Partnerschaft oder Konfrontation
George W. Bushs Chinapolitik
von Jörn Brömmelhörster
Der Wechsel von Demokraten zu Republikanern wie auch von Republikanern zu Demokraten beginnt in den USA in der Regel mit einer Revision der bisherigen Politiken. Von der alten Regierung erlassene »policies« werden aufgekündigt und ruhen, bis neue formuliert sind. Mit dem Regierungsantritt von George W. Bush am 20. Januar 2001 war es in Bezug auf China nicht anders. Die unter dem Demokraten Clinton erlassene China-Politik, die eine strategische Partnerschaft vorsah, wird erst einmal überarbeitet. Ob eine gänzlich andere Politik das Ergebnis sein wird, ist noch nicht entschieden. China, das steht in jedem Fall bereits fest, wird für die USA politisch, ökonomisch und militärisch immer wichtiger. Umso schwieriger ist es auch, eine Politik zu formulieren, die allen Facetten gleichmäßig gerecht wird. Entscheidend ist, dass das Wechselspiel zwischen US-amerikanischer Missionssucht auf der einen Seite und chinesischem Stolz auf der anderen Seite nicht aus der Balance gerät.
In den ersten Wochen der zweiten Bush-Administration haben sich außenpolitisch besonders die Militärs Gehör verschafft. Verteidigungsminister Rumsfeld kämpft weiterhin für die Umsetzung eines Raketenschutzschildes, auch wird an einer radikalen Neufassung der bisherigen Militärdoktrin gearbeitet; statt des bisherigen »Zwei-Kriege-Prinzips« soll der strategische Fokus stärker nach Asien ausgerichtet werden. Bushs kritische Haltung zu China führte zu der Festsetzung regelmäßiger Spionageflüge vor der chinesischen Küste. Weltweit wurde dieses Vorgehen zur Schau gestellt, als China sich dieser Politik der Stärke widersetzte, was letztlich zum Verlust eines chinesischen Abfangjägers, aber auch zur Notlandung eines US-Spionageflugzeugs führte. Diese kritische Situation wurde, und das sei an dieser Stelle vorweggeschickt, besonnen gelöst und führte nicht zur Eskalation.
Was leitet die Chinapolitik der USA?
Gemeinhin werden Politiken durch Fakten, Verträge und Zielvorstellungen geprägt. Die Fakten, die während der Clinton-Regierung Geltung erlangten, trugen der gewachsenen Rolle Chinas seit Beendigung des Kalten Krieges Rechnung. Mit über 1,2 Mrd. Menschen ist China das bevölkerungsreichste Land der Erde und besitzt nach Russland und Kanada die größte Landmasse. Zudem verfügt China über ein Nukleararsenal und ist eine aufstrebende Militärmacht, der bezüglich regionaler Stabilität eine Schlüsselrolle zufällt. Darüber hinaus gehört China zu den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und besitzt ein Vetorecht, es kann damit wichtige Resolutionen, z.B. zu internationalen Militäreinsätzen oder zu regionalen Konflikten, unterstützen oder zu Fall zu bringen. Letztlich weist China seit seiner Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre ein beispielloses Wachstum auf; im beginnenden 21. Jahrhundert wird es zu den wichtigsten Wirtschaftsmächten aufsteigen (U.S. Department of State, 1997: 1).
Vertragliche Bindungen zu China wurden 1972 mit dem sog. Shanghai Communique eingeleitet. Hiermit nahm die USA die Ein-China-Politik an, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass »beide Chinas« jenseits der Taiwan-Straße nur ein (vereinigtes) China kennen und dass Taiwan Teil dieses Gesamtgebildes ist. Mit anderen Worten wurde von Präsident Nixon eine Weltsicht angenommen, die in Beijing und Taipeh sehr unterschiedlich verstanden wird. 1979, nachdem China sich der Öffnungspolitik verschrieben hatte, wurde auch die Beziehung zu Beijing von den Vereinigten Staaten neu bestimmt. Gebunden durch die Ein-China-Politik brachen die USA die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab und nahmen sie zu Beijing auf. In einem gemeinsamen Communiqué erklärten sich China und die USA damit einverstanden, dass die USA auch weiterhin wirtschaftliche, kulturelle und andere inoffizielle Kontakte zu Taiwan unterhalten. In der Folge rückte die Volksrepublik China anstelle der Republik China auf Taiwan als Ständiges Mitglied in den Sicherheitsrates der Vereinten Nationen auf.
Präsident Clinton umfasste seine Zielvorstellungen im September 1993 als eine Politik des »comprehensive engagement«. Ziel waren konstruktive Beziehungen zu einem starken, stabilen, offenen, wohlhabenden China, welches in der internationalen Gemeinschaft eingebunden ist und sich als verantwortungsvolles Mitglied verhält. Erstens sollte eine konstruktive Teilnahme der Chinesen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erreicht werden um der Beilegung regionaler Konflikte und der weltweiten Förderung von Frieden und Sicherheit zu dienen. Zweitens sollte eine aktive Teilnahme der Chinesen an multilateralen Abkommen gegen die Verbreitung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen bewirkt werden. Drittens ging es um die Förderung von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, die sich mit US-Interessen decken. Viertens sind internationale Standards von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit zu respektieren. Fünftens wird die Kooperation bei globalen Themen gesucht, insbesondere im Kampf gegen Menschen- und Rauschgiftschmuggel sowie im Schutz der Umwelt (U.S. Department of State, 1997: 2f).
Neben diesen speziell auf China gerichteten Vorstellungen ist die Kenntnis der US-Sicherheitspolitik sehr wichtig. Traditionell bedeutet Sicherheitspolitik »Verteidigungspolitik«, die als militärische Vorkehrungen eines Staates zum Schutze seines Territoriums und seiner Bürger gegen Bedrohung und Waffengewalt von außen verstanden wird. Sicherheit wird in vielen Staaten mittlerweile weiter gefasst, so dass sich die staatliche Sicherheit nicht nur auf das eigene Gebiet beschränkt. Seit Beendigung des Kalten Krieges gehen die sicherheitspolitischen Vorstellungen der USA am weitesten. Dazu gehören die Erhöhung der Sicherheit (enhance security), die Wohlstandsförderung (promote prosperity) und die Förderung der Demokratie (promote democracy). In diesem Beispiel wird nicht nur deutlich, um was für breit gefasste Anliegen das US-amerikanische Sicherheitsbedürfnis kreist, sondern auch dass viele dieser Ziele weit entfernt vom Mutterland umzusetzen sind. Bis 1994 hieß das zweite Ziel nicht Wohlstandsförderung im globalen Rahmen, sondern Wohlstandsförderung im Inland (prosperity at home)! (The White House, 1997) Es ist in diesem Zusammenhang nicht falsch, von einer missionarischen Sicherheitspolitik zu sprechen, deren Umsetzung natürlich dann auf Schwierigkeiten stößt, wenn Länder andere Wertvorstellungen pflegen und wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – Wert auf eigene Wege legen.
Wichtige Ereignisse
In Clintons Amtszeit fielen insbesondere fünf Ereignisse, die Aufschluss über das chinesisch-amerikanische Verhältnis geben. (Der Katalog ließe sich ausweiten, da auch wichtige sicherheitspolitische Resolutionen oder auch Chinas Bemühen um Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation direkt vom US-chinesischen Verhältnis abhängen.)
Ein Ereignis ist das regelmäßige Ritual, ob die Chinesen die Meistbegünstigungsklausel erhalten, um günstiger, d.h. unter normalen Bedingungen, in die Vereinigten Staaten exportieren zu können. In der Clintonzeit wurde die Meistbegünstigung jedes Jahr erteilt, doch gab es wiederholt Probleme, ob eine Gewährung mit anderen US-amerikanischen Interessen verquickt werden sollte oder nicht. Bis 1994 war die Erzielung der Meistbegünstigung auch an Fortschritte zur Einhaltung der Menschenrechte in China geknüpft. Die Genehmigung der Meistbegünstigungsklausel folgte später direkt dem Motto: erst der Handel bzw. der Wirtschaftsaufbau und dann die Menschenrechte.
Sicherheitspolitisch ist zweitens das Vordringen Chinas ins südchinesische Meer beachtenswert, da dieses Gebiet vollständig von China und anteilmäßig von allen Anrainerstaaten beansprucht wird. Für besondere Aufregung sorgte 1995 der Aufbau einer chinesischen Kommunikationsstation auf dem Mischief Reef, das innerhalb der 200-Meilen-Zone vor den Philippinen liegt und ca. 1000 Seemeilen von Chinas Küste entfernt ist. Die Gebiete um die beiden Inselgruppen Spratley und Paracel sind rohstoff- und fischreich und strategisch äußerst wertvoll, da durch sie die direkte Schifffahrtslinie aus der Malakka-Straße zu den japanischen Inseln führt. Unscharfe Grenzziehungen sind häufig Grundlage militärischer Auseinandersetzungen, einer Schaffung von vollendeten Tatsachen wird gegenwärtig in verschiedenen Gesprächs- und Verhandlungsforen (z.B. ASEAN Regional Forum) entgegengewirkt. Für die USA ist die friedliche Beilegung des Territorialdisputs im südchinesischen Meer neben der Eindämmung der nordkoreanischen Nukleartechnologie eines der wichtigsten sicherheitspolitischen Ziele in Ostasien.
Das dritte Ereignis war der Besuch des taiwanesischen Staatschefs Lee Teng-hui 1996 in den USA, wo er seinen ehemaligen Studienort, die Universität Cornell, privat besuchte. Für die Chinesen war dieser Besuch ein Affront gegen die Ein-China-Politik. Die VR China setzte daraufhin ein umfangreiches Manöver an, das zu Hafenschließungen auf Taiwan führte. Die USA antworteten auf diese Überreaktion mit einer Demonstration der Stärke. Sie entsandten zwei Flugzeugträger, von denen einer auch die Taiwanstraße durchfuhr. Für China war es ein untrügliches Signal, dass militärisches Vorgehen, welches die regionale Stabilität in diesem Raum gefährdet, nicht teilnahmslos von den USA hingenommen wird.
Ein drittes, äußerst kontrovers diskutiertes Ereignis war die US-amerikanische Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad während des Kosovo-Krieges. Die Chinesen wandten sich gegen eine Intervention, weil diese für sie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens bedeutete. Auch gehörte China zu den Ländern, die die Jugoslawien auferlegten Embargos umgangen haben. Laut amerikanischer Auffassung war die Zerstörung der chinesischen Botschaft ein Versehen, da Karten vertauscht wurden. Fakt ist allerdings auch, dass es sich um »chirurgische« Treffer handelte, die die Kommunikationszentrale der Botschaft zielgenau zerstörten. Falls es Absicht war, dann war es sehr gefährlich, denn in der Geschichte wurden schon durch kleinere Ereignisse größere Konflikte ausgelöst. Die Protestwelle in China nach der Bombardierung zeigte, wie schnell ein Anti-Amerikanismus dort eine Massenbasis finden kann.
Das wohl wichtigste Ereignis während der Amtszeit Clintons war die Erkenntnis, dass China die USA massiv und erfolgreich nach Waffentechnologien ausspioniert hat. Für China sind diese Erkenntnisse sehr wichtig, da das Land in den meisten Technologiebereichen den Vereinigten Staaten 20 bis 30 Jahre hinterher hängt (Godwin, 1997: 39, Cox Report, 1999). Für die USA kam das Ausmaß der Spionage überraschend, es wurde erst 1995 durch einen chinesischen Überläufer bekannt. China hat z.B. Zugang zum Design von kleineren Waffenköpfen erhalten. Mit diesen Erkenntnissen lassen sich Technologien entwickeln, die Abwehrschilde durchbrechen können (Cox Report, 1999: S 72ff). Schon bestehende »pockets of excellence« können somit ausgebaut werden. Es sei in diesem Zusammenhang auch an die UdSSR erinnert, wo 1979 mehr als die Hälfte der Rüstungsprojekte auf Forschungen und Technologien aus dem Westen beruhten (Andrew; Mitrokhin, 1999: S. 284). Das Potenzial für China kann sogar erheblich größer sein, zum einen ist der militärtechnologische Abstand zwischen den beiden Ländern wesentlich größer, zum anderen sind in der Forschungslandschaft der USA besonders viele Chinesen sehr erfolgreich. Ein Großteil der ehemaligen Studenten ist nicht zurückgekehrt und stattdessen US-Staatsbürger geworden. Bedenkt man die perfiden Methoden der Rekrutierung des KGB, dann ist davon auszugehen, dass ein ähnlich autoritäres Einparteienregime wie das der VR China ähnlich vorgeht.
Chinapolitik in der Bush-Welt
Gleich zu Beginn seiner Regierungszeit zeigte Bush, dass er gewillt ist, das Militär zur Machtdemonstration einzusetzen. Nach der Wiederaufnahme von Spionageflügen unmittelbar vor Chinas Küste kam es im April 2001 zu einem Zwischenfall, als ein chinesischer Abfangjäger mit einem US-Aufklärungsflugzeug kollidierte. Das Spionageflugzeug musste auf Hainan notlanden, die US-amerikanische Mannschaft wurde nach Tagen von den Chinesen ausgeliefert und das Flugzeug wurde, nach eingehender Untersuchung, an Bord einer russischen Antonov verladen und erreichte am 4. Juli (!) US-amerikanisches Territorium. Für die USA sind die Flüge nicht nur zur Nachrichtengewinnung wichtig, sie dienen vor allem der Projektion US-amerikanischer Präsenz, um ein eigenmächtiges chinesisches Vordringen besonders in dem Gebiet, in dem es zum Zwischenfall kam, zu unterbinden. Der Konflikt wurde, insgesamt gesehen, besonnen von beiden Seiten gelöst. Der aufkeimende Anti-Amerikanismus, der sich in chinesischen Zeitungsüberschriften wie „Amerikanisches Flugzeug überfällt China“ und besonders durch den Aufbau des abgestürzten chinesischen Piloten, Wang Wei, zum Nationalhelden niederschlug, konnte von der Regierung gut dosiert werden. An einer Eskalation war – und das zeigte der Vorfall – beiden Ländern nicht gelegen.
Positiv für das amerikanisch-chinesiche Verhältnis ist auch zu werten, dass es Beijing nun im zweiten Anlauf geschafft hat, Austragungsort der Olympischen Spiele zu werden. Diese Entscheidung wurde möglich, weil die US-Regierung nicht Menschenrechtsfragen – für die Chinesen »Einmischung in innere Angelegenheiten« – mit der Austragung von olympischen Spielen in den Vordergrund rückte.
Was wird nun so anders werden unter George W. Bush? Eigentlich nicht viel, da die bisherige US-amerikansiche Außenpolitik durch Kontinuität gekennzeichnet ist. Geleitet wird sie selbst in Konfliktphasen primär von Wirtschaftsinteressen (LaFaber, 1994; Hacke, 2000). Der weitere Aufbau des Handels ist auch in Chinas Interesse. Die Chinesen sind sich sehr bewusst, wie erfolgreich Taiwan und die so genannten Übersee-Chinesen sind. Diesen Erfolg will auch China. In den letzten 20 Jahren wuchs Chinas Volkswirtschaft weltweit am schnellsten. Eine Vervierfachung des Pro-Kopf-Einkommens konnte erzielt werden, doch ist der Abstand zum anderen China, zu Taiwan, immer noch beträchtlich. In 2000 erreichte Taiwan ein Pro-Kopf-Einkommen von 13.906 US- Dollar, während es in der VR China bei 872 US-Dollar lag. (Economist Intelligence Unit, May 2001).
Bushs Rhetorik ist allerdings eine andere als Clintons. Die plumpe »schwarz-weiß« oder »good boy-bad boy«-Logik, die letztmals Ronald Reagan umsetzte, findet sich auch bei George W. Bush. Bush propagiert ein starkes Amerika. Ökonomisch und militärisch ist es das schon, doch scheint es Bushs erklärtes Ziel, besonders im militärischen Bereich diesen Abstand weiter zu vergrößern. Auf die USA entfielen in 2000 rd. 38 Prozent der weltweiten Militärausgaben.
Gegen wen richten sich diese gewaltigen Militärausgaben eigentlich, wenn selbst die NATO-Allianz immer größer wird und wenn die NATO bereits heute 63 Prozent der weltweiten Militärausgaben tätigt? In diesem Zusammenhang ist auch die aktuelle Diskussion um den Aufbau eines Raketenabwehrschildes zu sehen. Gegen wen soll sich der Schutzschild eigentlich richten? Wird damit nicht für die USA ein falsches Sicherheitsgefühl aufgebaut, welches nur Irritationen in anderen Ländern und insbesondere in China auslöst?
Verbunden mit dem Aufbau des Raketenschutzschildes ist besonders Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der schon unter Reagan einer der maßgeblichen Verfechter der »star wars«-Pläne war. Bislang ist der Plan an der technischen Machbarkeit, den exorbitanten Kosten und dem Wegbrechen des Feindes (des Warschauer Paktes) gescheitert. 1998, unter Clinton, wurde ein erneuter Anlauf gewagt, das Feindbild wurden jetzt die Schurkenstaaten (später euphemistisch als »states of concern« bezeichnet), deren Raketenpotenzial größer sein soll als vorher angenommen. Die sog. Rumsfeld Kommission empfahl deshalb den Aufbau eines nationalen Schutzschildes (National Missile Defense, NMD). Gegen die »Schurken« wird der Erfolg des Systems bezweifelt, weil sich diese auch, zur Überwindung der militärischen Suprematie der USA, asymmetrischer Kriegsführung (z.B. terroristischer Angriffe) bedienen können. In seiner jetzigen Ausgestaltung richtet sich der Schild weniger gegen Russland, da dieses durch die schiere Anzahl von Langstreckenwaffen den Schutzschild leicht durchbrechen kann. China verfügt allerdings noch nicht über genügend Langstreckenwaffen, um den geplanten Schild zu durchbrechen. Gelingt es den Vereinigten Staaten, NMD wirkungsvoll zu installieren, dann ist es nur noch ein kleiner Weg zu regionalen Varianten (Theater Missile Defense, TMD). Mit letzteren wird China erst recht herausgefordert, da der Einsatz auch zum Schutz Taiwans genutzt werden kann. Kommt es zur Umsetzung, dann wird nicht nur der 1972er ABM-Vertrag obsolet, dann droht eine neue Aufrüstungsspirale. Rüstet China nach, dann kann auch Gleiches von den Nachbarn Indien und Pakistan erwartet werden. Die Folge wird für alle betroffenen Länder sein, dass die Rüstungsausgaben dramatisch ansteigen und den Staaten damit weniger Geld zum Wirtschaftsaufbau verbleibt.
Hierbei ist zu bedenken, dass Länder, die weniger Geld für die Entwicklung zur Verfügung haben, eher die nationalistische Karte (siehe schon Pakistan) spielen werden, um sich den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Im Falle Chinas kann dieser Nationalismus, wie die Beispiele des Bombardements der Botschaft und der Zwangslandung des US- Spionageflugzeugs zeigen, sehr schnell eine Massenbasis gewinnen. Dass die Länder dadurch stabiler und kalkulierbarer werden, ist zu bezweifeln.
Im Falle Chinas ist zu beachten, dass schon jetzt zahlreiche innere Probleme vorliegen, die durchaus zu einer Destabilisierung führen können. Innenprobleme sind z.B. zunehmendes Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land und von der Küste zum Landesinneren. Gelingt die Disparitätenverringerung oder kommt es zu neuen Migrationen? Wie entwickelt sich die städtische Arbeitslosigkeit, wie die Infrastruktur? Welche Auswirkungen hat die Umweltauslastung (z.B. Wasserknappheit im Norden) bzw. -verschmutzung (höhere Krankheitskosten, höhere Belastung der Sozialsysteme)? Wer trägt die Kosten der hohen Korruption? Auf eine Kurzformel gebracht, je mehr China für seine Rüstung ausgeben wird oder muss, desto weniger steht für die Lösung der inneren Probleme zur Verfügung. Können diese aber nicht gelöst werden bzw. macht sich innere Unruhe und artikulierte Unzufriedenheit breit, dann besteht die altbekannte Gefahr, dass man »äußere Anlässe« nutzt, um von den inneren Schwierigkeiten abzulenken.
Bei aller Rhetorik ist nicht zu erwarten, dass Bush eine Politik des Kalten Krieges für Ostasien plant. China ist konstruktives Mitglied in vielen multilateralen Organisationen, es teilt nicht immer die Meinung der USA (warum sollte es auch?), doch ist es als Handelsnation viel kalkulierbarer als Mitglieder, die ein anderes ideologisches Grundverständnis haben. China ist zwar noch immer sozialistisch und wird von einer Einheitspartei geführt, doch zeigt die nervöse Reaktion gegenüber der Falun Gong-Sekte, wie wenig man sich seiner Sache überhaupt noch sicher ist. Man fühlt sich schon als alte Dynastie, deren Ablösung in Chinas Geschichte oftmals durch Sekten- oder Bauernerhebungen eingeleitet wurde. Mit dem weiteren Wohlstand werden auch die Auslandskontakte zunehmen, ein Wertewandel ist schon seit langem in Gange. Diese Karte zu spielen ist für die USA viel erfolgversprechender als mit anachronistischen Rüstungsprojekten Destabilisierungspolitik zu betreiben, deren letztendliche Kosten und Auswirkungen unabsehbar sind.
Zeigt die US-amerikanische wirtschaftsorientierte Außenpolitik auch unter Bush Kontinuität? Sicherlich mag NMD dem amerikanischen »gun belt« endlich wieder Aufträge sichern, doch ist es ökonomisch kurzsichtig, nur das Wohl der eigenen Rüstungsindustrie im Auge zu haben. Eine Vollkostenanalyse eines Waffensystems muss auch Opportunitätskosten miteinbeziehen. Bezieht man letztere auch auf Folgen des Impulses zur Wiederaufnahme der Rüstungsspirale, dann kann der Plan auch ökonomisch nicht gerechtfertigt werden. Die Bush-Administration muss sich darüber klar werden, dass es wichtig ist die Gesamtkosten von NMD zu ermitteln, denn sonst ist ihre Außenpolitik nicht wirtschaftsorientiert.
Literatur
Andrew, Christopher und Vasili Mitrokhin (1999): The Metrokhin Archive, London, Allen Lane.
Commission to Assess the Ballistic Missile Threat to the United States (1998): Report of the Commission to Assess the Balistic Missile Threat to the United States, Washington, Government Printing Office.
Cox Report (1999): US National Security and Military/Commercial Concerns with the People’s Republic of China, Washington.
Economist Intelligence Unit (May 2001).
Godwin, Paul (1997): Military technology and doctrine in Chinese military planning: compensating for obsolescence. In Eric Arnett (Hrsg.), Military capacity and the risk of war: China, India, Pakistan and Iran. Oxford: Oxford University Press. S. 39-60.
Hacke, Christian (2000): Zur Weltmacht verdammt – Amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis George W. Bush, Bonn.
LaFaber, Walter (1994): U.S. Foreign Policy At Home And Abroad – 1750 To The Present, New York.
The White House (1997): A National Security Strategy for A New Century, May 1997.
U.S. Department of State (1997): Fact Sheet by the Bureau of East Asian and Pacific Affairs on U.S.-China Relations, Washington, 20 June 1997.
Dr. Jörn Brömmelhörster, Ökonom und Sinologe, leitet das »International Military Expenditure Project (IMEP)« in Bonn, welches internationale Militärausgaben disaggregiert vergleichbar macht