinander leben?“.

Es könnte nützlich sein, systemische Beratungsansätze in den Methodenkoffer der psychopolitischen Friedensarbeit zu integrieren, auf welchen Ebenen der Gesellschaft auch immer (Wils et al. 2006; Lübbe 2007; 2010). Die blockierte Situation im Kaukasus beruht, wie hier zu zeigen versucht wurde, unter anderem darauf, dass die Akteure den existenziellen Kampf antizipieren und ihn in der Folge kollusiv konstruieren. Es fehlt ein Bild davon, dass Staaten Minderheiten in deren Eigenständigkeit unterstützen können, ohne zu zerfallen. Es fehlt an Konzepten, wie man sich von Großmächten emanzipiert, ohne sie sich zu Feinden zu machen, und wie man durch regionale Kooperation an Eigenständigkeit gewinnt, statt sich von globalen Interessengegensätzen spalten zu lassen. Indem die Akteure ihr Handeln an der Welt ausrichten, wie sie sie erleben, rekonstruieren sie diese permanent. Solche fatalen Dynamiken können ein System trotz erheblichen Leidensdrucks resistent gegen Veränderungsbemühungen machen.

Hier braucht es Methoden, die diese Dynamiken bewusst machen und wieder positive Optionen in das System einführen, ressourcenvollere Beziehungen und Systemzustände. Systemische Beratung und insbesondere analoge Simulationsverfahren (Lübbe 2010; de Carvalho/Klußmann/Rahman 2010) sind eine Möglichkeit, solche ressourcenvolleren Konzepte zu entwickeln. Wesentlich ist dabei, dass die Lösungen mit den Betroffenen aus dem simulierten System selbst heraus entwickelt werden. Derart innersystemisch angeregte Veränderungsprozesse halte ich für chancenreicher als Versuche, ein System nach Maßgabe von auf externen Analysen beruhenden, mitgebrachten Konzepten instruktiv verändern zu wollen (Lübbe 2007). Möglicherweise können sie im System Veränderungen in Richtung ressourcenvollerer Systemzustände anregen, die dann nicht mehr an den Grenzen der bisherigen Realitätskonstruktionen scheitern müssen.

Fazit

Eine Bearbeitung ethnopolitisierter Großgruppenkonflikte erfordert nach allem die Integration psychopolitischer Sicht- und Herangehensweisen in den Friedensprozess. Opferidentitäten wirken selbsterfüllend; sie tendieren dazu, gegenwärtige Beziehungen der Tragik des Wiederholungszwangs zu unterwerfen. In dem Maße, wie sie zurücktreten, könnten sich wieder Optionen für ressourcenvollere Koexistenzen im Kaukasus eröffnen.

Literatur

Bar On, Dan (2008): The »Others«“ Within Us. Constructing Jewish-Israeli Identity. Cambridge University Press.

de Carvalho, Marco/Klußmann, Jörgen/Rahman, Bahram (2010): Konfliktbearbeitung in Afghanistan. Die Systemische Konflikttransformation im praktischen Einsatz bei einem Großgruppenkonflikt. Friedrich-Ebert-Stiftung.

Fisher, Ronald (Hrsg.) (2005): Paving the Way. Contributions of Interactive Conflict Resolution to Peacemaking. Lexington Books.

Gruska, Ulrike (2005): Separatismus in Georgien. Möglichkeiten und Grenzen friedlicher Konfliktregelung am Beispiel Abchasien. Universität Hamburg.

Kaufman, Stuart (2001): Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War. Cornell University Press.

Kaufmann, Walter (2007): Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen bei der Bearbeitung von Konflikten im Südkaukasus. In: Klein, Ansgar/Roth, Silke (Hrsg.): NGOs im Spannungsfeld von Krisenprävention und Sicherheitspolitik. VS Verlag, S.299-312.

Kelman, Herbert (2009): Interactive Conflict Resolution by the Scholar-Practitioner. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.. 74-78.

Lübbe, Anna (2007): Ethnopolitische Konflikte. Das Potenzial der Systemaufstellungsmethode. Zeitschrift für Konfliktmanagement, S.12-16.

Lübbe, Anna (2009): Us versus Them. Splitting Dynamics and Turning Points in Ethnopolitical Conflict. Journal of Peace, Conflict and Development 13.

Lübbe, Anna (2010): Systemic Constellations and their Potential in Peace Work. In: Fitz-Gibbon, Andrew (Hrsg.): Positive Peace. Reflections on Peace, Education, Nonviolence and Social Change. Rodopi vibs, S.49-57.

Ropers, Norbert (2004): From Resolution to Transformation. The Role of Dialogue Projects. In: Austin, Alex et al. (Hrsg.): Transforming Ethnopolitical Conflict. The Berghof Handbook, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management, S.225-269.

Simon, Fritz (2004): Patterns of War. Systemic Aspects of Deadly Conflicts. Carl Auer.

Volkan, Vamik (2004): Das Baum-Modell. In: Geißler, Peter (Hrsg.): Mediation – Theorie und Praxis. Neue Beiträge zur Konfliktregelung. Psychosozial Verlag, S.69-96.

Volkan, Vamik (2007): Killing in the Name of Identity. A Study of Bloody Conflicts. Pitchstone Publishing.

Wallach, Tracy (2006): Conflict Transformation: A Group Relations Perspective. In: Fitzduff, Mari/Stout, Chris E. (Hrsg.): The Psychology of Resolving Global Conflicts. From War to Peace. Praeger Publishers, S.285-305.

Wils, Oliver et al. (2006): The Systemic Approach to Conflict Transformation. Concepts and Fields of Application. Berghof Foundation for Peace Support.

Wolleh, Oliver (2006): A Difficult Encounter – The Informal Georgian-Abchazian Dialogue Process. Berghof Report No. 12, Berghof Research Center for Constructive Conflict Management.

Anna Lübbe ist Juristin, Mediatorin und systemische Beraterin. Als Professorin an der Hochschule Fulda lehrt und forscht sie mit den Schwerpunkten Öffentliches Recht und Konfliktforschung. Sie supervidiert MediatorInnen und führt den systemischen Supervisionsansatz auch in die politische Friedensarbeit ein. Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den die Autorin 2010 am Konfliktforschungszentrum der Universität Marburg gehalten hat.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 59–62