W&F 2008/3

Orwell im Tschad

Wie Österreich und die EU Militäreinsätze über die Entwicklungshilfe querfinanzieren

von Jürgen Wagner

Am 15. Oktober 2007 hatte die Europäische Union beschlossen, eine Militärmission in den Tschad und die Zentralafrikanische Republik zu entsenden. Nachdem Österreich von den bis Mitte Juni 3.048 stationierten Soldaten des EUFOR Chad/RCA-Einsatzes 181 stellt, sorgte Mitte April die Meldung für große Empörung, dass die Kosten hierfür in Höhe von zunächst 25 Mio. Euro dem Entwicklungshilfeetat entnommen werden.

So skandalös es ist, dass Gelder, die zur Armutsbekämpfung gedacht sind, regelrecht zweckentfremdet werden, ist dies jedoch keineswegs - wie die gegenwärtigen Medienberichte vermuten lassen - ein grundlegend neues Phänomen. Vielmehr ist die Querfinanzierung von Militäreinsätzen mit Hilfe von Entwicklungshilfegeldern innerhalb der Europäischen Union schon länger gängige Praxis.1

Der entwicklungspolitische Paradigmenwechsel: Ohne Krieg keine Entwicklung!

Nachdem sich der Druck auf die Industriestaaten im Laufe der 1960er Jahre vergrößerte, verpflichteten sich diese schließlich mit der UN-Resolution 2626 vom 24. Oktober 1970 explizit darauf, mindestens 0,7% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Zwar wird diese Marke bis heute von den meisten Ländern bei weitem nicht erreicht, gerade deshalb ist es aber eine entscheidende Frage, welche Ausgaben als Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) verrechnet werden können. Die Relevanz der ODA-Zahlen ist beträchtlich, geben sie doch Aufschluss darüber, inwieweit die Geberländer ihrer - ohnehin schon sehr bescheidenen - Zusage aus besagter Resolution nachkommen.

Um die Höhe der Öffentlichen Entwicklungshilfe zu bestimmen, richtete die OECD bereits im Jahr 1969 ein einheitliches Erfassungssystem ein. Seither legt der OECD-Entwicklungshilfeausschuss (OECD-DAC), dem die 22 wichtigsten Geberländer plus die Europäische Kommission angehören, nach dem Einstimmigkeitsprinzip verbindliche Kriterien fest, was als ODA bezeichnet und abgerechnet werden kann: „Als ODA werden Leistungen der öffentlichen Hand angerechnet, die erstens an Länder vergeben werden, die von der OECD als Entwicklungsländer eingestuft werden, zweitens das Ziel der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verfolgen und drittens ein Zuschusselement von mindestens 25% beinhalten.“ 2 Nachdem militärische Aspekte jahrzehntelang kategorisch ausgeschlossen wurden und Entwicklungshilfe sich - zumindest formell - auf Armutsbekämpfung im engeren Sinne konzentrieren musste, liegt es auf der Hand, dass jede Öffnung der ODA-Kriterien zugunsten sicherheitspolitischer Ausgaben die Rüstungsetats entlasten hilft, eine Erhöhung der Entwicklungshilfe lediglich vorgaukelt und so gleichzeitig die miserable Bilanz der Geberländer schönen hilft.

Die Attraktivität einer solchen Querfinanzierung sicherheitspolitischer Aufgaben ist offensichtlich; sie erfordert aber ein Konstrukt, mit dem Militäreinsätze zu einem entwicklungspolitischen Projekt umdefiniert werden können. Obwohl in der Kriegsursachenforschung mittlerweile nahezu unstrittig Armut als wichtigster Faktor für eine gewaltsame Eskalation von Konflikten in der sog. Dritten Welt identifiziert wurde3, hat sich mittlerweile die Sichtweise durchgesetzt, Bürgerkriege in »gescheiterten Staaten« seien ausschließlich auf Binnenfaktoren zurückzuführen (habgierige Warlords, ethnische Konflikte, etc.). Da hierdurch westliche Investitionen und damit eine nachhaltige Entwicklung verhindert würden, bedürften solche Staaten der externen Stabilisierung durch das Militär. Die dahinter stehende »Logik« wurde bspw. vom Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann, treffend auf den Punkt gebracht: „Investitionen in Entwicklungsländern schaffen Jobs und Einkommen. [...] Dort wo unsere Unternehmen aktiv sind, stärken sie die Wirtschafts- und Finanzstrukturen. Aber die Wirtschaft braucht sichere Rahmenbedingungen. Mangelnde Rechtssicherheit und Rechtstaatlichkeit machen Investitionen schwer verantwortbar.“ Entscheidend ist, dass Thumann auf dieser Grundlage die entwicklungspolitische Prioritätensetzung auf den Kopf stellt: „Die Grundhypothese ‚ohne Entwicklung keine Sicherheit' stellt sich häufig genau anders herum dar. ‚Ohne Sicherheit keine Entwicklung'.“ 4 Aus dem Bestreben, militärisch die Realisierung von Profitinteressen zu garantieren und die bestehenden Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse der Weltwirtschaftsordnung militärisch abzusichern, wird somit schamlos ein entwicklungspolitisches Projekt gemacht.

Dennoch ist diese Sichtweise mittlerweile in nahezu jedem sicherheitspolitischen und seit einiger Zeit auch entwicklungspolitischen Grundsatzdokument anzutreffen. So äußern sich nicht nur zahlreiche Politiker in diese Richtung, sondern auch die im Dezember 2003 verabschiedete Europäische Sicherheitsstrategie enthält entsprechende Aussagen: „Eine Reihe von Ländern und Regionen bewegen sich in einem Teufelskreis von Konflikten, Unsicherheit und Armut.“ Während es sich hierbei noch um eine weit gehend unstrittige Tatsache handelt, ist die entscheidende Frage jedoch, wie aus diesem Teufelskreis ausgebrochen werden kann und welche Prioritäten damit gesetzt werden: „Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung.“ 5 Analog hierzu sieht sowohl der im Jahr 2006 verabschiedete »Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik« als auch der OECD-Entwicklungshilfeausschuss mittlerweile in der Unterstützung des »Stabilitätsexports« eine der vorrangigsten Aufgaben der Entwicklungspolitik.6 Offensichtlich hat ein fundamentaler entwicklungspolitischer Prioritätenwechsel stattgefunden, der von zwei Autoren des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) folgendermaßen treffend zusammengefasst wurde: „,Keine Entwicklung ohne Sicherheit' wird immer mehr zu einem entwicklungspolitischen Paradigma, das neue Handlungsweisen in der Entwicklungspolitik erforderlich macht.“ 7 Hierdurch ist der Argumentationsteppich ausgebreitet, mit dem die Unterstützung militärischer »Stabilisierungsmaßnahmen« als Armutsbekämpfung umdeklariert und so auch eine Querfinanzierung derartiger Maßnahmen legitimiert werden kann.

Die sicherheitspolitische Öffnung der ODA-Kriterien

Der große Dammbruch erfolgte in den Jahren 2004 und 2005 auf den alljährlichen Treffen des zuständigen OECD-Entwicklungshilfeausschusses (DAC High Level Meeting). Dort beschlossen die jeweiligen Fachminister, die ODA-Kriterien in zwei Schritten um verschiedene sicherheitsrelevante Aspekte zu erweitern. Seither sind folgende Maßnahmen ODA-anrechenbar:

Verwaltung der Sicherheitsausgaben

Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft im Sicherheitssystem

Kindersoldaten (Prävention und Demobilisierung)

Reform des Sicherheitssektors

Zivile Friedensentwicklung, Krisenprävention und Konfliktlösung

Handfeuerwaffen und leichte Waffen (SALW).8

Zwar sind - zumindest bislang noch - die Kosten für militärische Aspekte friedenserhaltender oder friedenserzwingender Einsätze ebenso wenig ODA-anrechenbar wie die Lieferung von Militärgütern, dennoch eröffnete bereits diese Veränderung der ODA-Kriterien die Möglichkeit, allerlei sicherheitsrelevante Ausgaben per Entwicklungshilfe quer zu finanzieren. Insbesondere der Bereich der Sicherheitssektorreform erweist sich hier als problematisch. So wurden bspw. Ausgaben im Rahmen »sicherheitspolitischer Beratung« in Armenien und Aserbaidschan, d.h. die Erstellung neuer nationaler Sicherheitskonzepte, mit jeweils 1 Mio. Euro aus dem deutschen BMZ-Haushalt unterstützt und als ODA abgerechnet. Da die Weißbücher unter anderem die Annäherung an die NATO befördern sollten, ist es kein Wunder, dass sich die durchführende Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) dabei eng mit dem NATO-Vertreter vor Ort abstimmte.9 Auch für die Ausbildung der afghanischen Polizei wurden bis Ende 2006 insgesamt 60 Mio. Euro aus dem deutschen Entwicklungshaushalt (Einzelplan 23) aufgewendet.10

Im EU-Rahmen wurden mittlerweile ebenfalls zahlreiche Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform gestartet. Dabei wird u.a. im Rahmen der EU-Mission EUPOL Kinshasa (jetzt: EUPOL RD Congo) der Aufbau paramilitärischer »Integrierter Polizeieinheiten« überwacht und angeleitet, die wiederholt durch überaus brutales Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft auffielen und damit die Regierung Joseph Kabilas absichern, der sich gegenüber europäischen Wirtschaftsinteressen stets sehr aufgeschlossen gezeigt hat und deshalb von Brüssel unterstützt wird.11 Hieran zeigt sich bereits, dass sich schon heute zahlreiche sicherheitsrelevante Maßnahmen per Entwicklungshilfe quer finanzieren lassen. Mag man noch über Sinn oder Unsinn von Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform, dem Aufbau von Polizeitruppen etc., streiten - dass solche Maßnahmen inzwischen als Offizielle Entwicklungshilfe abgerechnet werden können und damit nicht mehr der Armutsbekämpfung zur Verfügung stehen, ist zweifellos negativ.

Doch die bislang eingeleiteten Maßnahmen gehen vielen Geberländern noch nicht weit genug.12 So werden zwar derzeit bereits die Mittel zur Unterstützung von Militärmissionen der Afrikanischen Union (AU, gegr. 1993) über die Afrikanische Friedensfazilität (African Peace Facility) finanziert und damit dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) entnommen, ODA-anrechenbar sind diese Gelder bislang jedoch noch nicht.13 In diesem Zusammenhang wurde allein die AU-Mission im Sudan (AMIS) mit mehr als 300 Mio. Euro unterstützt, ein Einsatz, der direkt erhebliche wirtschaftliche und strategische EU-Interessen berührt.14 Obwohl betont wurde, bei dieser Querfinanzierung handele es sich um „eine aus der Not geborene Ausnahmelösung“ 15, wurden für die Jahre 2008 bis 2010 erneut 300 Mio. Euro eingestellt.16 Auch im Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik sollen in den nächsten fünf Jahren im Rahmen von Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform Ausgaben in Höhe von 436 Mio. Euro dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds entnommen werden17, womit die Gelder der Peace Facility bereits jetzt verplant sind und somit eine weitere Erhöhung absehbar ist. Mit der Peace Facility wurde ein Präzedenzfall geschaffen, an dem die Forderung nach einer Erweiterung der ODA-Kriterien auf Militäreinsätze aufgehängt werden kann. Die EU-Kommission jedenfalls fordert genau dies: „Damit zur Unterstützung friedenssichernder Maßnahmen in Afrika mehr Mittel zur Verfügung stehen, wäre es angebracht, innerhalb des Entwicklungsausschusses der OECD (DAC) einen Konsens zu suchen, um das im Rahmen der öffentlichen Entwicklungshilfe als unterstützungswürdig geltende Hilfespektrum auszuweiten auf die Unterstützung der afrikanischen Kapazitäten zur Durchführung friedenssichernder und damit zusammenhängender Maßnahmen.“ 18 Noch weiter gehen die Forderungen, sog. Peace Support Operations (PSOs), friedenserhaltende und selbst friedenserzwingende UN-Einsätze mit einem Mandat zur offensiven Gewaltanwendung ODA-anrechenbar zu machen, was bislang nur zu einem extrem geringen Anteil möglich ist.19

Schon im Vorfeld des DAC High Level Meetings im Jahr 2004 wurde Druck ausgeübt, auch die direkte Finanzierung derartiger UN-Einsätze in die ODA-Kriterien aufzunehmen. So forderte eine G8-Erklärung im Jahr 2003, „einen Konsens im OECD-Entwicklungshilfeausschuss herzustellen, Entwicklungshilfe für PSO-bezogene Aktivitäten freizusetzen.“ 20 Da hierüber kein Konsens erzielt werden konnte, wurde das Thema zunächst bis zum High Level Meeting Anfang 2007 vertagt. Zwar stand dort die ODA-Anrechenbarkeit von PSOs auf der Tagesordnung, die Gegner einer Ausweitung konnten sich gegen die Befürworter, Kanada, Schweden und die Vereinigten Staaten - Finnland und Deutschland standen einer Ausweitung ebenfalls wohlwollend gegenüber -, durchsetzen.21 Dennoch wurde eine weitere Evaluierung der Thematik beschlossen und die Option offen gehalten, diesen Aspekt im Jahr 2008 erneut auf die Agenda zu setzen.22 Darüber hinaus ist aber die bereits erfolgte Ausweitung der ODA-Kriterien unumstritten, eine Rücknahme dieses Dammbruches ist derzeit nicht abzusehen und stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte.23

Sollte es tatsächlich gelingen, Militäreinsätze im Rahmen der Vereinten Nationen als ODA abrechnen zu können, würde hiermit Schätzungen zufolge eine Erhöhung der Öffentlichen Entwicklungshilfe um 8-12% erfolgen, ohne dass die Geberländer einen Cent mehr in die Armutsbekämpfung investieren müssten. Gegenwärtig am teuersten sind jedoch Einsätze, die nicht von den Vereinten Nationen geführt werden (Afghanistan, Kosovo, Tschad, etc.). Sollte sich die Forderung durchsetzen, selbst solche Einsätze als ODA zu deklarieren, würden die ODA-Zahlen rapide ansteigen. Allein für Deutschland würde dies eine »Erhöhung« um 25% bedeuten. Im Falle der USA wäre in diesem Fall sogar noch vor dem extrem kostenintensiven Angriffskrieg gegen den Irak ein ODA-Anstieg um 44% zu verzeichnen gewesen.24 Es liegt auf der Hand, dass eine derartig vorgegaukelte massive Erhöhung der Entwicklungshilfe unter allen Umständen verhindert werden muss. Gerade deshalb ist die jüngste Zusicherung der OECD, die österreichischen Ausgaben für den Militäreinsatz im Tschad vollständig als ODA abzurechnen, überaus problematisch. Umso mehr, da hiermit ein Präzedenzfall gesetzt werden könnte, der auf dem OECD High Level Meeting im Jahr 2009 endgültig den Weg zur Querfinanzierung von Militäreinsätzen mit Entwicklungshilfegeldern freimachen könnte.

Österreichische Kriegsentwicklungshilfe im Tschad

Auch in Österreich werden Militäreinsätze wie im Tschad mit dem oben beschriebenen neuen entwicklungspolitischen Paradigma begründet. So äußerte sich Hans Winkler, Staatssekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, folgendermaßen: „Nachhaltige Entwicklung kann ohne Sicherheit und Stabilität nicht erfolgen.“ 25 Ungeachtet der österreichischen Neutralität beteiligt sich das Land deshalb mit dieser Begründung mit derzeit 151 Soldaten am EU-Einsatz im Tschad. Was jedoch für die Maßnahmen zur Sicherheitssektorreform gilt, nämlich, dass deren »stabilisierender« Charakter durchaus fragwürdig ist und vieles eher dafür spricht, dass hiermit vielmehr »europäische Interessen« durchgesetzt werden sollen, trifft umso mehr für direkte EU-Militäreinsätze zu. Auch die Mission im Tschad macht hier keine Ausnahme.26

In jedem Fall - egal, ob man der EU nun altruistische oder egoistische Motive unterstellt - sollten die Kosten für solche Einsätze nicht über Töpfe gedeckt werden, die eigentlich für Maßnahmen zur direkten Armutsreduzierung gedacht sind. So kritisiert Christoph Petrik-Schweifer, Chef der Auslandshilfe von Caritas Österreich: „Wenn ein Militäreinsatz in die Entwicklungshilfe eingerechnet wird, wird das Geld an anderer Stelle, etwa bei der Nahrungsmittelhilfe, fehlen.“ 27 Dennoch berichtete die österreichische Tageszeitung »Der Standard« Mitte April 2008, einen Monat vor dem wichtigen Treffen der Geberländer, Österreich sei von der OECD die ODA-Anrechenbarkeit des Einsatzes zugesichert worden.28 Als Begründung gibt Staatssekretär Hans Winkler folgendes an: „Bei diesem Fall steht der humanitäre Einsatz im Vordergrund und daher ist dieser Einsatz zu einem großen Prozentsatz anrechenbar.“ 29

Offiziell verfolgt der Einsatz das Ziel, Flüchtlingslager militärisch zu schützen, eine Maßnahme, die den ODA-Kriterien zufolge eigentlich nicht anrechenbar sein dürfte. Da darüber hinaus heutzutage nahezu jeder Kriegseinsatz humanitär begründet wird - man erinnere sich nur an die Bombardierung Jugoslawiens im Jahr 1999 -, könnte die österreichische Argumentation der groß angelegten Zweckentfremdung von Entwicklungshilfe Tür und Tor öffnen. Denn dieses Beispiel droht Schule zu machen, wie wiederum »Der Standard« mit Verweis auf österreichische Regierungsquellen berichtet: „Auch andere Staaten werden sich den Einsatz anrechnen lassen, heißt es.“ 30 Wohin diese Entwicklung führen könnte, deuten Aussagen des deutschen CDU-Haushaltspolitikers Ole Schröder an: „Missionen wie zum Beispiel in Nordafghanistan und im Kongo sind eindeutig Entwicklungshilfe.“ Entlarvend ist jedoch Schröders Zusatz, durch eine Finanzierung solcher »humanitärer Missionen« aus dem Entwicklungshilfe-Etat könne der Wehretat „in Millionenhöhe entlastet“ werden.31

Zynisch gesagt: Sollte sich diese Sichtweise durchsetzen, hätten die Industriestaaten keinerlei Schwierigkeiten, ihre jahrzehntealten Zusagen, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, einzuhalten, wenn dies über eine einfache Umschichtung von Rüstungsausgaben bewerkstelligt werden kann. Schon heute geben die OECD-Länder 30% ihrer Gelder für Maßnahmen aus, die nicht unmittelbar der Armutsbekämpfung dienen und deren langfristige Wirkungen bestenfalls hochgradig fragwürdig sind (bspw. Ausgaben für ausländische Studenten und die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen, einschließlich der Abschiebungskosten!). In Deutschland beläuft sich diese »Phantomhilfe« nach Berechnungen der Hilfsorganisation CONCORD auf 43% der gesamten ODA-Ausgaben, in Österreich sogar auf 62%.32 Sollte nun am Beispiel des Tschad tatsächlich eine generelle Anrechenbarkeit von Militäreinsätzen ermöglicht werden, verkommen alle vollmundigen Zusagen der Gebergemeinschaft, die Entwicklungshilfe substanziell zu erhöhen, zu einem schlechten Witz.

Fazit: Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit

Angesichts zahlreicher gewaltsamer Konflikte mag es verständlich erscheinen, wenn von vielen Seiten in einen militärischen Aktionismus verfallen wird, die richtige Reaktion ist dies deshalb noch lange nicht. Ohne die Anerkennung der Tatsache, dass die westliche Interessenspolitik und die westlich-dominierte neoliberale Weltwirtschaftsordnung, die eine drastische Verarmung weiter Teile der Weltbevölkerung verursacht hat, die wichtigste Ursache für das gewaltsame Ausbrechen von Konflikten darstellt, verbleiben alle Lösungsvorschläge dabei, Symptome wortwörtlich zu bekämpfen, statt die zugrunde liegenden Ursachen zu beseitigen.

Dies würde aber nicht nur eine Fokussierung der Entwicklungshilfe auf Maßnahmen zur strikten Armutsbekämpfung erfordern, sondern auch ein Nachdenken darüber, ob sich die Entwicklungsarbeit nicht grundsätzlich einen neuen Schwerpunkt suchen sollte. So betont eine Studie von »Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité« (CIDSE) richtigerweise, dass gegenwärtige Ansätze „der Illusion anhängen, dass Probleme gelöst werden könnten, ohne die fundamentale globale Ungerechtigkeit, Machtungleichgewichte und Praktiken wie den Waffenhandel zu verändern, die Konflikte anheizen und zu Unsicherheit beitragen. CIDSE sieht in der Veränderung der strukturellen Ursachen von Armut und globaler Ungerechtigkeit zentrale Elemente seiner Entwicklungsarbeit. Daraus folgt, dass wir nicht glauben, dass globale Sicherheit ohne Veränderungen im Norden erreichbar sein wird.“ 33 Dies erfordert aber eine systemkritische Fokussierung der Entwicklungspolitik, die es sich zur Hauptaufgabe macht, den im Norden liegenden Armutsursachen durch eine Veränderung der neoliberalen Weltwirtschaftsordnung entgegenzuarbeiten. Eine solche Kehrtwende wäre die einzig richtige Schlussfolgerung aus den gravierenden Problemen, vor denen die Welt heute steht. Da aber generell keinerlei Bereitschaft existiert, die Spielregeln der Weltwirtschaft zu verändern, setzen die westlichen Industrienationen immer stärker auf militärische Mittel, um die systemisch produzierten Armutskonflikte notdürftig unter Kontrolle zu halten und perpetuieren damit den Teufelskreis aus Armut und Gewalt. Umso schlimmer ist es, dass die Entwicklungspolitik immer mehr zum Komplizen dieser Politik zu werden droht und sich hierdurch zunehmend diskreditiert.

Anmerkungen

1) Vgl. zu diesem Thema ausführlich Wagner, Jürgen (2007): Mit Sicherheit keine Entwicklung! Die Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit, Studie im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, http://dokumente.linksfraktion.net/pdfmdb/7796242967.pdf (20.04.2008).

2) Hamann, Birte (2005): Sicherheit und Entwicklung. Veränderungen in der Entwicklungspolitik der USA und Deutschlands angesichts neuer Sicherheitsbedrohungen, Kölner Arbeitspapiere zur internationalen Politik, Nr. 30, S.3.

3) Vgl. Collier, Paul (2003): Breaking the conflict trap, World Bank Policy Research Report, S.53; vgl. auch UN Millennium Project (2005): Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals. New York, http://www.who.int/hdp/publications/4b.pdf, S.8 (10.04.2008); Congressional Budget Office (1994): Enhancing US Security Through Foreign Aid, Washington, DC; Brzoska, Michael (2006): Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben?, Zeit Online 17. August 2006; eine Literaturübersicht findet sich bei Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung (2008): Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel: Sicherheitsrisiko Klimawandel. Heidelberg, S.36ff.

4) Thumann, Jürgen R. (2005): Interrelation of Economic Development and Security, Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 12.2.2005.

5) Europäische Sicherheitsstrategie: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt, Brüssel 2003, S.2.

6) Vgl. Der Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik, Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommission (2006/C 46/01); OECD: Principles for Good International Engagement in Fragile States, April 2007.

7) Klingbiel, Stephan & Roehder, Katja: Das entwicklungspolitisch-militärische Verhältnis: Der Beginn einer neuen Allianz?, DIE Analysen und Stellungnahmen 1/2004, S.1.

8) Vgl. OECD erweitert Entwicklungshilfe-Kriterien, in: Entwicklung & Zusammenarbeit 6/2004; Sicherheit: ODA-Kriterien erweitert, in: Entwicklung & Zusammenarbeit 5/2005.

9) Roehder, Katja (2005): Die NATO als Kooperationspartner für die Entwicklungspolitik. Neue Konzeptionen zivil-militärischer Zusammenarbeit, 1. Dezember 2005, La Redoute, Bonn, S.17.

10) Vgl. zu den Kosten die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Hänsel, Monika Knoche, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Bundestags-Drucksache 16/3385).

11) Vgl. hierzu ausführlich Wagner, Fußnote 1, S.50ff.

12) So forderte der heutige NATO-Generalssekretär Jaap de Hoop Scheffer in seiner damaligen Funktion als niederländischer Außenminister bereits im Jahr 2003, im Rahmen der Sicherheitssektorreform u.a. die Lieferung von Militärkomponenten als ODA anzuerkennen. Vgl. de Hoop Scheffer/Kamp/van Ardenne-van der Hoeven: The Netherlands and crisis management; three issues of current interest, Den Haag 29.10.2003, http://tinyurl.com/6erghx (17.04.2007).

13) Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, S.5.

14) European Union, Council Secretariat: EU support to the African Union Mission in Darfur - AMIS, Fact Sheet, January 2008, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/080109-Factsheet8-AMISII.pdf (21.04.2008).

15) Wadle, Sebastian & Schukraft, Corina (2005): Die Peace Facility for Africa - Europas Antwort auf die Krisen in Afrika?, in: Internationale Politik und Gesellschaft 4/2005, S.99-119, hier S.105.

16) Kinzel, Wolf (2007): Afrikanische Sicherheitsarchitektur - ein aktueller Überblick, GIGA Fokus Nr. 1/2007.

17) Vgl. European Union, Council Secretariat (2008): EU Military Operation in Eastern Chad and North Eastern Central African Republic (EUFOR Tchad/RCA), Background, January 2008, http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/en/misc/98416.pdf (18.04.2008).

18) Mitteilung der Kommission an den Rat: Der EU-Afrika-Dialog, Brüssel, den 23.6.2003 KOM(2003) 316 endgültig, S.10.

19) Bis zum Jahr 2005 waren die diesbezüglichen DAC-Richtlinien ungenau formuliert. Seither gilt ein Beschluss der DAC-Arbeitsgruppe Statistik, wonach die multilateralen Beiträge zum UNO-Kernbudget für Friedensmissionen ab dem Berichtsjahr 2005 zu 6% als ODA anrechenbar sind.

20) Mollet, Howard (2004): Should Aid Finance Southern Peacekeeping?, the networker Dezember 2004.

21) Zu den Kritikern gehörten damals noch Österreich, Dänemark, Irland, Italien, Japan, Luxemburg, Niederlande, Schweiz, Großbritannien und die Europäische Kommission (Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, 22-Mar-2007, S.5).

22) Draft Summary Record of the 11th Meeting of the CPDC Network, DCD/DAC/CPDC//M(2007)1/PROV, 25 Mai 2007.

23) Vgl. ODA Eligibility of Conflict, Peace and Security Expenditures, High Level Meeting, 3-4 April 2007, DCD/DAC(2007)23/REV1, S.5.

24) Brzoska, Michael (2006): Analyse und Empfehlungen zur internationalen Erfassung von sicherheitsrelevanten Ausgaben innerhalb und außerhalb der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA), BICC paper Nr. 53, S.24f.

25) Staatssekretär Hans Winkler bei der EU-Afrikanischen Ministerkonferenz zu Migration und Entwicklung, 22.11.2006, URL: http://tinyurl.com/6yt3to (21.04.2008).

26) Vgl. Pflüger, Tobias: Die angebliche Neutralität der EU-Mission im Tschad ist unglaubwürdig, IMI-Standpunkt 2008/006.

27) Wirbel um Finanzierung der Tschad- Mission, Der Standard, 15.04.2008.

28) Tschad-Einsatz als Entwicklungshilfe: »Mogelpackung«, Der Standard, 15.04.2008.

29) Politstreit: Gilt der Einsatz im Tschad als Entwicklungshilfe?, Die Presse, 15.04.2008.

30) Wirbel um Finanzierung der Tschad- Mission, Der Standard, 15.04.2008.

31) CDU will Bundeswehr aus Entwicklungshilfe-Etat bezahlen, Spiegel Online, 08.09.2006, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,435912,00.html (12.06.2007).

32) EU aid: genuine leadership or misleading figures? An independent analysis of European Governments' aid levels. Joint European NGO Report, CONCORD (April 2006), S.11. Eine Auflistung von sicherheitsrelevanten Ausgaben Österreichs, die bereits heute als ODA abgerechnet werden, findet sich bei OECD: ODA Casebook on Conflict, Peace and Security Activities, DCD/DAC(2007)20/REV1, 13.09.2007, http://www.oecd.org/dataoecd/27/21/39967978.pdf (20.04.2008).

33) CIDSE Study on Security and Development, Reflection Paper, January 2006, S.4.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) und Redakteur von Wissenschaft & Frieden

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/3 Religion als Konfliktfaktor, Seite