Pazifismus und Völkerrecht
von Norman Paech
Pazifismus als Grundhaltung ist vielfältig und nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Außerdem ist er keineswegs auf Individuen beschränkt; sondern manifestiert sich auch in Verfassungsdokumenten, wie dem deutschen Grundgesetz, und in völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen. Wie sich der völkerrechtliche Pazifismus entwickelt hat, wodurch er heute bedroht ist und wie er sich speziell in Deutschland manifestiert – oder eben auch nicht mehr –, zeigt der Autor im Folgenden auf.
Ein Bekenntnis zum Pazifismus ist in diesen Zeiten ständiger Kriege und unverhüllter Kriegsdrohungen, in denen selbst Bundespräsident Gauck noch in seiner »Rede zum Ende der Amtszeit« eine demokratische Verantwortung der Bürger*innen mit der Bereitschaft zum militärischen Engagement einfordert, ein schwieriges und ziemlich unmodernes Bekenntnis.
Unklar ist zudem, welche Haltung den Namen »Pazifismus« zu Recht trägt. Drei Beispiele mögen das beleuchten:
- In der Partei DIE LINKE, die einzige im Bundestag, die kompromisslos jeden Auslandseinsatz der Bundeswehr ablehnt, gab es unlängst eine kontroverse Diskussion, ob den syrischen Kurden in ihrem Abwehrkampf gegen die Angriffe des Daesh (IS – Islamischer Staat) auf die Stadt Kobane Waffen zur Verteidigung geliefert werden sollten. Die Waffenlieferung der Bundesregierung an die Kurden im Norden des Irak hatte sie abgelehnt. Die Verteidigung der Stadt Kobane im Norden Syriens, die von keinem Staat der irakischen Anti-IS-Koalition unterstützt und von der Türkei sogar blockiert wurde, setzte jedoch in der LINKEN eine Debatte in Gang, ob die militärische Unterstützung eines Verteidigungskampfes – völkerrechtlich legitimiert als kollektive Verteidigung im Sinne des Art. 51 UN-Charta – nicht auch politisch legitim sei. Die Mehrheit lehnte dies ab. Ein Beispiel für radikalen Pazifismus?
- Derzeit läuft in deutschen Kinos der Film »Hacksaw Ridge« von Mel Gibson. In ihm wird der historisch überlieferte Fall des Soldaten Desmond T. Doss geschildert, der sich während des Zweiten Weltkriegs an die Front meldete, jedoch den Dienst an der Waffe verweigerte. Er rettete bei der Schlacht um Okinawa das Leben von ungefähr 75 seiner Kameraden und wurde später mit der »Medal of Honor« ausgezeichnet. Ist das der wahre, verantwortungsvolle Pazifismus?
- 2015 wurde in Hamburg das schon lange geforderte Denkmal für Deserteure errichtet. Es steht zwischen dem so genannten Kriegsklotz, dem1936 errichteten Denkmal für das 76. Infanterieregiment, und dem vom österreichischen Bildhauer Hrdlicka entworfenen Antikriegsdenkmal. Dieses konnte dort jedoch nur unvollendet aufgestellt werden, da der Hamburger Senat nicht bereit war, Mehrkosten für die Vollendung des Denkmals zu zahlen. Ein Deserteursdenkmal zwischen einem Kriegsdenkmal und seinem Gegendenkmal, ein Zeichen landespolitischen Pazifismus?
Es gibt eine Vielfalt unterschiedlicher pazifistischer Bewegungen. Schaut man sich in der Literatur um, so findet man den religiösen Pazifismus, den bürgerlichen, wissenschaftlichen, politischen, organisatorischen, radikalen, revolutionären, anarchistischen und Nuklear-Pazifismus, wobei damit die Nuancierungen der einzelnen pazifistischen Haltungen nicht vollständig erfasst sind.1 Für jede dieser Richtungen gibt es eine spezifische historische Epoche, je eigene Motive und Begründungen sowie besonders hervortretende Persönlichkeiten.
Wurzeln und Ausprägungen des (deutschen) Pazifismus
Die historischen Wurzeln des Pazifismus reichen bis in die frühe Neuzeit, bis zu Erasmus von Rotterdam mit seinem Buch »Querela pacis« (Die Klage des Friedens, 1517) und den für König Heinrich IV. von seinem Finanzminister, dem Herzog de Sully, entworfenen »Geheimplan für einen dauerhaften Frieden« (1638)2 zurück. Aber erst mit der Schrift »Zum ewigen Frieden« von Immanuel Kant (1795)3 bekam eine bestimmte Strömung, die als Rechtspazifismus bezeichnet wird, gleichsam ihre Geburtsurkunde. Kant ging vom Krieg als dem Naturzustand der Menschheit aus. Der Frieden müsse gestiftet werden, und zwar mit den Mitteln eines vertraglich garantierten universellen Völkerrechts. Voraussetzung und Bedingung dafür sei allerdings eine republikanische Staatsverfassung. Friedrich Schlegel sollte das in der Formel zuspitzen: „Der universelle und vollkommene Republikanismus und der ewige Friede sind unzertrennliche Wechselbegriffe.“4 Und auch Friedrich von Gentz, der Berater Metternichs, betonte in seiner Schrift »Über den ewigen Frieden« die juristische Perspektive des Friedens. Sie liege in der internationalen Rechtsordnung eines „freien Bundes der Völker“ mit der Garantie für die Menschenrechte aller Andersdenkenden.
Der Rechtspazifismus bekam eine starke Basis im bürgerlichen Pazifismus, für den Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried stehen. Die bürgerlichen Pazifist*innen propagierten die Friedenskonferenzen, ob 1897 in Hamburg, 1899 in Paris und Den Haag oder die Folgekonferenz 1907. Die Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft 1892 und die Herausgabe der noch heute existierenden Zeitschrift »Friedenswarte« bildeten für den bürgerlichen Pazifismus neben den Friedenskonferenzen den Kern seiner Friedensaktivitäten. Sie reichten bis in die Universitäten, wo Walter Schücking und Hans Wehberg die aktivsten Vertreter des Pazifismus in der Völkerrechtslehre waren. Sie forderten und begrüßten den Eintritt Deutschlands 1926 in den Völkerbund ebenso wie die Unterschrift unter den Briand-Kellogg-Pakt 1928, in dem die damals militärisch stärksten Mächte „feierlich im Namen ihrer Völker“ erklärten, „dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“.
Der Rechtspazifismus ist ein »relativer«, ein »pragmatischer« Pazifismus, der die Existenz und Legitimation bestimmter Kriegsformen anerkennt. So wird der Verteidigungskrieg als berechtigte Gegenwehr gegen einen Angriff ebenso akzeptiert wie die nationalen Befreiungskriege gegen koloniale Unterdrückung. Erinnern wir uns daran, dass der Pazifist Einstein 1939 den US-amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt aufforderte, den Bau der Atombombe gegen die Aufrüstung und Kriegspläne der deutschen Nazi-Regierung zu forcieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki lebten die verschiedenen Positionen des Pazifismus wieder auf. Eine allgemeine »Nie wieder Krieg«-Stimmung artikulierte sich nicht nur in der »Ohne mich«-Bewegung und über sechs Millionen Stimmen gegen die Wiederbewaffnung. Es gründeten sich friedensorientierte Organisationen, wie die DFG (1946), neu; die Ostermärsche, die in England begonnen hatten, wurden seit 1960 auch in der BRD sehr populär. Vor allem fand das Friedensgebot in einzelnen Landesverfassungen, der Verfassung der DDR und im Grundgesetz Eingang, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form. Artikel 26 GG verbietet die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Art. 25 GG verfügt den Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor den Bundesgesetzen, d.h. diese „erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes“. Und schließlich kann sich der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ (Art. 24 GG). Das war 1949 als Staat ohne Armee direkt auf die erstrebte Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen hin formuliert. Dass das Bundesverfassungsgericht fast 50 Jahre später auch die allmählich zum Interventionsbündnis gewandelte NATO als ein System kollektiver Sicherheit einordnete, gehört zu dem eher traurigen Kapitel justizieller Abschmelzung und Eindämmung der pazifistischen Grundhaltung der deutschen Bevölkerung. Doch dazu später. Das 1968 in Artikel 12a GG verankerte Recht auf Kriegsdienstverweigerung hingegen ist nach dem Scheitern des Widerstandes gegen die Wiederbewaffnung ein Zeichen dafür, dass die Pazifisten sich durch diese Niederlage nicht haben entmutigen lassen.
Und damit zum zweiten Teil meines Themas, zum Völkerrecht.
UN-Charta: Völkerrecht zur Wahrung des Friedens
Als Roosevelt und Winston Churchill sich bereits 1941 gemeinsam Gedanken machten über die Neugestaltung einer Nachkriegsordnung, wurde alsbald klar, dass diese trotz des Scheiterns des Völkerbundes eine ähnliche Organisation erforderte, um die Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit zu garantieren. Nur wollte man die erkennbaren Fehler und Defizite des Völkerbundes vermeiden. So unterzeichneten bereits am 1. Januar 1942 26 Staaten die Atlantik-Charta, in der die Prinzipien für die Vereinten Nationen nach dem Sieg über den deutschen Faschismus vorformuliert waren. Sie bildete die Blaupause für die Charta der Vereinten Nationen, die drei Jahre später in San Francisco von 50 Staaten verabschiedet wurde. Ihr oberstes Ziel, dem alles nachgeordnet wurde: die Wahrung des künftigen Friedens.
Der Friedensstrategie der UN-Charta liegt als Konzeption der »Rechtspazifismus« zugrunde, ein relativer Pazifismus in der Tradition der großen Friedenskonferenzen und Konventionen des humanitären Völkerrechts. Bereits in Artikel 1 wird dies in der Zielsetzung der Organisation deutlich: „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“.
Mit dem Briand-Kellogg-Pakt war schon 1928 versucht worden, den Krieg in den internationalen Beziehungen zu bannen. Vergeblich, wie am deutlichsten der Zweite Weltkrieg bewies. Das ließ die Gründungsmächte der Vereinten Nationen jedoch nicht resignieren und auf das Verbot im neuen Vertrag verzichten. Im Gegenteil, sie verschärften das Kriegsverbot zu einem allgemeinen Gewaltverbot, welches auch bereits die Androhung der Gewalt – heute weitgehend vergessen – mit umfasst (Art. 2(4) UN-Charta). Der Pragmatismus dieses »UNO-Pazifismus« liegt nicht so sehr darin, dass die UN-Charta den Staaten, die mit militärischen Mitteln angegriffen werden, erlaubt, sich mit gleichen Waffen zu verteidigen (Art. 51 UN-Charta). Der Pragmatismus liegt vielmehr in dem Eingeständnis, dass immer dann, wenn der Frieden bedroht oder bereits gebrochen ist und eine Angriffshandlung vorliegt (Art. 39 UN-Charta), Gewalt notwendig sein kann, um den Frieden zu wahren oder wiederherzustellen (Art. 42 UN-Charta). Allerdings wird die Entscheidung über den Einsatz der »Zwangsmaßnahmen« (Art. 42 UN-Charta) allein dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten. Die zusätzliche Absicht, die Zwangsmaßnahmen auch mit Streitkräften durchführen zu können, die zwar von den Staaten zur Verfügung gestellt werden, aber unter dem Oberkommando des UN-Sicherheitsrats stehen (Art. 43 UN-Charta), konnte nie realisiert werden. Kein Staat fand sich bereit, seine Truppen zu diesem Zweck einem fremden Oberkommando zu unterstellen.
Die Grenzen für den Einsatz von Militär waren trotz dieser zwei Ausnahmen so eng gesetzt worden wie nie zuvor. Praktisch erlaubte das Völkerrecht den Staaten nach 1945 den Einsatz ihrer eigenen Streitkräfte ohne Erlaubnis der Vereinten Nationen nur zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff (Art. 51 UN-Charta). Doch die desillusionierende Geschichte der Kriege seither, vom Vietnamkrieg bis zum Krieg in Syrien, bietet nicht nur ein trauriges Bild von unermesslicher Zerstörung und Leiden, sondern auch der langsamen Erosion des Völkerrechts durch seine ständige Verletzung. Da die militärischen Interventionen und Kriege nicht als Verteidigungsmaßnahmen legitimiert und in den seltensten Fällen durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats gedeckt werden konnten, versuchten die Staaten und die ihnen dienstbaren Völkerrechtler, neue Doktrinen zu entwickeln, die ihre Kriege auch außerhalb der UN-Charta legitimierten.
Figuren zur Rechtfertigung des Krieges entgegen der UN-Charta
Erstmals 1999 wurde insbesondere von der deutschen Bundesregierung die »humanitäre Intervention« zur Rechtfertigung der Bombardierung Jugoslawiens durch die Streitkräfte der NATO ins Feld geführt. Die Figur war keineswegs neu, denn bereits 1983 und 1989 zuvor hatten die USA versucht, ihre militärischen Überfälle auf Grenada und Panama als »humanitäre Interventionen« zu legitimieren. Jugoslawien hatte keinen Staat angegriffen, und die NATO hatte bewusst die Vereinten Nationen nicht um ein Mandat ersucht, da sie befürchtete, statt eines Mandats sich ein Veto der Russischen Föderation und der Volksrepublik China einzuhandeln. Denn ihre Begründung, mit der Bombardierung Serbiens eine »humanitäre Katastrophe« im Kosovo verhindern zu wollen, war der Öffentlichkeit schon damals nur mit etlichen »fakes« und Lügen zu vermitteln. Dass der Krieg gegen Jugoslawien jedoch eindeutig völkerrechtswidrig war und die Figur der »humanitären Intervention« keine völkerrechtliche Legitimation für Krieg verschaffen kann, musste später selbst der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einräumen.
Eine weitere Rechtfertigungslinie wird derzeit mit der »Responsibility to protect« gezogen. UN-Generalsekretär Kofi Annan hatte eine Arbeitsgruppe von Diplomaten beauftragt, eine Formel zu finden, die in Zukunft die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen stärken könnte, um ihre Umgehung durch die Staaten, wie im Fall Jugoslawien, zu verhindern. In ihrer Studie aus dem Jahr 2000 präzisierten sie die Pflicht eines jeden Staates, die Grund- und Menschenrechte ihrer Bevölkerung zu schützen. Sei der Staat dazu allerdings nicht in der Lage, gehe die Verantwortung für den Schutz der Menschen auf die Staatengemeinschaft über. Die Studie ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass für den Fall, dass dieser Schutz nur militärisch zu verwirklichen sei, allein der Sicherheitsrat gemäß Art. 39 und 42 UN-Charta darüber entscheiden könne. Diese Voraussetzung wurde 2005 von der Generalversammlung auf ihrem World Summit ausdrücklich bestätigt. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, diese Formel zur Legitimation einseitiger Interventionen zu missbrauchen, in der Hoffnung, einen langsamen Prozess völkergewohnheitsrechtlicher Anerkennung zu erreichen.
Die neueste Variante völkerrechtlicher Invention kommt aus den USA, um die weder vom UN-Sicherheitsrat noch von der Regierung in Damaskus legitimierten Kriegsoperationen in Syrien zu rechtfertigen. Sei ein Staat »unwillig oder unfähig«, die von seinem Territorium ausgehenden Angriffe auf einen anderen Staat zu bekämpfen und zu unterbinden, so müsse der angegriffene Staat das Recht haben, sich mit militärischen Mitteln gegen diese Angriffe auf dem Territorium selbst zu verteidigen.
Das Vorbild dieser Doktrin liefern die militärischen Operationen in Afghanistan nach dem Anschlag vom 11. September 2001, die vom UN-Sicherheitsrat seinerzeit mit dem Hinweis auf das Verteidigungsrecht geduldet wurden. Dort konnte man in der Tat die Angriffe von al-Qaida der Taliban-Regierung in Afghanistan anlasten, da diese der Terrororganisation einen »save haven«, eine sichere Operationsbasis auf dem eigenen Territorium, überlassen hatte. Eine derartige Verbindung ist jedoch zwischen der Regierung in Damaskus und dem Daesh nicht gegeben.
Der Vorwurf, Assad sei »unwillig«, Daesh zu bekämpfen, klingt aus dem Munde Washingtons wenig überzeugend, da Präsident Obama sich ausdrücklich geweigert hat, mit Assad über einen gemeinsamen Kampf zu sprechen, sondern immer wieder sein Ziel, Assad zu beseitigen (»regime change«) betonte. Die militärische »Unfähigkeit«, Daesh zu besiegen, hat Damaskus 2015 schließlich mit dem Hilferuf an Moskau und Teheran überwunden. Doch unabhängig von der Einschätzung des Willens und der Fähigkeit der syrischen Regierung, ist die Formel des »unwilling & unable« nirgends anerkannt, eine völkergewohnheitsrechtlich wirksame Ermächtigung für militärische Interventionen in fremde Territorien zu geben. Die Gründungsmächte der Vereinten Nationen haben nicht ohne Grund den Schutz der territorialen Unversehrtheit zusammen mit dem Gewaltverbot an vorderer Stelle der Charta (Art. 2(4) UN-Charta) verankert. Um diesen Schutz zu durchbrechen, bedarf es mehr als der Kopfgeburt einer Regierung und ihrer Rechtsberater.
Aufweichung des Völkerrechts per Gerichtsbeschluss
Erlauben Sie mir zum Schluss noch einige Anmerkungen zur Friedensstaatlichkeit in der deutschen Rechtsprechung.
Art. 25 und 26 GG geben auch den Gerichten ein klares Votum gegen den Krieg und für die Beachtung des Völkerrechts in ihrer täglichen Praxis vor. Die Gerichte werden jedoch nur in seltenen Fällen mit den internationalen Friedenskonflikten beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht allerdings musste sich gerade in den letzten Jahrzehnten, als sich die Bundesregierung zunehmend auf internationale Kriegseinsätze einließ und die Bundeswehr weit über die Grenzen der NATO entsandte, mit dem verfassungsrechtlichen Rahmen dieser Militärpolitik auseinandersetzen.
Als erstes Verfahren landete 1984 ein Organstreit der GRÜNEN im Bundestag beim Bundesverfassungsgericht; sie fochten die Zustimmung der Bundesregierung zur Aufstellung US-amerikanischer Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles mit nuklearen Sprengköpfen in Deutschland an. Vergeblich, das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass sie sich bei diesen Fragen nicht in die Handlungskompetenz der Bundesregierung einmischen wolle: „Einschätzungen und Wertungen außen- und sicherheitspolitischer Art obliegen der Bundesregierung […] Sie sind politisch zu verantworten.“5 Das Gericht berief sich auf die in der anglo-amerikanischen Rechtsprechung bekannte »political question«-Doktrin, die eine Zurückhaltung der Gerichte (judicial restraint) in Fragen, die das Gericht für vorwiegend politisch hält, einfordert. Da diese Entscheidung wiederum politisch ist, bestimmte das Gericht frei, inwieweit es sich in die Kontrolle des Regierungshandelns hineinbegeben will. Bei dieser Haltung ist es geblieben.
Zehn Jahre später hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Klage von SPD und FDP auseinanderzusetzen, die den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes anfochten. Es handelte sich um Aufklärungsflüge über Jugoslawien und Somalia zur Unterstützung der dort kämpfenden Alliierten. Dieser Einsatz erweiterte nicht nur den territorialen Rahmen, sondern überschritt auch den grundgesetzlichen Auftrag für die Bundeswehr. Dies war nicht mehr Landesverteidigung, sondern bereits Krisenreaktion, welche weder im Grundgesetz noch im NATO-Vertrag vorgesehen war. In einem äußerst engen (4:4 Stimmen) Urteil6 wies der Senat die Klage ab, verfügte jedoch, dass bei so genannten »out of area«-Einsätzen eine vorherige Zustimmung des Bundestages eingeholt werden müsse. Zudem erklärte er die NATO entgegen der bis dahin vorherrschenden Meinung zu einem »System kollektiver Sicherheit«.
1998 wollte die PDS-Fraktion im Bundestag die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg der NATO gegen die Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) mit einem Eilantrag verhindern. Der Bundestag hatte allerdings im Oktober 1998 dem Einsatz zugestimmt, den die PDS für völkerrechtswidrig hielt. Es lag weder ein Mandat des Sicherheitsrats noch ein Fall der Selbstverteidigung vor. In seinem Beschluss von 1999 umging der Senat jedoch alle diese Fragen und lehnte den Antrag ab, da die PDS-Fraktion nicht antragsbefugt sei: „Der 13. Bundestag hat am 16. Oktober 1998 militärischen Maßnahmen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo zugestimmt […] Bei diesem Beschluss war dem Bundestag bewusst, dass der Einsatz aller Voraussicht nach ohne eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durchgeführt würde […] Zwar trägt die Antragstellerin vor, der Deutsche Bundestag habe selbst ultravires [jenseits seiner Befugniss; NP] gehandelt, als er die Beschlüsse zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte gefasst habe. Eine solche Rechtsverletzung könnte jedoch nicht im Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung, erst recht nicht gegen den Bundesminister der Verteidigung […] geltend gemacht werden, sondern allenfalls in einem Verfahren gegen den Deutschen Bundestag. Auch für dieses Verfahren fehlt es jedoch an der Antragsbefugnis, weil die verfassungsrechtliche Ermächtigung des Bundes, Streitkräfte in einem System kollektiver Sicherheit einzusetzen, grundsätzlich geklärt ist“,7 wobei er auf sein früheres Out-of-area-Urteil verwies. Dies ist eine weitere Variante, wie man sich vor einer wichtigen juristischen Entscheidung über den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg drückte.
Nachdem es der PDS-Fraktion nicht gelungen war, die Beteiligung der Bundeswehr an dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien zu verhindern, klagte sie 1999 erneut gegen die Bundesregierung. Diesmal ging es um die Umwandlung der NATO von einem Verteidigungs- in ein Kriseninterventionsbündnis, welche die Staatschefs noch während des Krieges gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 in Washington vereinbart hatten. Die Bundesregierung hatte bei dieser Entscheidung den Bundestag übergangen, und die PDS-Fraktion forderte seine Beteiligung bei einer so entscheidenden Veränderung der Aufgaben des Militärbündnisses ein. Das Bundesverfassungsgericht sah das in seiner Entscheidung im November 2011 anders.8 In seiner Presseerklärung fasste es seine Entscheidung zusammen: „Zwar enthält das Konzept 1999 die im Ursprungsvertrag nicht implizierte Erweiterung auf Krisenreaktionseinsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Hier ist das Konzept 1999 gegenüber dem NATO-Konzept von 1991 wesentlich verändert worden […] Dennoch ist eine objektive Vertragsänderung nicht festzustellen, es handelt sich um eine Fortentwicklung und Konkretisierung der offen formulierten Bestimmungen des NATO-Vertrages.“ Dafür sei aber die Zustimmung des Bundestages nicht erforderlich. Auch diese Entscheidung passte in die Haltung des Gerichts, sich in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der Exekutive unterzuordnen.
Schließlich versuchte es die Bundestagsfraktion DIE LINKE noch einmal – diesmal gemeinsam mit zwei Abgeordneten der CSU und CDU (Peter Gauweiler und Willy Wimmer). Sie wollten den Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan verhindern. Das Bundesverfassungsgericht wies auch diese Klage zurück.9 Es ließ sich vom Generalinspekteur der Bundeswehr davon überzeugen, dass es zwischen dem Einsatzmandat für die vom UN-Sicherheitsrat abgesegnete International Security Assistance Force (ISAF) und der von den USA geleiteten Operation Enduring Freedom (OEF), die die Kläger für völkerrechtswidrig hielten, eine strenge Trennung gebe. Da der Einsatz der Bundeswehr auf die völkerrechtsgemäße ISAF begrenzt werde, sei eine Entscheidung darüber, ob OEF völkerrechtswidrig sei, nicht erforderlich.
Das Fazit dieses kurzen Blicks auf die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts ist nicht ermutigend. Selbst der relative Pazifismus der UN-Charta ist beim Bundesverfassungsgericht zum Erliegen gekommen. Der Geist dieser Rechtsprechung, der der Exekutive eine faktisch unkontrollierbare Prärogative in der Außen- und Sicherheitspolitik einräumt, hat sich von seinen Quellen im Kaiserreich noch immer nicht gelöst. Die Weigerung, trotz Art. 25 GG das Völkerrecht in die eigenen Erwägungen einzubeziehen, erinnert mich an die Worte des SPD-Politikers Carlo Schmid, die er 1948 im Parlamentarischen Rat zur künftigen Rolle des Völkerrechts in der Verfassung der Bundesrepublik gesprochen hat:
„Die einzige wirksame Waffe des ganz Machtlosen ist das Recht, das Völkerrecht. Die Verrechtlichung eines Teiles des Bereichs des Politischen kann die einzige Chance in der Hand des Machtlosen sein, die Macht des Übermächtigen in ihre Grenzen zu zwingen. Selbst die Gesetze eines Drakon, von denen man das Wort »drakonisch« ableitet, waren ein Fortschritt, denn sie setzten der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Die fürchterliche Peinliche Halsgerichtsordnung Karls des V., deren Lektüre uns heute schauern macht, war einmal ein Fortschritt, denn auch sie setzte der Macht wenigstens gewisse Grenzen. Der Vater des Völkerrechts, Hugo Grotius, hat genau gewußt, was er getan hat. Er hat erkannt, daß es, nachdem es der englischen Übermacht gelungen war, die holländische Flagge fast ganz von den Meeren zu verjagen, nur ein Mittel gab, Hollands Lebensmöglichkeit zu erhalten, nämlich die Lebensverhältnisse auf der hohen See zu verrechtlichen und gegen das englische mare clausum das mare liberum zu setzen. Die sog. kleinen Mächte sind nicht umsonst die großen Pioniere des Völkerrechts gewesen; das hat einen – oft uneingestandenen und unerkannten – politischen Grund. Daher sollten wir Deutsche, gerade weil wir heute so machtlos sind, mit allem Pathos, das uns zu Gebote steht, den Primat des Völkerrechts betonen.“10
Anmerkungen
1) Vgl. Bleisch, B.; Strub, J.-D. (Hrsg.) (2006): Pazifismus – Ideengeschichte, Theorie und Praxis. Bern: Haupt.
Holl, K. (1988): Pazifismus in Deutschland. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
2) Vgl. Paech, N.; Stuby, G. (2013): Völkerrecht und Machtpolitik. Hamburg: VSA, S. 36ff.
3) Kant, I.: Zum ewigen Frieden. In: Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 1977, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Bd. 11, S. 203.
4) Schlegel, F.: Versuch über den Begriff des Republikanismus. In: Kritische Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, 1966, Paderborn: Schöningh, Bd. 7, S. 23.
5) BVerfG vom 18. Dezember 1984, E 68, 1.
6) BVerfG vom 12. Juli 1994, E 90, 286.
7) BVerfG vom 25. März 1999, E 100, 266.
8) BVerfG vom 22. November 2001, E 104, 151.
9) BVerfG vom 12. März 2007, E 117, 359, und v. 3. Juli 2007, E 118, 244.
10) Parlamentarischer Rat, Ausschuss für Grundsatzfragen, 12. Sitzung vom 15.10.1948, Stenografisches Protokoll S. 5-26, S. 30-32.
Prof. em. Dr. Norman Paech lehrte Öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). 2005-2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.
Dieses Skript wurde für einen Vortrag des Autors beim Symposium »Die Zukunft des politischen Pazifismus – 125 Jahre Deutsche Friedensgesellschaft« (28.-29.1.2017 in Frankfurt am Main) verfasst.