W&F 2010/3

Pakistan im Visier

von Graham Usher

Unter dem Kürzel »Afpak« ist die Regionalisierung des Afghanistan-Krieges in der Strategiedebatte der USA bekannt geworden; tatsächlich hat der Krieg zahlreiche regionale Dimensionen und verschiedene Akteure versuchen, die Entwicklung in Afghanistan zu beeinflussen. Dabei ist – wie am Beispiel Pakistans gezeigt wird – das Verhältnis zu den Taliban und aktuellen Entwicklungen, wie etwa dem möglichen Rückzug der US- und NATO-Truppen, von einer Vielzahl von Faktoren abhängig.

Pakistan steht im Mittelpunkt des Plans von Präsident Barack Obama, den US-Krieg in Afghanistan zu beruhigen. Wenn es – wie er beteuert – das „allumfassende Ziel“ ist, „Al Qaeda in Afghanistan zu stören, zu demontieren und zu besiegen“, dann wird der Krieg vor allem in Pakistan geführt werden. Denn in Afghanistan ist Al Qaeda mit seinen weniger als einhundert Kämpfern schon vor längerem besiegt worden.

Und wenn es das Ziel des Militärs ist, die Taliban zu schwächen, dann wird der Kampf vor allem im Süden Afghanistans und an seinen südlichen Grenzen zu Pakistan, dem paschtunischen Kernland des Aufstandes, geführt werden. Wenn die Taliban-Guerilla bloß die Grenze nach Pakistan überschreitet, ist Islamabad als Haltelinie gefordert, die eine Neuformierung der Taliban verhindert und diese stattdessen festsetzt und zerschlägt. Geht es nach den Visionen, die US-General David Petraeus, Kommandierender des US-Zentralkommandos CENTCOM, gegenüber dem US-Kongress formuliert hat, dann sollen die pakistanischen Armee und Sicherheitsdienste als „Fanghandschuh oder als Amboss“ für den US-amerikanischen Werfer bzw. Hammer dienen.

Pakistan allerdings ist geneigt, weder die eine noch die andere Rolle zu übernehmen. Das militärische Establishment des Landes steht Obamas Truppenverstärkung (»surge«) in Afghanistan ablehnend gegenüber, weil es fürchtet, dass die Talibankämpfer dadurch tatsächlich über die Grenze getrieben werden, wo sie sich einem Talibanaufstand auf pakistanischem Gebiet anschließen würden, in den bereits jetzt 200.000 pakistanische Soldaten entlang der Grenze zu Afghanistan verstrickt sind. Pakistans belagerte Zivilregierung will auch keinen Beginn des Rückzugs der US-Truppen im Juli 2011, wie Obama es angekündigt hat. Wie langsam auch immer die Reduzierung stattfinden würde – die Regierung weiß, dass mit dem Abzug der USA aus Afghanistan auch der besondere Status Pakistans als Frontstaat verschwände – und damit auch die damit verbundene Freigebigkeit. Und die Bevölkerung Pakistans lehnt sowohl die Truppenaufstockung als auch den Rückzug ab. Während die Klugen unter ihnen anerkennen, dass sich Pakistan einer im eigenen Land entstandenen islamistischen Rebellion in den Stammesgebieten und in der nordwestlichen Grenzprovinz gegenübersieht, wissen die meisten, dass die historische Ursache ihres Konflikts in der elendigen 30-jährigen Verwicklung des US-Militärs wie der pakistanischen Streitkräfte in die Verhältnisse in Afghanistan zu finden ist.

Bevölkerung, Regierung und Militär teilen die Interpretation, dass Obamas kürzliche Attacke auf die Taliban die Anerkennung der US-Niederlage ist. Für einige ist es zudem die Rehabilitierung der pakistanischen Militärstrategie gegenüber Afghanistan, nachdem General Pervez Musharraf dazu gezwungen worden war, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im »Kampf gegen den Terror« die Seiten zu wechseln.

Die Strategie bestand in selektiver Aufstandsbekämpfung. Auf Drängen der USA haben Agenten der Armee und der Geheimdienste Jagd auf Al Qaeda gemacht und der CIA bzw. den Visieren von »Predator«-Drohnen eine große Zahl von Flüchtlingen und Verdächtigen – aber auch etliche einheimische Gegner, die nichts mit Al Qaeda zu tun haben – ausgeliefert. Der bekannteste Gefangene ist Khalid Sheikh Mohammed, der angebliche Vordenker der Anschläge vom 11. September, den die Obama-Administration vor ein Zivilgericht in New York stellen möchte. Im Jahr 2009 hat die Armee – in einer verspäteten Offenbarung von Eigeninteresse – den Kampf mit den pakistanischen Taliban und anderen mit diesen kooperierenden sunnitischen Jihad-Gruppen in deren neuen »Emiraten« in Swat, Bajaur und Südwasiristan gesucht, also in jenen Gebieten, die Obama als das Epizentrum des gewaltsamen, von Al Qaeda praktizierten Extremismus bezeichnet hat. Als Vergeltung und in Erinnerung an Al Qaeda im Irak richten diese Gruppen in pakistanischen Städten wie Peschawar Massaker an.

Allerdings hat die Armee niemals die afghanischen Taliban und deren Anführer Mullah Omar verfolgt. Auch hat sie nie mit den afghanischen Taliban verbündeten Kommandeuren wie Jalaluddin und Sirajuddin Haqqani oder Gulbuddin Hekmatjar zugesetzt, deren Bataillone sich in Balutschistan und Stammesgebieten wie Nordwasiristan aufhalten. Diese Milizen bekämpfen die US- und NATO-Streitkräfte in Afghanistan, haben aber kein Interesse daran bzw. lehnen es explizit ab, den Aufstand auf Pakistan auszuweiten. Die Armee hat stattdessen – wie der pakistanische Militärexperte Ayesha Siddiqa formuliert – vielfältige Beziehungen zu diesen »pro-pakistanischen« Gruppen als „eine Art Versicherung“ gepflegt. „Das Militär hat vor 9/11 in den Taliban einen Aktivposten gesehen. Warum sollte es diesen zerstören, besonders wenn die ausländischen Truppen abziehen und in Afghanistan ein Machtvakuum entsteht?“

In den kommenden 18 Monaten wird Washington enormen Druck auf Islamabad ausüben, um eine Änderung dieses Kalkül zu erreichen. Nur wenige pakistanische Beobachter gehen davon aus, dass die Armee und ihre Geheimdienste dies können oder wollen. Diese gutbezahlten Klienten der USA wollen ihre Förderer nicht unbedingt bluten sehen in Afghanistan, aber sie sind widerspenstig gegenüber dessen Mahnungen, weil kein Staat zu Handlungen gezwungen werden kann, die er als selbstzerstörerisch ansieht. Kein pakistanischer General glaubt, dass Obamas Truppenaufstockung die Taliban innerhalb von 18 Monaten zum Rückzug zwingen kann, wo dies doch US- und NATO-Truppen seit acht Jahren vergeblich versuchten haben. Und sobald im Endergebnis die Auseinandersetzung von Washington für beendet erklärt wird, benötigt Pakistan die früheren Mitspieler, die afghanischen Taliban, die Haqqanis und Hekmatjar, um den Kampf in dem nach-amerikanischen afghanischen Kriegen aufzunehmen.

Eine Front zuviel

Während Obama sehr klar formulierte, was in Afghanistan zu tun sei, blieb er anlässlich der Verkündung der Truppenaufstockung vor Kadetten in West Point am 1. Dezember 2009 bezüglich Pakistan recht bedeckt. Er konterte den Vorwurf, die USA seien – wie bereits nach dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan 1989 – wieder dabei, die Region Hals über Kopf zu verlassen, mit einem Bekenntnis zur Fortsetzung der Engagements zugunsten Islamabads. „Amerika wird ein starker Unterstützer der pakistanischen Sicherheit und Prosperität auch noch lange nach der Einstellung der Kampfhandlungen bleiben“, betonte er. Aber Washington werde „keine sicheren Rückzugsorte für Terroristen, deren Aufenthalt bekannt und deren Ziele eindeutig seien, tolerieren“, fügte er mit Blick auf die Praxis Pakistans, einige radikale Islamisten zu bekämpfen, andere jedoch ungestört zu lassen, hinzu.

Vor dem Senatskomitee für die Streitkräfte äußerte sich Außenministerin Hillary Clinton am 2. Dezember 2009 über die neue Politik hingegen deutlicher. „Es ist schwierig, die verschiedenen Gruppen, die in Pakistan operieren und die alle – so denken wir – in der einen oder anderen Weise mit Al Qaeda in Verbindung stehen, auseinander zu halten, einige auszulassen und andere zu verfolgen“, sagte sie. „Es wird unser fortgesetztes Bemühen sein (…), zu einer Situation zu kommen, in der die Pakistani mehr gegen all die aufständischen terroristischen Gruppen tun, die sie bedrohen, die uns und die afghanische Bevölkerung in Afghanistan bedrohen sowie andere Nachbarn in der Region.“

Um zu einer solchen Situation zu kommen, schlagen die USA einen Deal vor. Die Obama-Administration wird Islamabad anbieten, dass die US-Hilfs- und Handelszusagen „unbegrenztes Potential“ haben und dass ihre Diplomaten dabei helfen werden, die Spannungen mit Indien um die umstrittene Region Kaschmir und bezüglich der Anschläge in Mumbai 2008, bei denen New Delhi von einer Beteiligung pakistanischer Stellen ausgeht, zu reduzieren. Im Gegenzug wird von der pakistanischen Armee erwartet, dass sie gegen die Rückzugsorte der afghanischen Taliban und mit ihr verbündeter Aufständischer auf dem eigenen Staatsgebiet vorgeht – oder US-Spezialeinheiten die Möglichkeit dazu gibt. Ein pakistanischer Offizieller interpretierte die Botschaft der Obama-Administration so: „Wenn pakistanische Hilfe nicht stattfindet, müssen die USA es selbst in die Hand nehmen.“

Die deutliche Sprache ist kein Bluff. Obama hat bereits einen neuen CIA-Plan bestätigt, demzufolge das Einsatzgebiet der »Predator«-Drohnen innerhalb Pakistans von den Stammesgebieten auf die »befriedeten« Regionen wie Balutschistan ausgedehnt wird, wo Mullah Omar angeblich zeitweise Zuflucht sucht. Der Plan sieht bei der Verfolgung von Taliban- und/oder Al Qaeda-Kämpfern zudem Kommando-Aktionen auf pakistanischem Gebiet vor. Während seiner bisherigen Amtszeit hat Obama mehr Angriffe mit Drohnen autorisiert und dadurch sind mehr pakistanische, afghanische oder andere Menschen innerhalb Pakistans ums Leben gekommen als in den acht Jahren von Präsident George W. Bush. Einige dieser Operationen – gewöhnlich Mordanschläge auf vermutete Al Qaeda-Flüchtige oder ausländische Kämpfer – wurden in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst durchgeführt.

Andere hingegen nicht. Zahlreiche Raketenangriffe haben zudem ZivilistInnen getötet, was zu einer weiteren Intensivierung der ohnehin in vielen Teilen des Landes bereits anzutreffenden anti-amerikanischen Stimmung geführt hat. In der Öffentlichkeit verurteilt die Armee die Drohnen-Angriffe als kontraproduktiv bezüglich des Versuchs der Spaltung der Militanten von den Stämmen im Grenzgebiet. Im privaten Gespräch ätzen die Generäle, dass jede »Hellfire«-Rakete, die in Süd- und Nord-Wasiristan die Erde umgräbt, die Aussagen der radikalen Islamisten (und anderer Oppositionskräfte) bestätigen, dass Pakistan nur ein Handlanger im »Krieg der USA« ist.

Trotz der tatsächlichen und stillschweigenden Drohungen aus Washington ist die Armee nicht besonders willens, mehr als das zu tun, was bisher bereits getan wird. Ein Grund dafür liegt in der Geschichte. Unter Druck der USA drang das pakistanische Militär zunächst 2004 in Süd-Wasiristan ein, um Flüchtige der Al Qaeda zu jagen. Damit begann eine vierjährige Serie von Offensiven, die von »Friedensabkommen« mit Stämmen unterbrochen wurde, die mit den pakistanischen Taliban kooperierten. Diese »Stammeskampagnen« waren ein Desaster. Sie führten lediglich dazu, dass die pakistanischen Taliban von einem Ableger des großen afghanischen Bruders zu einer lebendigen, mit Al Qaeda verbündeten Stammesbewegung wurden, die im Jahr 2008 etwa 30.000 Männer unter Waffen hatte und den Großteil der Stammesgebiete und weite Gebiete der ruhigen nordwestlichen Grenzprovinz kontrollierte.

Der Armee gelang es 2009, einen Teil dieses Gebietes durch Counterinsurgency-Kampagnen zurückzugewinnen. Einerseits verfügt sie über Waffenüberlegenheit, aber sie hat zugleich Mühe darauf verwandt, zwischen jenen Stammesgebieten zu unterscheiden, die pakistanische Taliban beherbergen, die dem Staat feindlich gegenüberstehen, und jenen, die afghanischen Taliban Zuflucht ermöglichen, die gegen US- und NATO-Truppen kämpfen, gegenüber Islamabad jedoch untätig sind. Geht es nach Obama, dann soll Pakistan auf diese Unterscheidung verzichten.

Es ist eine Front zu viel, sagt der Armeesprecher, Generalmajor Athar Abbas. „Wenn wir es mit allen Stammesmilizen aufnehmen, einschließlich den Haqqanis und anderen pro-afghanischen Talibangruppen, und die USA das Land morgen verlassen, werden wir uns allein einem Aufstand der Stämme gegenüber sehen. Wir möchten nicht, dass ihr kurzfristiger Vorteil unsere langfristige Pein wird.“

Einkreisung

Es gibt weitere Gründe für die Zurückhaltung der Armee, sich an Obamas Truppenaufstockung zu beteiligen. Historisch hat die Armee sich mit den afghanischen Taliban verbündet, um pakistanische Einflussnahme in Afghanistan zu ermöglichen, insbesondere im paschtunischen Gürtel, der durch beide Länder verläuft. Aus diesem Eigeninteresse hat Islamabad die Taliban zwischen 1996 und 2001 unterstützt, als die Miliz eine de facto Regierung errichtete, die den Großteil Afghanistans kontrollierte. Daher rühren die noch immer existierenden Kontakte mit den afghanischen Taliban, den Haqqanis und Hekamtjar. Es ist illusorisch anzunehmen, diese Kontakte würden von der Armee angesichts eines absehbaren Rückzugs der USA aufgegeben. Die Verbindungen werden enger, nicht nur um der Truppenaufstockung zu widerstehen, sondern auch um den Einfluss der Armee nach dem US-Rückzug zu stärken.

Soweit es das pakistanische Militär betrifft, so sieht es sich in Afghanistan zwei Gegnern gegenüber – und das sind weder die Taliban noch Al Qaeda. Ein Feind ist das Regime von Präsident Hamid Karzai, insbesondere seine entstehenden militärischen und Geheimdienstabteilungen. Diese Kräfte werden zumeist von tadschikischen Warlords kommandiert, die früher zur »Nordallianz« gehörten, ein Konglomerat von anti-Taliban-Milizen, das 2001 gemeinsam mit US-Spezialeinheiten die Taliban-Regierung gestürzt hat. Die Pakistani betrachten die Tadschiken als feindlich und aufständisch gegenüber den sich beidseits der Grenze erstreckenden paschtunischen Gebieten, von denen die Karzai-Regierung glaubt, sie vielen zur Gänze unter afghanische Souveränität. Zudem macht die Armee die von Tadschiken dominierten Geheimdienste für einen Teil der Unruhen in Pakistan verantwortlich.

Der zweite Gegner ist Indien, mit dem Pakistan in einem lang-dauernden Konflikt verwickelt ist. Der Einfluss Indiens in Afghanistan ist – in den Worten eines in Kabul ansässigen Botschafters – „strategisch und weitreichend“, so dass Pakistan gebührend alarmiert ist. Die Regierung in Neu Delhi war der regionale Rückhalt der »Nordallianz« und ist nun Karzais stärkster Verbündeter in Südasien. Indien ist einer der größten ausländischen Kreditgeber Afghanistans und hat zur Ausbildung der Streitkräfte beigetragen. Zusammen mit dem Iran hat Indien in Westafghanistan ein Straßennetz gebaut, das Kabul Zugang zum Persischen Golf ermöglicht, ohne pakistanische Häfen nutzen zu müssen – Kapazitäten also, die Islamabad als lebensnotwendig für seine ökonomische Zukunft betrachtet.

Angesichts der fortgesetzten Stationierung des Großteils der Streitkräfte an der Ostgrenze zu Indien und eines nicht beigelegten Konflikts in Kaschmir ist es der Albtraum Islamabads, dass indische und pro-indische afghanische Streitkräfte die Lücke füllen, die auf der westlichen Flanke durch den Abzug der US- und NATO-Truppen entstehen wird. „Wir sind besorgt über das übertriebene Engagement Indiens in Afghanistan“, sagt Abbas. „Wir betrachten es als Einkreisung. Was wird morgen geschehen, wenn amerikanische Ausbilder durch indische ersetzt werden? Die Führung in Afghanistan ist vollständig dominiert durch die Indien-freundliche »Nordallianz«. Deren Angliederung an Indien betrachten wir mit großer Sorge. Wir sehen darin ein zukünftiges Zwei-Fronten-Szenario.“

Historisch gesehen haben bewaffnete Einheiten ethnischer Gruppen – teilweise auf Geheiß von Regionalmächten – Machtvakua in Afghanistan gefüllt. Die afghanischen Taliban sind die stärkste Kampftruppe unter den Paschtunen, der größten ethnischen Gruppe in Afghanistan. Sie sind in der Vergangenheit von Pakistan gegen tadschikische, hasarische und usbekische Kämpfer, die wiederum von Indien, dem Iran und Russland unterstützt wurden, gefördert worden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Machtbalance in Zukunft umkippt noch dass die Loyalitäten sich verschieben werden, sagt Ahmed Rashid, ein altgedienter Analytiker der Situation Afghanistans. „Liegt es im Interesse Pakistans, die afghanischen Taliban gegen sich aufzubringen, wenn diese in den kommenden zwei bis drei Jahren wieder an die Macht kommen?“ fragt er.

Wiederholt sich Geschichte?

Gibt es irgendeine Hoffnung darauf, dass sich eine düstere Wiederholung der afghanischen Geschichte vermeiden lässt? Statt die Taliban in Afghanistan zu schwächen, könnten USA und NATO anfangen, mit ihnen zu verhandeln. Die Grundlage der Gespräche ist klar: Rückzug gegen die Zusicherung der Taliban, die Macht mit anderen afghanischen Gruppen zu teilen und transnationale Akteure wie Al Qaeda daran zu hindern, von afghanischem Territorium aus andere anzugreifen, sei es in der Nähe oder in der Ferne.

Pakistanische Regierungen haben diese Linie seit den späten 1990er Jahren angeboten; die Logik von Verhandlungen beinhaltet, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Taliban und Al Qaeda weniger ideologischer Art ist, sondern von materiellen oder taktischen Interessen bestimmt ist, und dass die Taliban im Kern eine paschtunische Bewegung und keine islamistische sind. Als Gegenleistung für eine Beteiligung an der Macht würden sich die Anführer der Taliban gegen ihre jihadistischen Verbündeten wenden, argumentiert Asif Ahmed Ali, ein ehemaliger pakistanischer Außenminister: „Wir müssen mit den Taliban sprechen. Es gibt keinen Frieden in Pakistan und in Afghanistan ohne solche Gespräche. Die Taliban sind die einzige Kraft, die Al Qaeda vertreiben kann.“

Ein nationaler Pakt, der den Taliban und anderen afghanischen Gruppen gerecht würde, könnte in ein umfassenderes regionales Abkommen eingebettet werden, bei dem alle Nachbarn Afghanistans ihre Verbündeten bzw. die ihnen nahestehenden Gruppen dazu drängen müssten, einer fairen Vertretung in einem »neutralen« afghanischen Gemeinwesen zuzustimmen. Iran, Saudi-Arabien, Russland, China und die zentralasiatischen Republiken würden alle Einfluss auf ein solches Abkommen haben, aber die entscheidenden Akteure sind Pakistan und Indien.

Zur Beendigung der Stellvertreterkriege in Afghanistan wäre es notwendig, dass Islamabad seine Unterstützung jihadistischer Gruppen beendet, die Indien und Neu Delhi angreifen, und zu ernsthaften Verhandlungen zur Beendigung des Kaschmir-Konflikts findet. Bewegung zugunsten eines indisch-pakistanischen Friedens könnte der Schlüssel für eine Reduzierung der autochthonen Kämpfe in Afghanistan sein. Frieden zwischen den beiden bedeutendsten südasiatischen Mächten ist tatsächlich, wie Obama JournalistInnen im Rahmen eines Mittagessens im Weißen Haus sagte, „das Wichtigste für eine lang andauernde Stabilität in der Region“.

Leider hat der Präsident diese Einsicht im Rahmen seiner Rede in West Point nicht weiter ausgeführt, die die Bedeutung einer regionalen Perspektive für das Afghanistanproblem kaum erwähnte. Auch hat er bisher keine ernsthaften Aufrufe an die Taliban zu Verhandlungen gerichtet, sondern den Olivenzweig nur jenen gereicht, die „der Gewalt abschwören und die Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren“ – Bedingungen, die die Mehrheit der Minister Karsais, die Gesamtheit seiner bewaffneten Verbände und die Mehrheit des US- und NATO-Militärs ausschließen.

Stattdessen scheint Obama in Afghanistan – ganz wie Bush im Irak – ganz auf eine Erhöhung der Truppenzahl und der Waffen zu vertrauen, um eine Phase im Kampf zu ermöglichen, die für die Installierung eines Regimes nötig ist, das in den kommenden regionalen Kriegen für die Interessen Washingtons kämpfen wird. Im schlechtesten Fall kann die Truppenaufstockung Afghanistan jene Art intergruppaler Metzelei hinterlassen, die sich bereits in den 1990er Jahren als Inkubator für Al Qaeda erwiesen hat. Der günstigste Fall könnte darin bestehen, dass durch die Truppenzuführung „die Taliban gezwungen werden, sich mit den USA auf einen Abzug zu verständigen“, meint der Pakistanexperte Shuja Nawaz. Aber Verhandlungen könnten ein solches Ergebnis rascher bringen als eine Fortsetzung des Krieges.

In jedem Fall erkennt das pakistanische Militär derzeit nichts, das es zu einer Revision der Strategie selektiver Aufstandsbekämpfung veranlassen könnte. Die Armee wird nicht der »Amboss« sein, gegen den der US-»Hammer« schlägt, um die afghanischen Taliban zu zerschlagen. Sie könnte zwar als »Fanghandschuh« fungieren, aber nicht in dem von Petraeus metaphorisch gemeinten Sinne. Im »Fanghandschuh« ruht der Ball, nachdem der gegnerische Schlagmann ausgeholt hat; aber viel öfter nimmt der Fänger den Ball heraus und wift ihn direkt zum Werfer zurück.

Graham Usher ist Mitherausgeber des »Middle East Report«.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2010/3 Afghanistan: Krieg ohne Ende, Seite 18–21